Schweizer Bahnen. Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen - Hans-Peter Bärtschi


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Und diese werden im Selbstverständnis einer Pionierzeit umgesetzt, das die Natur als Hindernis betrachtet, welches es zu überwinden gilt. Kataster über Naturgefahren werden angelegt: Wo gibt es Wildbäche und Überschwemmungsgefahren, wo Rutschungen und Steinschlaggefahren, wo Lawinenzüge? Speziell für Fundations- und Tunnelbauarbeiten sind vertiefte geologische Kenntnisse unerlässlich. So beginnt der Eisenbahnbau zur linear totalen Landschaftsveränderung zu werden. Die für die neue Technik «falsche» Natur muss korrigiert werden. Für den Bau der Rheintallinie Sargans—St. Margrethen wird der Rhein 1857–1858 abschnittsweise in grösserem Umfang «korrigiert». Der Bau der Bahnlinie durch das Birstal von Basel bis Moutier erfordert 1874–1875 bedeutende Eingriffe in den Wasserlauf.28 Eine Jahrhundertüberschwemmung überschattet 1876 die Bauvollendung der Tösstalbahn, in deren Folge tätigt der Kanton Zürich über mehrere Jahre seine grösste Investition für die Tösskorrektion.

      Die Hauensteinbahn – die zweite Gebirgsbahn des europäischen Kontinents

      Zeitgleich mit der Wasserstrassen- und Schienenverbindung Bodensee—Genfersee und den ersten Bahnbrücken über den Rhein entsteht die erste Gebirgsbahn der Schweiz.

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      Die obere Hauensteinbahn gehört zu den ersten Gebigsbahnen Europas. Bedeutende Bauwerke sind original erhalten.

      Foto H. P. Bärtschi 1979.

      Sie führt von Basel über die alte Hauensteinlinie nach Olten. Robert Stephenson schlägt diese Route schon 1850 dem Bundesrat vor: Die Linie ist «im Thalgrund bis in die Nähe von Bukten fortzuführen. An dieser Stelle beginnt die schiefe Ebene von drei Kilometern Länge mit almälig zunehmender Steigung von 30–35 per mille.» Schiefe Ebenen sind Möglichkeiten der frühen Bahnbauer, Hindernisse baukostengünstig zu überwinden. Die Züge werden in Wagengruppen aufgeteilt und mit Drahtseilantrieb über Steilstreckenabschnitte befördert. Mit zwei weiteren schiefen Ebenen sollte Olten über Trimbach erreicht werden. Als 1852 das Hauensteinprojekt in die Detailplanung kommt, steht die erste Gebirgsbahn des Kontinents, die österreichische Südbahn, kurz vor der Vollendung. Sie verbindet den österreichischen Adriahafen Triest über den Semmering-Pass mit Wien. Carl Ghega vergleicht für diese Bahn Drahtseilprojekte mit «Reibungs-Locomotiv-Eisenbahnen» und kommt nach dem Studium amerikanischer Bahnen mit Steilstrecken zum Schluss, dass Steigungen von 25 Promille mit Lokomotiven zu bewältigen sind. Mit einer typischen amerikanischen 2B-Lokomotive macht er erste Probefahrten. Im Wettbewerb für eine geeignete Gebirgslok entsteht unter Auswertung der Versuchsergebnisse Wilhelm Engerths Stütztenderlok, die das Gewicht des Kohlenwagens für die Reibung mit einbezieht. Der erfolgreiche Betrieb der Semmering-Steilstrecken mit Engerth-Lokomotiven ermuntert die Centralbahn, den Hauenstein ohne Drahtseilbahnen mit Rampenstrecken von 27 Promille zu bauen und mit Engerth-Lokomotiven zu betreiben. An diesem Beispiel zeigt sich eindrücklich das oben erwähnte «technische Ensemble», wobei in diesem Fall die Entwicklung eines neuen Dampfloktyps eine durchgehende Trassierung ohne «schiefe Ebenen» ermöglicht. Als aufwändigste Bauwerke bleiben der Scheiteltunnel, die Eisenviadukte bei Liestal und Olten und der Hausteinviadukt bei Rümlingen. Bis zu 3000 Arbeiter stehen gleichzeitig auf den Baustellen im Einsatz. Eine Tunnelbrandkatastrophe mit 63 Todesopfern und andere Schwierigkeiten führen zur verspäteten Eröffnung der ersten schweizerischen Gebirgsbahn am 1. Mai 1858.29

