Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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      »Die Brenners hat die Grippe geholt, letzte Weihnachten.« Ihre Worte waren ein Fausthieb in Moritz’ Magengrube.

      »Der Junge sagt, dass seine Schwester entführt wurde.«

      Fräulein Bimmel grunzte. »Ach, ich bitte Sie, wer sollte so ein mageres Gör schon entführen?! Das sind Hirngespinste.«

      »Das heißt, Sie wissen, wo das Mädchen ist?«

      »Mitnichten! Es muss letzte Nacht während des Sturms fortgelaufen sein.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Wäre nicht das erste Mal.«

      Schweigen.

      »Und Sie haben noch nicht nach dem Kind gesucht?«

      Es knarrte bedrohlich, als sich das Fräulein sehr, sehr lang­­­sam über den Tisch beugte und dabei die Hände faltete. »Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, aber wir hatten letzte Nacht einen Jahrhundertsturm. Sämtliche Fenster auf der Nordseite wurden zerstört und wir sind gerade damit beschäftigt die Schäden zu beseitigen – die Franzosen rühren natürlich keinen Finger. Glauben Sie wirklich, ich hätte schon Zeit gehabt, mich um ein missratenes Balg zu kümmern?« Mit jedem Wort hatte sie sich mehr von ihrem Stuhl erhoben, bis sie schließlich wie ein Berg über dem mageren Beamten aufragte.

      »Nun, ich, ähm …«, begann dieser und fand plötzlich die Falten seiner Uniform ungemein interessant. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Fräulein Bimmel bereits gewonnen hatte.

      Ihre Bratpfannenhand wies zur Tür. »Ich versichere Ihnen, das Mädchen wird wieder auftauchen, wenn es Hunger hat. Das tun sie alle.«

      Moritz stand allein in seinem Zimmer. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Das Fenster war zerborsten, der Nacht­­­tisch umgefallen und die Kerze entzwei. Die Holzdielen hatten sich mit Regenwasser vollgesogen und überall klebten Laub, Dreck und Zweige.

      Bei jedem Schritt, den Moritz auf Konstanzes Bett zumachte, knackte Glas unter seinen Schuhen.

      Ihr Bett war zerwühlt, nass und schmutzig, als hätte ein Kampf stattgefunden. Moritz begann zu zittern. Angst kroch in ihm hoch. Konstanze – er war so gemein zu ihr gewesen. Und jetzt war sie irgendwo, ganz allein. Vielleicht tat man ihr weh oder sie war bereits …

      Er hörte ein Geräusch. Etwas keckerte unter dem Bett. Die Elster zeigte ihr Köpfchen und sah sich im Zimmer um. Ihr Verband war verrutscht.

      Moritz kniete nieder. Die Schnitte der Glasscherben in seinen Knien spürte er kaum. Vorsichtig nahm er Konstanzes Haar­­­band und umwickelte den verletzten Flügel neu. Zum Dank erhielt er ein Krächzen.

      Behutsam hob Moritz den Vogel vom Boden auf und steckte ihn schützend unter seine Jacke. Dort hatte er es warm und weich. Sein Blick glitt zum Fenster hinaus. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.

      Doch, eine Sache noch …

      Im Erdgeschoss war alles ruhig. Moritz stand auf der Treppe und spähte um die Ecke einen langen Gang hinunter. Er sah sich nach allen Seiten um, dann rannte er los.

      Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür und wartete. Kein Geräusch war zu hören. Mit pochendem Herzen drückte er die Messingklinke herunter. Ein Glück, die Tür war nicht verschlossen. Schnell trat er in Fräulein Bimmels Büro.

      Der Raum war karg möbliert und eiskalt. Moritz starrte auf den großen Schreibtisch. An den Wänden waren hohe Schränke mit Schubfächern angebracht. Nur an der linken Seite nicht, da stand ein schiefer Sekretär und direkt daneben ein wuchtiger, alter Kleiderschrank.

      Moritz schlich zum Schreibtisch, auf dem sich allerlei Krims­krams häufte: Briefe, Einkaufslisten, ein Rechenschieber, ein auf­­­­ge­­schlagenes Kassenbuch, ein Tintenfass mit Schreib­federn und ein kümmer­­liches Talglicht.

      Unter seiner Jacke strampelte die Elster. Scheinbar spürte sie seine Anspannung. Als er versuchte sie zu beruhigen, zwickte sie ihm in den Finger. Moritz gab auf. Vorsichtig setzte er den Vogel auf den Tisch, um seine Suche zu beginnen.

