Die Verunglückten. Matthias Bormuth
Die im Kursbuch abgedruckten Essays, Erzählungen, Studien und Gedichte wollten auch die beschämende Lehre der jüngsten Geschichte nutzen, um es besser als die Väter zu machen. Seine Verse, so etwa das Gedicht »an einen mann in der trambahn«, waren gegen das kollektive Vergessen gerichtet: »und ich sehe narben, / die du nicht siehst […] und ich sehe den mord in deinem aug, in der trambahn, mir gegenüber«. Der Vietnam-Krieg und die grausame Rolle der Amerikaner, die sich vom Befreier zum Unterdrücker gewandelt hatten, taten ein Übriges, um den Zorn Enzensbergers zu entfachen. Zuletzt war er auch am Kampf um gerechte Verhältnisse beteiligt, der 1968 die revolutionären Impulse bis in den eigenen Verlag trug. Als Siegfried Unseld in Frankfurt den »Aufstand der Lektoren« geschickt ausbremste, wechselte das Kursbuch zu Klaus Wagenbach nach West-Berlin, dem Zentrum der APO. Enzensberger war dort über seine geschiedene Ehefrau Dagrun und seinen Bruder Ulrich persönlich mit der legendären Kommune 1 verbunden und nahm an einer ihrer spektakulären Aktionen auf dem Kürfürstendamm teil.
In Tumult stellte sich Enzensberger selbstironisch der peinlichen Frage: »Und bei diesem Theater hast du mitgespielt?« Mit Witz versucht sein innerer Dialog Distanz zu den »ärgsten Blamagen« der revolutionären Jahre zu demonstrieren, zu denen auch der mehrmonatige Aufenthalt auf Kuba gehörte, der 1968 der medienwirksamen Aufkündigung eines großzügigen Stipendiums einer amerikanischen Universität folgte. In den Jahrestagen verewigte Uwe Johnson die zugehörige Notiz der New York Times: »Der deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger hat ein Stipendium an der Universität Wesleyan aufgegeben mit einem Trompetenstoß gegen die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten und mit einem Heil für Cuba, wo er nach seinen Worten leben will.« Anerkennend kommentiert der späte Enzensberger: »Johnson war boshaft, aber nicht in allen Punkten hat er unrecht behalten. Das muß ich ihm lassen.«
Aber bei aller Nähe, die Hans Magnus Enzensberger vor allem in verbalen Aktionen zum revolutionären Aufbruch zeigte, gelang es ihm, als die Bewegungen der APO wieder verebbten, lebensklug in die Reserve zu gehen. Aus dieser Position beobachtete er teilnahmsvoll die Ursprungsszene der Roten Armee Fraktion. Tumult erscheint hierin als literarische Chronik des Unglücks, das die revolutionäre Emphase über Ulrike Meinhof brachte. In schillernden Wendungen gesteht Enzensberger, direkt nach der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders die Flüchtenden kurz beherbergt, aber die Einladung, am Sturz des »Systems« aktiv mitzuwirken, später unter konspirativen Umständen ausgeschlagen zu haben. Er schließt diese Passage: »Bis zu ihrem Selbstmord habe ich nie wieder von der bedauernswerten Ulrike Meinhof gehört.«
Der Historiker Wolfgang Kraushaar hat der 68er-Generation luzide das »Vexierbild« Enzensberger erschlossen und unterstrichen, dass Jürgen Habermas Enzensberger vor allem in der Rolle des »Harlekin« sah. Die »artistische Leichtigkeit«, mit der sich der Schriftsteller auf den verschiedenen Bühnen bewegte, ist ein Phänomen für sich. Tumult enthält das schwache Bekenntnis: »[E]inen Rest von Komplizentum konnte und kann ich nicht abstreifen. Jeder, der in das Durcheinander verwickelt war, haftet mehr oder weniger mit.«
V.