      Den Tälern folgen, sie mit Brücken senkrecht queren, Tunnelbauten kurz halten

      Die Muskelkraft von Arbeitern und Pferden auf der Baustelle und die beschränkten Möglichkeiten beim Bau weitgespannter Brücken setzen Grenzen bei Eingriffen, die dennoch zuvor nie erreichte Ausmasse annehmen. Bahnlinien werden entlang von Höhenkurven geführt, Abtragungen auf das Minimum reduziert, Aushub für den Bau von Dämmen in nächster Nähe verwendet. Nach Möglichkeit legt man neue Bahnlinien entlang der Flüsse an. In allen Fällen überquert man die Flüsse möglichst senkrecht, um die Brückenlänge über dem Wasser so kurz wie möglich halten zu können. Bei Koblenz wird der Rhein mit der heute ältesten grossen, engmaschigen Gitterfachwerkbrücke überbrückt. Den Rheinfall betrachtet man schon 1855 als Naturwunder, man wählt oberhalb des Kataraktes die Form einer Steinbogenbrücke. Der kurze Tunnel unter dem Schloss Laufen bildet dort eine faszinierende Einheit mit dem anschliessenden Brückenbauwerk, das mit seinem Fussgängersteg eine beliebte Verbindung vom Rheinfall zum Schloss Laufen darbietet. Für die Limmatquerung schliesslich nutzt man den Abraum, der beim Bau des Oerliker Tunnels und des Wipkinger Einschnittes entsteht, zum Aufschütten des grossen Erddammes am anderen Limmatufer. Die «Flachstrecken» ab Oerlikon Richtung Bodensee können etappenweise ab Mai 1855 eingeweiht werden, der an Kunstbauten reichste und schwierigste Abschnitt Zürich—Oerlikon jedoch erst am 26. Juni 1856.

      Selbstredend gehören die drei Alpentransversalen Gotthard, Simplon/Lötschberg und Rhätische Bahn zu den kunstbautenreichsten Strecken der Schweiz. Weitere besonders dichte Abfolgen von Dämmen, Einschnitten, Brücken und Tunneln befinden sich auf den Bahnen im Toggenburg, im Birstal, durch das Centovalli und auf der Montreux—Oberland-Bahn und – eher überraschend – auf den Stadtgebieten von Zürich, Basel und Lausanne.

      Für die Planung und den Bau der Zufahrtsrampen am Gotthard werden in den 1870er-Jahren die Naturgefahren systematisch inventarisiert: Viele Planunterlagen des Schlussrapports des Gotthardbahnbaus zeigen Querprofile, die nebst dem klein wirkenden Trassee die Umgestaltung ganzer Landschaftsabschnitte umfassen. Fels- und Hangrutschpartien, Strauch- und Baumbewuchs sind detailliert, die vorsorglichen baulichen Massnahmen weiträumig eingezeichnet: Terrainverbau, Wildbachverbau, Lawinenverbau, Steinschlag- und Felssturzgalerien übertreffen in einzelnen Abschnitten die baulichen Massnahmen für das eigentliche Bahntrassee bei weitem.30 Der Bau der Gotthardbahn treibt die «Verbesserung» der Natur nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts auf die Spitze. Davon zeugen die Bilder aus der Bauzeit. Ganze Talabschitte sehen oft für Jahre aus, als wäre eine Naturkatastrophe über sie hereingebrochen: gesprengte Felsenpartien, Abraumhalden, Wunde an Wunde.

      Sparen mit steileren Bahnen und schmaleren Spurweiten

      Mit dem Eisenbahngesetz von 1872 delegiert der Bundesrat einerseits die Hoheit für Bahnkonzessionen von den Kantonen an den Bund, andererseits lässt er gewisse Einschränkungen fallen. Bahnen müssen nicht mehr zwingend in Normalspur gebaut werden. Verschiedene Bahngesellschaften benutzen diese Gesetzesänderung für den Bau von Bahnen mit geringeren Radien, grösseren Steigungen und schmaleren Spuren. Es entstehen Bahnprojekte, die wegen der Erschliessung von Dörfern topografisch nicht optimiert sind oder den demografischen Gegebenheiten nicht entsprechen. Schmalspur bedeutet in der Schweiz meist einen Schienenabstand von 1000 mm, statt wie bei der Normalspur von 1435 mm. Bereits Ende 1873 eröffnet die Lausanne—Echallens—Bercher-Bahn ihren ersten Streckenabschnitt in Meterspur. Viele Tram- und Strassenbahnen entstehen in dieser Spurweite. Andererseits baut die im Ringen um Zentralität zu kurz gekommene Stadt Winterthur nach den Kriterien des damaligen Winterthurer Stadtpräsidenten die Schweizerische Nationalbahn SNB quer zu den Tälern: so könnten möglichst viele Ortschaften neu an das Schienennetz angeschlossen werden, was die Bahn zum Rentieren bringe. Die überrissenen Kosten für Landschaftsveränderungen und grosse Brücken in dünn besiedelten Gebieten führen schliesslich zum Konkurs der SNB.

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      Als typische «billige» Bahn entsteht bis 1889 die St. Gallen—Gais—Appenzell-Bahn in Meterspur mit Kurvenradien von 30 Metern und Zahnradabschnitten von 92 Promille Steigung. Die Zahnstange und die Riethüsli-Kurve werden 2018 ersetzt.

      Zumbühl, Vadiana St. Gallen, 1906.

      Nicht verwirklicht wird selbstverständlich das wohl phantastischste aller Bahnprojekte, Alfred Guyers «Orientbahn»: 1895 versucht er als Nordostbahnpräsident, eine neue normalspurige Transitbahn durchzusetzen, die er in einer Schrift als Verbindungsstück zwischen London und Bombay sieht. Als griechischer Konsul rechtfertigt er sein Albula—Ofenpass-Bahnprojekt mit der Aufteilung des Türkenreichs zugunsten von Deutschland, das so eine Direttissima


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