Schweizer Bahnen. Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen - Hans-Peter Bärtschi


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1857 gelingt der Zusammenschluss der Sankt Gallerbahn mit der Glatttalbahn. Die VSB beginnen sofort mit dem Bau der Rheintalbahn Richtung Chur und Lukmanier. Doch nach dem Entscheid, die Alpentransversale über den Gotthard zu bauen, stagnieren die VSB. Sie betreiben Ende des 19. Jahrhunderts ein Regionalnetz vom Rheintal rund um die Voralpen bis ins Zürcher Oberland. Es ist inklusive Toggenburgbahn knapp 300 Kilometer lang. Die nie vollendete Ostalpenbahn aber bleibt eine Hypothek der Sankt Galler, ihnen fehlt lange Zeit die internationale Transitachse, die schliesslich mit dem Bau der Arlbergbahn eine andere als die ursprünglich vorgesehene Richtung nimmt.16

      Im Berner und im Westschweizer Einflussgebiet schliessen sich die Bahnen erst spät zum Bahnkonzern «Jura—Simplon» JS zusammen. Alfred Eschers fast gleichaltriger Gegenspieler Jakob Stämpfli ist wie jener Jurist und Vollblutpolitiker, jedoch auf radikaler Seite. Er favorisiert ein staatlich geplantes und gebautes Eisenbahnnetz. Ihm bleibt nach dem Erlass des Eisenbahngesetzes 1852 nichts anderes übrig, als sich statt im nationalen nun im kantonalen Rahmen für den Bahnbau einzusetzen.

      Fünf Jahre später liegt der Bericht über ein bernisches Eisenbahnwesen vor. Zu spät, um den Baslern die Stirne bieten zu können. Diese haben bereits 1853 eine Linie über Burgdorf bis Thun konzessionieren lassen. Nun suchen die Berner eine Route für eine zweite schweizerische Haupttransversale vom Jura auf «Abwegen» durch das Emmental und das noch dünner besiedelte Entlebuch Richtung Luzern und Zürich. Finanziert mit einem Extrakredit der Berner Regierung eröffnet diese «Ost—West-Bahn» OWB am Ufer des Bielersees 1860 ihr erstes Teilstück. Ein halbes Jahr später ist die Gesellschaft zahlungsunfähig. Umgerechnet 250 Millionen Franken sind bereits im Abschnitt Bern—Langnau verbaut. Die OWB erhält im Volksmund den Übernamen «Oh weh»-Bahn.

      Doch dank Stämpflis Omnipotenz wird die OWB am Tage ihrer Liquidation gleich Phönix aus der Asche zur «Bernischen Staatsbahn» BSB. Sie übernimmt die Konkursmasse der OWB zu einem Fünftel der Baukosten. Mit weiteren Staatsmitteln schafft die BSB immerhin noch die Anschlüsse an die Basler Centralbahn in Zollikofen und Gümligen, weit entfernt davon, eine zweite schweizerische Transversale anbieten zu können. Die Fortsetzung Richtung Zürich wird erst Jahre später, 1875, von der «Bern—Luzern-Bahn» BLB vollendet. Ab Luzern übernehmen die Zürcher das Zepter. Den Bernern bleiben trotz weiteren Berner Steuergeldzuschüssen nur Schulden und Kostenüberschreitungen; 1876 wird der Konkurs verhängt. Der Kanton Bern übernimmt die BLB zum halben Baupreis. 1884 entsteht durch Fusion die «Jura—Bern—Luzern-Bahn», die 1890 mit den Westschweizer Bahnen in der «Jura—Simplon-Bahn» JS aufgeht. Das Streckennetz von 937 Kilometern umfasst auch die meterspurige Brünigbahn, die bereits früh mit internationalen Anschlüssen realisierten Jurabahnen und die Verbindungen vom Wallis über Genf nach Paris und Lyon zum Mittelmeer.17 Die JS bringt zwar noch den Simplon-Vertrag zustande, kann diesen längsten Tunnel der Welt aber nicht mehr zur Privatbahnzeit vollenden.

      In Konkurrenz vor allem zur NOB entsteht das Projekt für eine «Schweizerische Nationalbahn» SNB. Das Ziel ist der Bau einer ersten zusammenhängenden Bahn zwischen dem Boden- und dem Genfersee mit Ästen nach Basel, Singen, Zürich und Aarau. Die regionalen Transportmonopole der Privatbahnkonzerne St. Gallens, Zürichs und Basels sollen gebrochen werden. Politisch basiert dieses Projekt auf der Opposition der Winterthurer Demokraten und der Berner Radikalen gegen die Liberalen. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit nicht nur mit den Privatbahnkonzernen, sondern ganz speziell mit Alfred Escher als Eisenbahnkönig. Die 1864 ausbrechende Wirtschaftskrise verschärft die Situation. 1867 verlangen die Winterthurer Demokraten auf Landsgemeinden vorerst eine kantonale Verfassungsrevision, danach auch eine eidgenössische. Ihr spezielles Ziel ist die Ablösung des Eisenbahngesetzes von 1852 durch eine Regelung, welche die Bewilligung für den Bau neuer Bahnlinien von den Kantonen auf den Bund überträgt und auch Schmalspurbahnen zulässt. Das neue Eisenbahngesetz tritt 1872 in Kraft. Im Kanton Zürich übernehmen die Demokraten die Macht, sie lassen das Nationalbahnprojekt sofort so weit wie möglich konzessionieren. Die Ostsektion führt von den deutschen Städten Konstanz und Singen nach Winterthur. Neben dem Rheinviadukt bei Hemishofen erstellt die SNB die zweitlängste Eisenbrücke der Schweiz über die Thur bei Ossingen und präsentiert sie 1876 stolz bei der Weltausstellung in Philadelphia. Die Westsektion hätte über Zürich in die Westschweiz führen sollen. Schon im Gründerjahr beantragt die SNB bei der Bundesversammlung den Bau eines Kopfbahnhofs in Zürich. Die bestehenden Bahnkonzerne reagieren, indem sie ihre Linien mit alten Prioritätsrechten konzessionieren lassen, um der SNB den Weg abzuschneiden. Allen voran unternimmt die Nordostbahn alles, um das Nationalbahnprojekt durch Juristereien, technische und wirtschaftliche Schikanen zu verunmöglichen. Als die Strecke bis Zofingen auf 157 Kilometer Länge gebaut ist, kollabiert die SNB infolge laufender Projektänderungen und sehr schlechter Betriebsergebnisse.18 Am 20. Februar 1878 wird die Zwangsliquidation verfügt.

