Schweizer Bahnen. Hans-Peter Bärtschi
sind nicht erfasst. Liberale und Radikale ergreifen ihre Chance und tagen mit den unterlegenen Tagsatzungskantonen ab dem 17. Februar 1848 in der Verfassungskommission. Fünf Tage später bricht in Paris die Revolution aus. Sie fegt den «Bürgerkönig» und letzten Bourbon Louis-Philippe vom Thron und breitet sich wie ein Steppenbrand über Europa aus. In dieser Atempause erarbeitet die Kommission in nur acht Wochen die neue Bundesverfassung und setzt sie mit einer mehrheitlichen Zustimmung im September 1848 in Kraft. Ein siebenköpfiger Bundesrat, ein Ständerat mit Vertretung aller Kantone und die proportional nach der jeweiligen Bevölkerungszahl gewählten Nationalräte bestimmen nun auf Bundesebene die Politik der öffentlichen Hand.
Stephenson und Swinburne empfehlen dem Bundesrat 1850 den planmässigen Bau eines schweizerischen Eisenbahnkreuzes.
Tuschzeichnung H. P. Bärtschi 1980.
In der Bundesverfassung sind das Recht zur Errichtung öffentlicher Werke im nationalen Interesse und zu den dazu notwendigen Enteignungen festgeschrieben. 1849 beauftragen der Stände- und der Nationalrat den Bundesrat, mit neutralen Experten den Plan eines schweizerischen Eisenbahnnetzes auszuarbeiten. Die Connection zu Robert Stephenson funktioniert noch, er kommt mit Henry Swinburne in die Schweiz. Ratsherr Carl Geigy aus Basel und Ingenieur Jakob Melchior Ziegler aus Winterthur erarbeiten das finanzielle Gutachten. Beide warnen 1850 vor unbeschränkter Konkurrenz im Bahnbau. Sie bestätigen das Bodensee—Zürich—Basel-Projekt, führen es allerdings über Olten und über den Hauenstein. Dort sind schiefe Ebenen mit Drahtseilaufzügen vorgesehen. Von Olten führen Linien nach Luzern, Bern, Thun und unter Nutzung der Schifffahrt auf den Jurafuss-Seen nach Genf. Sollte mit ausländischer Hilfe eine Alpenbahn zu Stande kommen, dann vom Bodensee über den Lukmanier nach Locarno und Chiasso.12
Eschers Kantonalbahn-Gesetz von 1852 und sein Aufstieg zur Macht
Doch nun wirft der 32 Jahre junge Alfred Escher alle Entwürfe für einen planmässigen Bahnbau in der Schweiz über den Haufen. Schon in den 1840er-Jahren hat er als Studentenführer der liberalen Zürcher Zofingia und als Agitator in der «Akademischen Mittwochsgesellschaft» in der väterlichen Villa einen eigenen Kreis von Anhängern in der «Donnerstagsgesellschaft» gepflegt. Seine ersten politischen Ziele sind erreicht: Der Sturz der konservativen Zürcher Regierung und die «Vernichtung der ultramontanen katholischen Sonderbündler». Aufgewachsen mit Dienstpersonal und erzogen von Privatlehrern in der 1831 vollendeten Villa Belvoir, führt Alfred Escher seinen Familienzweig zum abschliessenden Höhepunkt. 1849 wird er, 29-jährig, liberaler Nachfolger des radikalen Nationalratspräsidenten Steiger und in Zürich Bürgermeister, was später dem Regierungsratspräsidenten entspricht.13 Er gründet die Industrieschule und tritt kämpferisch für ein nationales Hochschul-, Zoll-, Münz-, Post- und Telegrafenwesen ein. In der Eisenbahnpolitik jedoch macht er eine Kehrtwende. «Das Jahrhundert gehört den Advokaten», schreibt Stendhal im 1839 erschienen Buch «Die Kartause von Parma». Alfred Escher hat den richtigen Berufsweg gewählt. Als Jurist erarbeitet er sich in jedem Gebiet redegewandte Kompetenz, wenn es ihm notwendig erscheint, Macht zu gewinnen. Um Escher scharen sich Männer der hohen Finanz und Industrie, dann auch solche, die in dieser Interessengemeinschaft die Chancen eigenen Vorwärtskommens erblicken, Professoren, Literaten und Zeitungsschreiber: so charakterisiert der konservative Luzerner Jurist Philipp Anton von Segesser den Senkrechtstarter aus Zürich. In der Eisenbahnfrage unterliegt Escher vorerst, als die Mehrheit der 1849 gegründeten nationalrätlichen Eisenbahnkommission dem geplanten Bahnbau nach dem Entwurf von Stephenson und Swinburne zustimmt. Doch dann bündelt Escher die Kräfte seiner Anhänger, auch in den Medien. In der entscheidenden Nationalratssitzung zum Eisenbahngesetz vom 8. Juli 1852 obsiegt Eschers Minoritätsentwurf: «Der Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der Eidgenossenschaft bleibt den Kantonen, beziehungsweise der Privattätigkeit überlassen.»14 Vorgegeben sind lediglich unter anderem der Bau in der Normalspur von 1435 Millimetern, Tarifabgleiche und Privilegien für Post- und Militärtransporte.