      Er öffnete sämtliche Schubkästen und drehte alle Schrift­stücke und Akten um. Er kramte in Zetteln und Büchern, aber was er suchte, fand er nicht.

      Schnell wechselte er zum Sekretär an der Wand. Das Blut rauschte in seinen Ohren, als er all die Sortierfächer, Schub­fächer und Aussparungen für Tinte und Papier durchging. Plötz­­lich stockte ihm der Atem. Ein kleines Schmuckkästchen. Das musste es sein! Eilig öffnete er es – aber außer ein paar Münzen, einer Por­zellan­brosche und einem zerkratzten Silberring fand er nichts. Verdammt!

      Ein Geräusch ließ ihm das Herz fast in die Hose rutschen. Er starrte auf den Schreibtisch.

      Da saß die Elster auf einem umgekippten Tintenfass. Sie keckerte und wackelte mit den Schwanzfedern, während sich die schwarze Flüssigkeit über sämtliche Dokumente ergoss.

      »Oh nein!« Moritz schnappte den Vogel vom Tisch. Augen­blicklich waren seine Hände pechschwarz und die Dokumente segelten zu Boden. Eilig sammelte er sie auf und verteilte seine schwarzen Fingerabdrücke mit gnadenloser Präzision auf jedem einzelnen.

      Plötzlich hörte er Schritte.

      Moritz wurde kreidebleich. Hastig sah er sich um und entdeckte einen Abfalleimer. Sofort wollte er alles hineinstopfen, aber er hielt inne – zwischen dem Müll, ganz unten am Boden, glitzerte etwas.

      Halb verdeckt von einem braunen abgenagten Apfel lag das, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte: das Medaillon. Fräulein Bimmel hatte es in den Müll geworfen.

      »Alte Hexe!« Moritz griff nach dem Anhänger und stopfte die verschmierten Dokumente aufs Geratewohl in den Eimer.

      Die Schritte stoppten vor der Tür. Moritz blickte sich um. Was sollte er tun? Sein Blick fiel auf den Schrank.

      Die Türklinke wurde heruntergedrückt. Fräulein Bimmel be­­trat ihr Büro und stapfte zum Schreibtisch hinüber.

      Versteckt zwischen miefigen Kleidern und Wollmänteln verfolgte Moritz atemlos jeden ihrer Schritte. Mit einer Hand hielt er die Schranktür von innen zu, mit der anderen umklammerte er das Medaillon und drückte die verschmierte Elster an sich.

      »Scha-rack!«

      Moritz’ Herz setzte einen Schlag aus. Im Raum war es auf einmal ganz still. Kein Laut war mehr zu hören.

      »Verteufelt noch mal!«

      Moritz schluckte.

      »Was ist das für eine Sauerei!«, rief Fräulein Bimmel und polterte aus dem Büro. »Zeig dich, du Schmutzfink! Na warte, wenn ich dich erwische!«, schrie sie den Gang hinunter.

      Blitzschnell verließ Moritz sein Versteck und lief zur Tür. Er sah gerade noch, wie ein riesiges kornblumenblaues Hinterteil um die Ecke bog.

      Schnell legte er sich das Medaillon um den Hals und sah die Elster an. »Nichts wie weg hier!«

      Mit dem Vogel unter dem Arm rannte er hinaus aus der großen Eingangstür, überquerte den Vorhof und ließ das rostige Eisentor des Waisenhauses hinter sich. Er rannte, so schnell er konnte, und wusste in diesem Moment, dass er niemals wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Nie im Leben! Er hatte nur ein Ziel: Er musste seine Schwester wiederfinden.

      Koste es, was es wolle.

      Das Leben auf den Straßen Ravenbrücks gestaltete sich schwierig. Moritz drückte sich vor allem in den Seitengassen herum und versuchte, von niemandem gesehen zu werden. Obwohl er nicht annahm, dass man nach ihm suchen würde. Jedes Maul, das Fräulein Bimmel nicht zu stopfen hatte, war für sie ein Geschenk des Himmels.

      Nachts durchsuchte Moritz die Abfälle hinter einem beliebten Gasthaus. Aber außer ein paar vertrockneten Brotscheiben fand er nichts Essbares. Sollte er doch zur Armenspeisung gehen? Nein, dafür war er zu stolz. Moritz drückte seine Nase gegen ein erleuchtetes Fenster. In der


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