Mit gläubigem Herzen und wachem Geist. Reinhold Stecher
für sein Reich absichtlich so viele Gleichnisse der Geduld gewählt: sprossende Bäume und reifende Saaten, nächtelang rudernde Fischer und wartende Jungfrauen mit den Lampen … Und noch eines hat der Herr vom Baum wie vom Weinstock betont: dass die Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit bildet, dass sich alles aus einem Stamme verzweigt, und sein Leben aus Wurzeln erhält, die in der Tiefe verborgen liegen.
Aber nun hinein in das Geäst und Gezweig des kirchlichen Lebens!
Die Heilige Feier
Der erste Ast, den ich verfolge, wächst aus der innersten Mitte empor – und bleibt in der Mitte: Es ist der Ast der Heiligen Feier, der Ast der Mysterien, der Eucharistie, der Sakramente. Es war die besondere Sorge des letzten Konzils, sich um das strömende Leben und Blühen dieses Astes zu kümmern. Wie steht es bei uns mit diesem Ast? Wenn ich zum Beispiel an den Sonntag denke, dann gibt es da natürlich auch Entfremdungserscheinungen, Verständnisverlust und zeitgemäße Unverbindlichkeit. Aber im Ganzen gesehen ist dieser Ast doch in dem Menschenalter, das ich überblicke, um eine Welt lebendiger geworden, verjüngt und wesentlicher. Ob ich jetzt an die leise Intimität einer Roratemesse in der Hochschulgemeinde denke, oder an irgendeinen Firmgottesdienst im kleinen Bergdorf, an die große Liturgie mit dem Papst am Bergisel oder an die Osterzeremonie in den Pfarrgemeinden – es hat sich viel getan an diesem Ast. Und dass bei einem derartigen Vitalitätsschub der eine oder andere wilde Trieb ausschießt, ist mehr Naturereignis als Katastrophe.
Die große Linde im Schlosspark von Ambras bei Innsbruck
Im schlimmsten Fall muss halt das Amt auch einmal die Baumschere in die Hand nehmen … Aber wer hier nur Fehlentwicklungen zu sehen glaubt und nur den Verlust der Formen von gestern beklagt, der schaut den Baum weder mit den Augen des Glaubens noch mit denen der Liebe an.
Und doch bleibt mir viel zu wünschen und zu beten, wenn ich zu diesem Ast hinaufschaue. Dass wir die rechte Innigkeit finden und nicht in Formalismen steckenbleiben; dass wir auf alle Rücksicht nehmen, auch auf jene, die im Raum des Heiligen das Experiment nicht so lieben; dass wir die rechte Sprache der Zeit in der Verkündigung finden; dass auch die Kunst der Zeit in den Raum des Heiligen eindringe; dass in allem die Ehrfurcht dominiere, vom kleinen Ministranten bis zum Verwalter der Geheimnisse.
Auf einen Seitenzweig der Sakramente schaue ich mit Sorge: Er scheint sich dem Schatten und der Verkümmerung zuzuwenden und Blätterschwund zu erleiden: Es geht um das Sakrament der Umkehr. Es mag vieles daran schuld sein – von einseitigen Akzenten in der Kirche bis zu den billigen Mechanismen einer Verdrängungsgesellschaft, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld überflüssig zu machen scheinen – gleichviel, die Kirche kann sich das Baumsterben auf dieser Seite nicht leisten. Die Früchte dieses Zweiges sind für die Kirche unverzichtbar.
Die Gemeinden
Und weiter geht mein Blick zum hundertfach verzweigten Ast der Gemeinden. Wenn ich auch noch nicht überall gewesen bin, in den letzten acht Jahren bin ich auf diesem Ast viel herumgeklettert. Es sind gute Erinnerungen, die da aufsteigen: Abende mit Pfarrgemeinderäten und Pfarrkirchenräten, mit Frauen und Männern, Jugendlichen und Senioren, Menschen aus allen Schichten, Berufen und Altersstufen. Und ich weiß, wie viel Mitsorge und Verantwortung, Einsatz und Ideen, Mühen und Aktionen, Bazare und Renovierungen, Krankenbesuche und Kontakte, Fröhlichkeit und Gebet von diesen Gremien ausgehen.
Der Ast war in früheren Zeiten nicht immer so lebendig. In ihm liegt viel Hoffnung. Und ich schicke ein Gebet hinauf, dass er lebendig bleibe, gerade dann, wenn nicht mehr alle Amselnester auf ihm besetzt sind, will sagen, wenn nicht in jedem Widum mehr ein Priester sein kann …
Die Gemeinschaften
Und dann steigt da ein dritter Ast empor, der seine Zweige überall hinsendet: Es ist der Ast der überdiözesanen und diözesanen Gemeinschaften.
