Die Verunglückten. Matthias Bormuth

Die Verunglückten - Matthias Bormuth


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so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben, als könne man getrost dieses Stück der deutschen und der europäischen und damit der Weltgeschichte aus den Lehrbüchern streichen, als käme alles darauf an, das ›Negative‹ zu vergessen […]; hinter den grotesken Zuständen, daß man deutschen Jugendlichen verheimlicht, was in einer Entfernung von wenigen Kilometern jedes Schulkind weiß – hinter all dem steckt natürlich eine echte Ratlosigkeit.«

      Hannah Arendt empfahl ihren Hamburger Hörern mit dem Dramatiker Lessing eine Form des kathartischen Erzählens, das Autoren und Historiker erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand leisten könnten. Jean Améry gehörte mit dem Essayband Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten zu den Ersten, die nach den spektakulären Prozessen im kritischen Publikum ihre Lagererfahrungen bekannt gemacht hatten. Während die Auschwitz-Nummer auf seinem Unterarm später bei öffentlichen Auftritten seine Erfahrung als »Opfer« bezeugte, nahmen Bachmann und Johnson das Thema als Nachgeborene auf. Ingeborg Bachmann lag 1964 in ihrer Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle aus familiären Gründen sehr daran, die ehemalige Hauptstadt als topographische Signatur im Land der »Täter« kenntlich zu machen. Während ihr Vater schon vor 1933 in Klagenfurt Mitglied der NSDAP gewesen war, hatten Johnsons Eltern aus Angst vor sozialen Folgen zugestimmt, den zehnjährigen Sohn 1944 in Mecklenburg auf eine NAPOLA, eine politische Kaderschule, zu geben; eine Erfahrung, die den Autor der Jahrestage auch vor jeder Form der kollektiven »Erkenntnistherapie« zurückschrecken ließ. Ulrike Meinhof war in einer Familie aufgewachsen, in der mit dem unpolitischen Protestantismus des Vaters eine opportunistische Parteizugehörigkeit verbunden war. Schon als Studentin zeigte sie ein ausgeprägtes Misstrauen gegen nationalsozialistische Residuen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Als Einzige der vier Porträtierten zog Ulrike Meinhof auch äußerlich radikale Konsequenzen.

       III.

      Allen gemeinsam ist ein Leiden an der ungerechten Welt, die im »Jahrhundert der Extreme« nach dem Ersten Weltkrieg nochmals in eine weltumspannende Katastrophe stürzte, die alles bisherige Unglück weit übertraf. Sie sind »Intellektuelle« in einem geistesgeschichtlich deutschen Sinn. Max Weber hatte als Diagnostiker der Moderne um 1900 den Begriff aufgegriffen, der in der französischen Dreyfus-Affäre geprägt worden war. Seine Bestimmung geht über den luziden Gebrauch der Vernunft hinaus, der hilft, rationale Widersprüche zu erkennen und zu beheben. Zusätzlich sei der Intellektuelle jemand, der eine »innere Nötigung« empfinde, »die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können«. Dies sagte Weber gerade aufgrund seiner soziologischen Skepsis gegenüber politischen Philosophien der Geschichte, die bald verheerende Wirkungen zeitigen sollten.

      Ein Jahrhundert vor ihm hatte Hegel im deutschen Idealismus die Grundlagen für diesen Typus des Intellektuellen geschaffen, der sich – so seine Phänomenologie des Geistes – durch ein »unglückliches Bewusstsein« auszeichne. Dessen historischen Unterbau bezeichnen seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Dort spricht Hegel von der »Geschichte als Schlachtbank« und führt seinen Hörern aus, was dem Menschen an Schrecklichkeit bewusst werden könne und müsse: »Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, […] wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden und, indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über solches Schauspiel enden.« Hegel drängte es, die »schöpferische Vernunft« als eine zu betrachten, der eine ungeheure Aufgabe gestellt ist: »daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte«. Denn: »In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis als in der Weltgeschichte.«