Auch wenn Jean Améry, Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson den kollektiven Kampf um die gesellschaftliche Umwälzung der Verhältnisse aus wesentlich größerer Entfernung nicht ohne innere Leidenschaft und Teilnahme beobachteten, entwickelten sie nie solch »konkrete Utopien«. Ihre Nähe zu Ernst Bloch und seinem Prinzip Hoffnung bestand vielmehr darin, dass sie im Unglück der Zeit als Schriftsteller vor allem individuell-literarische Gestalten der Erlösung suchten. Jean Améry strebte mit seinen zeitkritischen Essays die Versöhnung zwischen jüdischen Opfern und deutschen Tätern an, selbst ahnend, dass sein prophetischer Versuch, der traumatischen Geschichte nachträglich Sinn zu verleihen, sich als vergeblich erweisen könnte. Ingeborg Bachmann zelebrierte, angeregt durch die Lektüre Robert Musils, literarisch schon früh den »anderen Zustand«, der jedoch als »mystisches« und »ekstatisches« Erlebnis keine unmittelbaren politischen Folgen hatte. Einzig in der Begegnung mit Paul Celan und seiner Dichtung schien ihr eine Form der persönlichen und gedanklichen Erlösung angesichts des Holocaust für Momente möglich zu sein. Später suchte Bachmann als Gegenpol zu ihrer Rationalität nicht nur im Projekt der Todesarten ästhetische Zuflucht. Immer öfter strebte sie jenseits der Worte ekstatische Zustände durch erotische Erlebnisse und lebenszerstörende Drogen an. Uwe Johnson war ein exzessiver Alkoholiker, der besorgte Stimmen mit der Auskunft beruhigte, er wisse zu viel. Gleichwohl blieb ihm die Literatur ein Medium, der politischen Sehnsucht nach einer gerechteren Welt Ausdruck zu geben. Nachdem der Prager Frühling, seine dezente Utopie, erstickt worden war, setzte Johnson dem »Manifest der Zweitausend Worte« im Epos der Jahrestage ein literarisches Denkmal und schloss mit den Worten: »Wenn ihr wissen wollt, was an Sozialismus möglich ist zu unseren Zeiten, lernt Tschechisch, Leute!«
Worin damals intellektuell der Unterschied zwischen diesen drei Schriftstellern und Hans Magnus Enzensberger lag, der wesentlich stärker das Anliegen von Ulrike Meinhof teilte, lässt sich gut an seiner Begegnung mit Hannah Arendt veranschaulichen. Sie hatte Enzensberger schätzen gelernt, als er seine fulminante Kritik an der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess formuliert hatte. Er wiederum hatte als junger Mann begeistert Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen, das ihn davor bewahrt habe, dem naiven Glauben an die östliche Sache zu verfallen. Aber nachdem sie sich 1965 in New York in Arendts Wohnung in der Upper West Side Manhattans persönlich begegnet waren, blieb es bei diesem einen höflichen Treffen. Arendt konnte sich später für eine Besprechung im Merkur »nicht Enzensberger oder einen der eingeschworenen Marxisten« vorstellen, wie sie deutlich an dessen Herausgeber schrieb. Dass sein Gespräch mit Hannah Arendt gescheitert war, rückte Enzensberger auf Nachfrage ihres Biographen Thomas Wild in ein mildes Licht; es komme nicht darauf an, »in Arendts Wohnung zu sitzen«: »Was Hannah Arendt mir zu sagen und zu geben hatte, stand in ihren Büchern.«
Dagegen war Hannah Arendt begeistert von Ingeborg Bachmann, die sie sich nach dem Treffen im New Yorker Goethe-Haus als deutsche Übersetzerin von Eichmann in Jerusalem wünschte: »Wir denken in vielen Dingen ähnlich und sie wird nicht so schockiert sein wie vielleicht mancher andere.« Auch Uwe Johnson folgte nicht dem Zeitgeist des emphatischen Theoretisierens, das die deutschen Intellektuellen zu Arendts Bestürzung so mochten. Im Mai 1965 schrieb sie ihrem Lehrer Karl Jaspers: »A propos deutsche Schriftsteller: Sind augenblicklich alle hier, Grass und Johnson habe ich kennengelernt, darüber mündlich. Und Enzensberger ist im Anzug. Der Mangel an gesundem Menschenverstand ist oft zum Verzweifeln.« Durch den Kreis der New York Intellectuals war Arendt einen angelsächsischen Liberalismus und Pragmatismus gewohnt, dem seit Stalins Moskauer Prozessen jedes Liebäugeln mit dem Marxismus als politischer Utopie naiv erschien.
Allerdings hatte Arendt 1968 einige Sympathie für die rauschhafte Begeisterung im Pariser Mai, die Daniel Cohn-Bendit, ein Sohn guter Freunde, mit ausgelöst hatte. Sie mochte die subversive Infragestellung erstarrter Strukturen im Geiste einer offenen Räterepublik. Selbst Elias Canetti schilderte die beeindruckende Bewegung, die ihm gerade an der Sorbonne begegnet war: »Die Fenster oben von jungen Menschen besetzt, ein rotes Halstuch um das steinerne Standbild Victor Hugos. Junge Anarchisten rufen ihre Zeitung aus. Atmosphäre von Freiheit, in der jeder zur Rede kommt, niemand mundtot gemacht wird, jede angehört wird.« In Über die Revolution hatte Hannah Arendt einige Jahre vor den revolutionären Aufbrüchen der Studenten die Leistungen der amerikanischen Gründerväter in Erinnerung gerufen. Diese hatten in ihrer demokratischen Verfassung um 1776 dezentrale Strukturen vorgesehen, um unabhängige Meinungsbildungen innerhalb eines pluralen Gemeinwesens zu ermöglichen und so die relative Ordnung des freiheitlichen Individualismus zu sichern. Zu Zeiten des Vietnam-Krieges demonstrierte gerade die studentische Protestbewegung für Arendt erneut die vitale Stärke des revolutionären Erbes der Väter. Im Mai 1966 schrieb sie Jaspers aus Chicago: »Die Studentenunruhen […] waren eigentlich sehr erfreulich. […] Man hat nicht die Polizei gerufen und den Studenten nicht gedroht. Nach drei Tagen sind sie freiwillig wieder abgezogen, haben die ganze Zeit hindurch diskutiert und sich streng an alle parlamentarischen Spielregeln gehalten. Jeder kam zu Wort, jeder wurde gehört, niemand wurde ausgepfiffen, alle Anträge wurden ordnungsgemäß gestellt – kurz, es war in keinem Augenblick ein Mob.«