Es ist ein dankbarer Blick, den ich auf die Orden werfe, die weiblichen und die männlichen. Durch sie lebt in der Baumkrone der Ortskirche der Geist und die Spiritualität der ganz Großen der Kirche weiter: Augustinus und Benedikt, Norbert und Franziskus, Ignatius und Vinzenz, Theresia und Alfons, die sieben Väter des Servitenordens, Don Bosco und Dominikus, Bernhard und Johannes vom Kreuz, Maria Ward und Franz von Sales und viele, viele andere – durch ihre Gefolgsleute wird die Kirchengeschichte des geistlichen Lebens in der Heimat zur lebendigen Gegenwart. Und immer wieder wachsen neue Formen solcher Gemeinschaften. Und trotz aller verschiedenen Akzente gibt es einen beglückenden Geist des Miteinander. Der hilfesuchende Bischof weiß ein Lied davon zu singen.
Und weiters breitet dieser Ast die Seitenäste der verschiedensten Organisationen, in- und außerhalb der Katholischen Aktion, aus. Man möge mir das Durcheinander verzeihen – ein Blick in eine große, grüne Baumkrone ist nun einmal nicht so wie der in eine geordnete Kartei. Da arbeiten also Katholische Jugend und Jungschar, Männer- und Frauenbewegung, Familienverband und Lehrerverein, Kindergärtnerinnen und Diözesansportverband, Arbeiterjugend und KAB, Verband christlicher Unternehmer und Mittelschullehrer, Ritterorden und Dritte-Welt-Gruppen, Opus Dei und Drittordensgemeinschaften, Bundesheerseelsorge und Gastarbeiterbetreuung, Pfadfinder und Studentenverbindungen, Gen-Bewegung und Fokolare, Malteser und Bruderschaften, Krippenvereine und Chöre, Vinzenzgemeinschaften und Gruppen, die sich in Rocca di Papa zusammengetan haben, Kolping und Tourismusseelsorge … Hoffentlich nimmt es mir niemand übel, wenn ein Zweig verdeckt war. Der Überblick ist gar nicht einfach. Aber das alles ist gewachsen, weil eben das Leben so bunt ist und die Notwendigkeiten und Bedürfnisse so vielfältig sind.
Und doch muss ich das Gebet emporschicken, dass in all dem kein organisatorischer Leerlauf entstehe, und dass die Zweige nicht vergessen, dass sie zu einem Seitenast gehören, und der Seitenast, dass er aus einem Ast wächst, und der Ast, dass er aus einem Stamm kommt, und der Stamm, dass er nur aus einer Wurzel lebt, einer Tiefe.
Die vielfältige Hilfe
Noch ein weiterer Ast prägt und füllt die Baumkrone der Kirche Tirols, auch wenn er sich im Alltag meist bescheiden versteckt. Es ist der Ast des menschlichen und sozialen Helfens. Er war von Anfang an da, schon damals, als vor 2000 Jahren die Kirche noch eine winzige Staude war. Inzwischen hat er viele Zweige getrieben, auch hier bei uns. Zu ihm gehören die Mitarbeiter der Caritas, die pflegende Krankenschwester und die Familienhelferin, der Bruder-in-Not-Spender und die Sternsinger, die Betreuerin im Elisabethinum und die Altenpflegerin, das Engagement von „Frauen helfen Frauen“, der Solidaritätsfonds der KAB für schwer zu vermittelnde Jugendliche und die 35 Ortsgruppen des Vinzenzvereins, die emsige Arbeit des Sekretariats für Entwicklungshilfe und die Ferienangebote des Familienreferates, die Aktivitäten der Telefonseelsorge und das stille Wirken von „Rettet das Leben“, die Eheberatung, die Ehevorbereitung und der Arbeitskreis für Alleinerziehende …
Der Ast des Helfens sprengt den Rahmen der Diözese: Woche für Woche liegen mir die Schecks zur Unterschrift vor: nach Sudan und Armenien, in den Sahel und nach Indien, in die Slums von Brasilien und das Elend auf den Philippinen, nach Kenia und in den Kamerun, nach Madagaskar und Peru …
Was müsste ich diesem Zweig wünschen und erbitten? Dass seine Zweige immer wieder dorthin dringen, wo die Not in den Lücken der Gesellschaft und der Welt nistet? Und dass sich auf ihm keine Schmarotzerpflanzen niederlassen? Das auch. Vor allem aber, dass er immer durchpulst bleibe von jener Haltung des Dienens, die Christus uns allen eingeschärft hat.
Die Glaubensbildung
Je länger ich in den großen Baum hinaufschaue, umso mehr große Äste kommen in Sicht. Der nächste ist der Ast der Glaubensbildung. Auch er gehört in einer Diözese wie der unseren zu den Großstrukturen. Und das muss so sein – in einer Epoche des weltanschaulichen Vielerlei und der ethischen Verwirrspiele