      Diese Philosophie der Geschichte prägte die deutschen Intellektuellen erneut seit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs über Generationsgrenzen hinweg. Vor und neben Arendt sind Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Herbert Marcuse und Georg Lukács zu nennen. Dabei verwandelten die unterschiedlichen Interpretationen Hegels Vorstellung, in der Idee des »objektiven Geistes« das auf dem Bewusstsein lastende Geheimnis der furchtbaren Geschichte lösen zu können, in einer Vielzahl von Entwürfen ästhetischer, philosophischer und politischer Art. Arendt unterscheidet in Menschen in finsteren Zeiten sehr fein die theoretischen Versuche, die Wirklichkeit versöhnend auf den Begriff zu bringen, von der praktischen Ambition, sie revolutionär umzugestalten, um endlich das Übel zu beseitigen. Hegel selbst schwärmte teilweise von einem »welthistorischen Individuum« und der notwendigen Rücksichtslosigkeit seines Vorgehens: »Aber solche große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf dem Weg.« Arendt zufolge habe sich Hegel jedoch – nachdem ihm die jugendliche Begeisterung für die geschichtliche Praxis angesichts der desaströsen Folgen der Französischen Revolution vergangen sei – in die Vorstellung einer rein theoretischen, auch Kunst und Literatur umfassenden Versöhnung zurückgezogen: »Weltgeschichte, Weltgeist und Menschheit haben, trotz der starken politischen Impulse des jungen Hegel, kaum irgendwelche politische Bedeutung in Hegels Werk. […] Nur bei Marx gewann der Hegelsche Geschichtsbegriff politische Relevanz, und dies nur, weil Marx Hegel ›vom Kopf auf die Füße stellte‹, das heißt das Interpretieren von Geschichte in ein Geschichte-›machen‹ umwandelte.«

      An der intellektuellen Biographie von Georg Lukács lässt sich der Weg von der Theorie in die Praxis veranschaulichen, den in der 68er-Bewegung so viele suchten und den Ulrike Meinhof in seltener Radikalität ging. Denn erst angesichts der Russischen Revolution fasst Lukács 1917/18 den Mut, mit Marx seinen Hegel objektiv zu lesen und die Zweifel der bürgerlichen Subjektivität hinter sich zu lassen, die er zuvor im Heidelberger Zirkel um Max Weber – auch im kontroversen Gespräch mit Karl Jaspers – kultiviert hatte. Lukács war ein Idealtypus des modernen Intellektuellen, der eine »innere Nötigung« verspürte, die Geschichte sich sinnvoll schließen zu lassen, und der bei Hegel die begrifflichen Instrumentarien fand, diesem Bewusstsein Ausdruck zu verleihen. In der Folge wurde er zum intellektuellen Kopf des Klassenkampfes, der sich durch alle »Säuberungen« in der Sowjetunion retten konnte, auch wenn die Realität der Verhältnisse Lukács nach der Ungarischen Revolution 1956 schier überrollte und ihn zur nur mehr geduldeten Randfigur im System werden ließ.

      Ulrike Meinhof begann ihre intellektuelle Biographie ebenfalls unter dem Einfluss eines Lehrers, der mit Jaspers und Weber eine an Kierkegaard, einem Widersacher Hegels, orientierte Philosophie der gehaltvollen Subjektivität vertrat. Dass sie vom existentiellen Denken abkam und zuletzt den Weg in die politische Radikalität wählte, lag nicht zuletzt an dem charismatischen Rudi Dutschke, der angesichts des revolutionären Erfolgs Fidel Castros sowie der dynamischen Kulturrevolution Maos einen neuen Glauben formuliert hatte, der bar einer strengen Systematik durch den rhetorischen Glanz der revolutionären Emphase zu überzeugen wusste. Diese Einflüsse und Gedankengänge befreiten Meinhof endgültig von der verlogenen Bürgerlichkeit und wiesen die Bahn, auf der sie meinte, das geschichtliche Unglück mit wenden zu können. Nach der Gründung der RAF schlug sich ihre gewaltbereite Gewissheit in Das Konzept Stadtguerilla nieder.

       IV.

      Der Graben, der Ulrike Meinhof als spätere Terroristin von den drei Schriftstellern trennt, scheint kaum überbrückbar. Jedoch verstand es ein prominenter Vertreter des deutschen literarischen Lebens, der sowohl mit Ulrike Meinhof als auch mit Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson vertraut war, Revolution und Literatur wortgewandt zu verbinden. Es ist der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der in der 1968er-Bewegung die sprachlich suggestive Verbindung zwischen dem politischen und ästhetischen Engagement bildete. In seinen späten Erinnerungen Tumult weist er ausdrücklich auf die »Traditionen des deutschen Idealismus« hin, die zu kennen zum Verständnis der Zeit nötig sei.

      Enzensberger begründete 1965 mit dem Kursbuch im Suhrkamp Verlag das literarisch führende Periodikum der revolutionären Begeisterung. So hieß es 1968 in


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