Schweizer Bahnen. Hans-Peter Bärtschi

Schweizer Bahnen - Hans-Peter Bärtschi


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Bau von Lokomotiven und Triebwagen, an dem sich auch die Maschinenfabrik Oerlikon und die Pionierfirma Sécheron aus Genf beteiligen.51 Bis zum Ersten Weltkrieg erstellen zehn Nebenbahnen eigene Wasserkraftwerke, 55 Betriebe speisen ihre Triebfahrzeuge mit Gleichstrom direkt oder durch Umformung von den im Aufbau begriffenen Elektrizitätswerken.

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      Für die Streckensicherung richtet die Gotthardbahn von Anfang an Wärterbuden mit Läutwerken ein.

      H. P. Bärtschi, Urnersee 1980.

      Katastrophen verhindern mit Unterhalt und Mechanik

      Niemand denkt beim Eisenbahnfahren an eine Katastrophe, die sich ausgerechnet mit seinem Zug ereignen könnte. Die Zuverlässigkeit der Eisenbahn ist sprichwörtlich. Nur in Dürrenmatts «Tunnel» kommt es vor, dass ein Zug zwischen zwei Orten plötzlich spurlos verschwindet: «Wir sind in einem Tunnel, seit fünfundzwanzig Minuten», sagt ein junger Mann. Doch der Schachspieler antwortet etwas ärgerlich, in der Schweiz gebe es eben viele Tunnel, ausserordentlich viele. Der Zugführer: «Wie wir in diesen Tunnel geraten sind, weiss ich nicht … Doch bitte ich Sie, zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muss also irgendwohin führen …». Sie finden den Führerstand leer vor. «Wir sassen noch in unseren Abteilen und wussten nicht, dass schon alles verloren war.»52 Dürrenmatts apokalyptisches Gleichnis deckt sich mit Wolfgang Schivelbuschs Analyse, dass die Verdrängung möglicher Gefahren bei einem Unfall zum Schock führt. Er sieht die Gewöhnung des Menschen an immer neue Apparaturen als Prozess der Angstverdrängung. Technisch verursachte Reize werden verinnerlicht, erscheinen als Naturbeherrschung.53 Diese neuen Wahrnehmungs- und Verhaltensformen führt die Eisenbahn als erstes weiträumig verbreitetes, technisches Ensemble ein. Bis dahin scheint es selbstverständlich zu sein, dass alles, was der Mensch mit seinen Händen schafft, einen Unfall erleiden kann, so die Formulierung in Diderots «Encyclopédie» von 1747–1765 [Erstausgabe]. Die Industrie und das industrialisierte Transportwesen haben mit ihrer gigantischen maschinellen Apparatur diese Option potenziert. Dieser Sicht schliesst sich auch Ernst Bloch an, wenn er über das Wesen des technischen Unfalls trotz aller Verbesserung der Sicherheitssysteme nachdenkt: «Je effektiver die Technik, um so katastrophaler die Destruktion».54

      Eisenbahnkatastrophen in der Schweiz

      Aufgrund von Unfallhäufungen am Ende des 19. Jahrhunderts lässt das russische Transportministerium bis 1906 eine internationale Vergleichsstudie über getötete und verletzte Passagiere auf eine Million Reisende ausarbeiten. Die Schweiz kommt nicht gut weg. Sie steht bei den durch die Eisenbahn verursachten Verletzungen und Todesfällen nach Russland, den USA und Belgien an vierter Stelle.55 Drei grosse Eisenbahnkatastrophen seien hier kurz geschildert.

      Am 19. Juli 1870 erklärt Kaiser Napoleon III. Preussen den Krieg. Der Bundesrat setzt General Herzog an die Spitze der Armee. Nach Napoleons Gefangennahme führen die Preussen und ihre deutschen Verbündeten den Krieg weiter und lassen im Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles den preussischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser krönen. Die Schweiz mobilisiert 20 000 Soldaten an der Jura-Grenze. Der General der Richtung Jura abgedrängten französischen Ostarmee, Bourbaki, unternimmt einen Selbsttötungsversuch; sein Stellvertreter überschreitet mit schweizerischer Zusage am 1. Februar 1871, mitten im Hochwinter, mit 87 000 demoralisierten, kranken, halb verhungerten Soldaten die Grenze. Die Schweizer Armee requiriert Eisenbahnzüge und Gebäude für die Unterbringung: leerstehende Fabriken, Lagerhäuser, Turnhallen. Sie zwingt die Privatbahnen, «Grosstransport-Fahrpläne» einzuführen, z. B. möglichst ohne Halt zwischen Genf und Romanshorn.56 13 Monate später, zwischen dem 13. und dem 22. März 1872, werden die Internierten nach Frankreich repatriiert. Am letzten Tag der Rückschaffung ist in Colombier eine Weiche falsch gestellt. Der Zug der Internierten fährt auf einen Güterzug auf. Aus den zersplitterten Holzwagen werden über 100 Menschen geborgen, 24 nur noch tot.