Fahrplan der Nordbahn Zürich—Baden im Eröffnungsjahr 1847. Im Jahr darauf werden die vier täglichen Zugspaaren auf drei gekürzt.
SBB Kreisarchiv III 1980.
Die ruinöse Konkurrenz zwischen regionalen Bahnmonopolen
Das im ersten schweizerischen Eisenbahngesetz verankerte Laissez-faire sollte zum ruinösen Kampf zwischen kantonal konzessionierten, privat geführten Unternehmen ausarten. In einem Land, dessen Grösse einem mittleren deutschen Bundesland entspricht, bleibt der Landesregierung für 20 Jahre das Recht für koordinierendes Eingreifen versagt. Der 1852 geschaffene juristische Rahmen fördert zwar endlich den Bahnbau, er führt aber zu regionalen Monopolen und nicht zu einem Wettbewerb, der den Schienentransport verbilligt. Privat finanziert sind die Privatbahnen auch nur zum Teil, überall und gerade auch für Alfred Escher muss die öffentliche Hand Garantien oder Subventionen sicherstellen, besonders für die Gotthardbahn. Die vorerst fünf regionalen Monopole behindern sich an den Schnittstellen gegenseitig, indem sie Güter umladen lassen, statt fremde Wagen zu befördern, indem sie Abkürzungsstrecken bauen lassen, um günstigere Tarife anbieten zu können, indem sie Konzessionen für Konkurrenzstrecken hintertreiben oder indem sie Einführungen von technischen Neuerungen mit juristischen Mitteln verhindern.
Alfred Escher profiliert sich in diesen Auseinandersetzungen als instinktsicherer Machtpolitiker wie auch als lernwilliger Netzwerker. In sein Netz fängt er mittels Ämtern und Stellen auch Oppositionelle wie den radikalliberalen Schriftsteller Gottfried Keller oder den als Kommunisten verschrienen Johann Jakob Treichler. Escher und seinen Mitstreitern gelingt es vorerst, die bestehende «Schweizerische Nordbahn» Zürich—Baden mit der «Bodenseebahn» Zürich—Romanshorn zur Nordostbahn NOB zu fusionieren. Zürich erhält so ab Mitte 1856 als zweite Schweizer Stadt eine internationale Schienenverbindung – vorausgesetzt, dass die Güter in Romanshorn und dem württembergischen Friedrichshafen auf Schiffe umgeladen werden.15
Alfred Escher macht sich mit dem Eisenbahngesetz von 1852 zum Eisenbahnkönig. Denkmal vor dem Hauptbahnhof Zürich.
Foto H. P. Bärtschi 2018.
Gut 15 Monate später nimmt die NOB auch die «Rheinfallbahn» Zürich—Schaffhausen mit Anschluss an die Badische Bahn in den Konzern auf. Sie beherrscht schliesslich den wichtigsten schweizerischen Verkehr von Deutschland ab Basel und Schaffhausen bis Luzern und Glarus. Den letzten Konkurrenten, die «Schweizerische Nationalbahn» SNB mit Sitz in Winterthur, treibt die NOB bis 1880 in den Konkurs und übernimmt die Konkursmasse zu 12,4 Prozent der Bau- und Betriebsmittelausgaben. Die NOB verfügt schliesslich – inklusive Bözbergbahnbeteiligung – über ein Schienennetz von 771 Kilometern. Sie bildet bis zum Zusammenschluss der Berner und der Westschweizer Bahnen den grössten Bahnkonzern des Landes.
In Basel setzen sich am 5. Oktober 1852, kurz nach der Festsetzung des Eisenbahngesetzes, Wirtschaftsvertreter zusammen, angeführt von Ratsherr Carl Geigy. Der Farbstoffindustrielle hat 1850 Stephenson und Swinburne in wirtschaftlichen Fragen beraten. Da nun anstelle des Bundesrats die Kantone Eisenbahnprojekte bewilligen müssen, nutzt Geigy seinen Ruf und Einfluss und gewinnt die beiden Basler Halbkantone sowie die Kantone Aargau und Luzern für den Bau einer «Schweizerischen Centralbahn» SCB Basel—Olten—Luzern. Mit ihm als erstem Präsidenten und ab 1856 als Direktor und dem Engländer Thomas Brassey als Generalunternehmer gelingt der Durchbruch des ersten langen Gebirgstunnels der Schweiz am Hauenstein. Das Streckennetz erschliesst von Frankreich her den Jurafuss, die Zentralschweiz und Bern. Es ist inklusive der Beteiligung an der Aargauischen Südbahn 390 Kilometer lang. Eine von Alfred Escher angeregte Fusion mit der NOB kommt nicht zu Stande, beide Konzerne streben über verschiedene Zufahrtslinien der Transitroute über den Gotthard zu.
Auf St. Galler und Pariser Initiativen gehen die «Vereinigten Schweizer Bahnen» VSB zurück. Wie der Gesellschaftsname