Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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– es hatte keinen Sinn, hier vor der Scheibe zu schmachten.

      Sein Blick glitt nach oben, an der Dachkante vorbei in den Himmel, und eine tiefe Sehnsucht erfasste ihn. Er lief in den Hof hinter dem Gasthaus, zum Hühnerstall, stieg eine kleine Leiter hinauf und schlich über das Flachdach des Stalls zu einer hohen Mauer hinüber. Von hier aus konnte er die erste Dachschräge des Gasthauses erreichen und über eine Gaube ganz nach oben klettern. Außer Atem kam er auf dem First an und sah auf die eng aneinandergedrängten Häuser von Ravenbrück. Der Mond lag versteckt hinter Wolken und eine kalte Brise rollte wie eine Walze über die Dächer. Moritz stand freihändig auf dem First und stemmte sich gegen das Brausen.

      So musste sich sein Vater gefühlt haben. Die ganze Stadt im Blick.

      Der schwarze Mann, so hatten die Nachbarskinder ihn immer gerufen. Und sie hatten recht. Wenn sein Vater von der Arbeit nach Hause gekommen war, war er ein Fremder gewesen, dessen Gesicht unter einer dicken Schicht Ruß und Schmutz ver­borgen lag. Ein Mann, der sich auf den Häusern wohler fühlte als in ihnen. Ein Schornsteinkehrer durch und durch. Nie hatte er es lange in geschlossenen Räumen ausgehalten. Er hatte Weite und frische Luft gebraucht. Moritz verstand jetzt warum. Vor ihm lag eine völlig neue Welt.

      Die meisten Häuser ähnelten sich sehr. Es waren kleine Fach­­­­­­­­­werkhäuser mit geschwungenen Dächern, einfachen Gie­beln oder Gauben. Sie waren so eng aneinandergebaut, dass die einzelnen Dächer miteinander verwachsen waren. Ein Dach schmiegte sich ans nächste und wo eine größere Lücke zwischen den Häusern entstanden war, gab es starke Torbalken, die sich über die verschachtelten Gassen spannten. Ein perfekter Par­cours für Moritz. Dies war jetzt sein neues Zuhause.

      Die Kälte verwandelte seinen Atem in kleine Rauchwölk­­chen. Sein Blick wanderte nach links. Dort, in gut einem Kilometer Entfernung, erhob sich das Waisenhaus mit seinen unzähligen Schornsteinen im spärlichen Mondlicht.

      Nie wieder!, dachte er.

      Konstanze, sie war das Einzige, was für ihn zählte.

      Mit einem geschickten Sprung wechselte er vom First des Gasthauses zu einem nahen Schornstein hinüber und sprang von dort zum Schrägdach einer Apotheke. Er kletterte die Stufen eines Treppengiebels hinauf und hielt sich oben am schmiede­eisernen Wetterhahn fest.

      Moritz war zufrieden. Wenn er sich die Eigenheiten jedes Daches einprägen konnte, würde er sein neues Revier sicherlich bald im Schlaf ablaufen können.

      Er sprang den Stufengiebel auf der anderen Seite wieder hinunter. Vor ihm erstreckte sich eine hohe Mauer, auf der er schnell bis zum nächsten Haus laufen konnte. Am Ende angekommen, stieß er sich ab und landete auf dem Seitenteil eines überdachten Balkons. Er war gerade auf das Geländer gestiegen, um sich am Vordach des Balkons hochzuziehen, als der Boden unter ihm nachgab. Der Handlauf des Geländers zerbrach und Moritz’ Körper sackte nach unten – von einer zur anderen Sekunde baumelte er mit einem Arm am Vordach. Er vernahm ein Krächzen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Elster aus seiner Jacke rutschte. Sie flatterte nur mit einem Flügel und drehte sich dabei um sich selbst. Moritz’ Hand schnellte ihr nach und packte sie im letzten Moment.

      Mit einiger Mühe bugsierte er sich auf den Balkon zurück. Dort hob er die zitternde Elster an seine Brust und streichelte sie sanft. Ihr Gefieder stand aufgeplustert vom Körper ab.

      »Alles gut«, murmelte er, »ich hab dich.«

      Das hätte wirklich übel enden können. Er musste sich etwas ausdenken, um derartige Missgeschicke in Zukunft zu vermeiden. Ein Plan musste her.

      Am nächsten Morgen sah sich Moritz überall in der Stadt um. Es dauerte bis zum Mittag, bis er gefunden hatte, wonach er suchte: einen Hufschmied. Der Mann war um die fünfzig, unter­setzt und hatte ein Gesicht wie die Faust eines Preisboxers – eckig, grob und purpurrot.

      Er schwitzte am Ofen und hielt ein glühendes Hufeisen so lange mit der Zange ins Feuer, bis es die richtige Farbe hatte. Dann ging er hinüber zu seinen beiden Helfern, die bereits ein gewaltiges Brauereipferd für den Beschlag vorbereitet hatten.