      Die hauptsächlich mit Steuergeldern finanzierte SNB geht mit allen Bauten und dem Rollmaterial zum erwähnten Achtel aller Investitionskosten an die feindliche NOB. Für Winterthur und viele nunmehr schwer verschuldete Gemeinden entlang der SNB beginnt eine oft jahrzehntelange Depression. Die Demokraten verlieren ihre Kantonsrats- und Regierungsmehrheit wieder an die Liberalen. Aber auch die alten Privatbahnkonzerne haben überinvestiert, sie erwirtschaften statt Renditen Verluste, die Aktienkurse fallen auf einen Tiefststand.

      Die Gotthardbahn und Eschers Machtzerfall

      Mit der Übernahme der Zürich—Zug—Luzern-Bahn aus der Konkursmasse der OWB ändert Alfred Escher seine Alpenbahnstrategie: der Gotthard und nicht mehr der Lukmanier ist nun sein Ziel. Auch international hat sich die Situation verändert. Im Süden ist 1859–1861 das Königreich Italien entstanden, im Norden mit dem Sieg über Frankreich 1871 das deutsche Kaiserreich. Alfred Escher bemüht sich erfolgreich, die Schweiz aus diesen Konflikten herauszuhalten. Er nutzt die neue Konstellation und beruft bereits 1869 die internationale Gotthardkonferenz ein. Ende 1871 entsteht als fünfter schweizerischer Bahnkonzern die Gesellschaft der «Gotthardbahn» GB. Doch die Baukosten werden unrealistisch tief eingeschätzt. Die Überschreitungen können auch nach zwei exorbitanten Rücktrittsentschädigungen für die Oberingenieure Robert Gerwig und Wilhelm Hellwag nicht eingedämmt werden. Die Umprojektierung – steilere Rampenstrecken, engere Kurven und nur einspuriger Ausbau – bedarf dennoch einer Zusatzfinanzierung. Zahlen sollen das Private, Deutschland, Italien und die Schweiz – und dies mitten in der 1877 ausgebrochenen Eisenbahnkrise. Die Zürcher Stimmbürger lehnen die Nachfinanzierung ihres Anteils aus Steuergeldern ab. Ausschlaggebend sind dieses Mal nicht Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Freisinnigen, sondern solche innerhalb des freisinnigen Lagers, vor allem zwischen den zwei einstigen Busenfreunden: Bundesrat Emil Welti und Alfred Escher. Der Eisenbahnkrach beendet Eschers Glanzjahre; er tritt in den 1870er-Jahren aus der operativen Leitung der drei wichtigsten von ihm aufgebauten Firmen zurück: aus der GB, aus der NOB und aus deren Hausbank, der Schweizerischen Kreditanstalt. Dennoch zieht der nimmermüde, aber oft kranke Macher und Machthaber die Fäden weiterhin. Kein anderer Schweizer hat die Machtfülle von Alfred Escher je wieder erreicht. Sein nach Ernst Gagliardi19 wichtigster Biograph, Joseph Jung, fasst sein Leben in drei Worten zusammen: Aufstieg, Macht und Tragik.20 1882 stirbt Alfred Escher mit rund verfünffachtem Vermögen, jedoch aufgebraucht und ausgebrannt, unter anderem an Furunkeln – wie ein Jahr später in London der verarmte Karl Marx. Einen Heldentod bei einer Baustellenbesichtigung im Gotthardtunnel hingegen findet Louis Favre, der 1872 in der Ausschreibungskonkurrenz einen zeitlich nicht erfüllbaren Vertrag mit ruinösen Konventionalstrafen für den Fall von Bauverzögerungen unterschrieben hatte. Der Rückstand kann auch durch Einsatz neuester Sprengtechnik mittels Dynamit und trotz miserabler Arbeitsbedingungen nicht wettgemacht werden. Am Gotthard sprengt sich Helvetia mit verbundenen Augen 15 Kilometer lang durch Granit, Gneis, und Sedimente, der deutsche Kaiser hält ihre Hand. Die zehn statt der versprochenen acht Jahre Bauzeit entwickeln sich zur finanziellen, politischen und menschlichen Katastrophe.

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      Der Bund delegiert die Konzessionsbefugnis auf die Kantone, es entstehen fünf regionale Monopole, u. a. die Centralbahn.

      Foto H. P. Bärtschi Sissach 1979.

      Die


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