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      Die früheste in der Schweiz fotografisch festgehaltene Eisenbahnkatastrophe ist diejenige vom 22. März 1871 in Colombier. Infolge falscher Weichenstellung fährt ein Zug der Ouest Suisse auf eine stehende Komposition. Die Holzwagen mit den Internierten verschachteln sich.

      HB Kreisdirektion I Lausanne 1983.

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      Am Tag nach der Eisenbahnkatastrophe in Münchenstein gaffen Schaulustige von der Strassenbrücke, während die Trümmer in der Birs von Befrackten, von Militär- und Bahnpersonal begutachtet werden.

      HB Archiv Winterthur Versicherungen 1891.

      Als 14. Juni 1891, einem Sonntag, ein dicht besetzter Festzug Basel Richtung Delémont verlässt, stürzt unter ihm in Münchenstein die Birsbrücke ein, die schweren Dampfloks voran, dahinter verschachteln sich die Wagen mit ihren hölzernen Aufbauten. «Münchenstein» ist die grösste Eisenbahnkatastrophe der Schweiz, 71 Reisende sterben, 171 teilweise schwer Verletzte werden geborgen. Der Bau der Brücke war 1875 von den ursprünglichen «Chemins de fer du Jura Bernois» JB beim Ingenieurbüro Eiffel in Paris in Auftrag gegeben worden. Der Einsturz scheint unbegreiflich zu sein, vor allem für die Verantwortlichen der Bahngesellschaft; eine Expertenuntersuchung soll die Ursache herausfinden.57

      Bereits am 17. August desselben Jahres kommt es zu einer weiteren Eisenbahnkatastrophe. Beteiligt sind die überdurchschnittlich moderne Schweizerische Centralbahn SCB und wieder die Jura—Simplonbahn JS, die 1890 bis 1891 fusionierte Nachfolgegesellschaft u. a. der einstigen JB. Vom überlangen SCB-Festzug für die Feierlichkeiten «700 Jahre Stadt Bern» stehen die letzten Wagen bei Zollikofen noch auf der Strecke, als sich der Pariser Schnellzug nähert. Diesem sind neben den mit Druckluftbremse ausgerüsteten internationalen Wagen noch Sonderzugwagen ohne Druckluftbremse angehängt. Der Führer der Vorspannlok pfeift und versucht eine Schnellbremsung, die jedoch nicht gelingen kann. Leute aus dem hintersten Wagen springen ab, dennoch sterben im SCB-Zug 17 Personen, 23 sind schwer und 30 leichter verletzt, im auffahrenden Zug erleidet der Lokführer schwere Verletzungen.58

      Sicherere Infrastruktur

      Die drei geschilderten Eisenbahnkatastrophen haben wenig gemeinsame Ursachen. Doch alle ereignen sich in Situationen erhöhter Anspannung mit zusätzlichem Passagieraufkommen und höherer Zugsdichte. Die Bundesbehörden intensivieren die Ursachenforschung, pochen auf die Sicherheit des Unter- und des Oberbaus (Brücken, Schienenbrüche), des Rollmaterials (Bremsen, Fahrwerk), der Geschwindigkeit und der Signale.59 Während die Jura—Simplon-Gesellschaft als Eigentümerin des Rollmaterials und der Brücke von Münchenstein 1891 schleppend reagiert, beordert der Bundesrat über das Eidgenössische Polytechnikum sofort den ausgewiesenen Materialprüfer Ludwig von Tetmajer auf die Katastrophenstelle. Die Unfalluntersuchung ergibt, dass die Konstruktion von Eiffel nur geringe Schwächen besass und nicht als Ursache des Einsturzes gelten kann: Ein Hochwasser hat 1881 ein Widerlager unterspühlt und die Eisenträger geschwächt. Die Brücke ist wieder in Stand gestellt und 1890 für die neuen, schweren Lokomotiven verstärkt worden, jedoch nicht genügend. Tetmajer muss sich gegen verschiedene Spekulationen wehren, unter anderem, dass der Zug vor der Brücke entgleist sei. Die Ursachen des Einsturzes liegen im raschen Befahren der Brücke durch zwei 1889 eingeführte schwere Lokomotiven über die zu schwachen Mittelstreben, die nach einer Reparatur exzentrisch befestigt worden sind, ferner in der für das Baujahr 1875 zwar normalen, jedoch geringen Qualität des Eisens. Tetmajer wirft der Oberaufsicht des Bundes vor, Brücken zuzulassen, die für wenig Geld rasch erstellt worden seien und nun den schwereren und schnelleren Zügen nicht mehr genügen können. Als Professor des eidgenössischen Festigkeitsinstituts verlangt er vom Eisenbahndepartement die Erstellung von vollständigen Brückenbüchern mit Nachberechnungen.60 Als Sofortmassnahmen werden Geschwindigkeits- und Gewichtsreduktionen und der obligatorische Einbau von Leitschienen gegen Entgleisungen auf Brücken angeordnet.


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