      Das heiße Eisen zischte auf dem Huf, doch das Pferd rührte sich nicht. Stur blickte es über die Schulter des kleineren Helfers direkt auf Moritz, der sich heimlich aus dem Abfalleimer der Schmiede bediente.

      Hier fand er alles, wonach er suchte: ein paar alte Seile, Me­­tallstifte und ein uraltes Messer ohne Griff. Keine schlechte Aus­­­beute für seine erste Station, aber Moritz brauchte noch mehr.

      Kurze Zeit später huschte er unter einem Torbogen hindurch in eine Seitenstraße. Über einer schmalen Eingangstür prangte das Aushängeschild eines Schneidermeisters. Sein nächstes Ziel.

      Moritz konnte durch das Fenster prachtvoll verzierte Klei­dungs­­stücke erkennen, die auf Schneiderpuppen hingen. Der Laden war so eng, dass dem betagten Schneider nichts anderes übrig blieb, als mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch zu sitzen – auch damit die schönen und schweren Stoffe nicht den Bo­den berührten. Er war vollkommen in seine Arbeit vertieft, als Moritz leise die Tür öffnete. Die Türglocke läutete.

      »Holla, wie kann ich zu Diensten sein?«

      Moritz duckte sich hinter eine der Schneiderpuppen und hörte, wie die Tür mit einem weiteren Bimmeln wieder ins Schloss zurückfiel. Vorsichtig spähte er hinter der Puppe hervor.

      Der Schneider ließ seinen Blick durch den vollgestellten Laden schweifen. Überall Kleiderpuppen, Stoffballen, Holzformen für Waden, Arme und Füße sowie Körbe und Holzkästen mit allerlei Stoffabfällen und Knöpfen. Moritz bemerkte er nicht.

      »Hier spukt es«, murmelte er irgendwann und begutachtete seine letzte Naht. Mit einem nervösen Hüsteln fuhr er mit der Arbeit fort.

      Lautlos ging Moritz auf die Knie, zwängte sich an der Schnei­der­puppe vorbei und langte aufs Geratewohl in einen der Körbe in seiner Nähe. Er packte alles, was er finden konnte, und zog sich dann zur Tür zurück. Es bimmelte ein drittes und ein viertes Mal, doch bevor der Schneider den Kopf erhoben hatte, war Moritz bereits verschwunden.

      Atemlos kam er an der nächsten Hausecke an. In seinen Händen hielt er alte Stofffetzen und ein Knäuel bunter Wolle. Er lächelte. Noch fehlte einiges, aber das musste bis morgen warten. Zuerst brauchte er einen Unterschlupf für die Nacht.

      Bis zum Abend wanderte Moritz durch die Gassen und sah sich jeden Hinterhof an. Als die Nacht hereinbrach, entschied er sich für einen großen, windgeschützten Holzverschlag hinter einem mehrstöckigen Fachwerkhaus. Er kletterte über die gestapelten Scheite tief in den Verschlag und schichtete das Holz im Inneren dann so, dass er einen kleinen Raum für sich und die Elster hatte. Dann breitete er seine gesammelte Beute vor sich aus.

      Als Moritz in Konstanzes Alter gewesen war, hatte sein Vater ihn oft mit auf die Jagd genommen. Stundenlang waren sie durch den Wald gezogen und hatten gemeinsam Waffen und Werkzeuge aus dem gebaut, was die Natur ihnen bot.

      »Jedermann kann mit einem angefertigten Bogen und etwas Übung sein Ziel treffen«, hatte sein Vater ihm erklärt, »Die Kunst ist es, Bogen und Speer mit einfachsten Mitteln selbst zu bauen. Oder ein Reh mit nur einem Seil und drei Steinen zu fangen. Darin zeigt sich der Wille zum Überleben.«

      Für Moritz waren diese Ausflüge stets ein aufregendes Aben­teuer gewesen – jetzt versuchte er sich an all das zu erinnern, was ihm sein Vater beigebracht hatte.

      Die Elster verfolgte jeden seiner Handgriffe. Sie sah zu, wie er an einem langen, biegsamen Stock schnitzte, ihn in der Hand wog und ausbalancierte. Anschließend zauberte er noch mehr dünne Stöcke hervor und spitzte auch diese mit dem behelfs­­mäßig reparierten Messer an. Irgendwann war er fertig.

      Stolz präsentierte er einen selbstgebauten Bogen. »Na, was sagst du nun?«, wandte Moritz sich an die Elster. Doch die konnte damit natürlich nichts anfangen und legte nur den Kopf schief. Moritz hingegen strahlte bis über beide Ohren.

      Er kletterte aus dem Verschlag, denn er musste seine Waffe unbedingt ausprobieren. Er legte einen Pfeil auf die Sehne, so wie es ihm sein Vater gezeigt hatte, spannte den Bogen und zielte auf einen Holzpfahl


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