Die Verunglückten. Matthias Bormuth

Die Verunglückten - Matthias Bormuth


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Studentenschaft boten. Der österreichische Jude hatte am eigenen Leibe die Qualen erlebt, die eine ideologische Revolution ganz anderer Art in Deutschland über ihn gebracht hatte. Sein Votum entsprach dem, was Jürgen Habermas in der frühen Hochphase der Studentenbewegung als »Linksfaschismus« bezeichnet hatte. Enzensberger gibt in Tumult Einblick in die oft naive bis blindgläubige Parteigängerschaft, der er früher diplomatisch einigen Tribut gezollt hatte, etwa wenn er ein Gespräch mit seiner norwegischen Frau Dagrun erinnert: »Das Bedürfnis nach Religion kann aller Zweifel Herr werden. Mit steinernem Gesicht erklärte dieses zarte Geschöpf mir, die Moskauer Prozesse seien ein Muster der Volksjustiz gewesen, ganz zu schweigen von Trotzki – diesem Verräter sei ganz recht geschehen. Nur die bürgerliche Propaganda verleumde den Kameraden Stalin. Die russischen Kommunisten, die im Gulag zugrunde gegangen sind, seien Volksfeinde gewesen, Revisionisten, Spione. Gewiß hätten übereifrige Funktionäre einzelne Fehler gemacht, aber davon habe Stalin nichts gewußt. Der diabolus ex machina trug in dieser Version den Namen Chruschtschow. Erst mit ihm habe die Agonie der Oktoberrevolution begonnen.«

      Dass Hans Magnus Enzensberger sich in jenen Jahren nicht entscheiden konnte, seine Sympathien für revolutionäre Formen der Beglückung gänzlich aufzugeben, ist ihm im Rückblick peinlich. Tatsächlich entwickelte er in seiner »zweideutigen Haltung«, dem »Doppelleben«, wie es in Tumult heißt, nie die persönliche Haftbarkeit des Denkens, die Hannah Arendt bei Ingeborg Bachmann und Uwe Johnson schätzte und die auch Jean Améry mit ihnen verband. Aber Enzensbergers Kunst, sich dem existentiellen Ernst zu entziehen, sobald er zu tief ins eigene Leben einschnitt, bewahrte ihn auch davor, die Radikalisierung in der Tat mitzuvollziehen, die er im Wort so leidenschaftlich gepriesen hatte. Ein Dokument seiner schillernden Ambivalenz ist der Brief, den er Ulrike Meinhof schickte, bevor diese endgültig den Weg des gewaltsamen Kampfes wählte. Enzensberger gibt sich noch den opaken Anschein des Revolutionärs und deutet doch an, wie fern er inwendig dem Tumult schon gerückt war: »Heute, am dritten Adventstag 1969, ist es hier so: die Frankfurter Marxisten-Leninisten haben sich in ML-1, ML-2 und ML-3 aufgespalten. Das Geld wirbelt auf den Straßen herum, und in den Kaufhäusern brüllen die Leute, mit Weihnachtspaketen behangen. Die Befreiung der Menschheit macht große Fortschritte: Pornographie und Mao, alles auf eine Wand geklebt. Niemand weiß mehr, was wahr und was gelogen ist, es geht durcheinander wie ein Haschisch-Bild. […] Ich bin jetzt uralt, aber springe herum wie ein Heupferd. Jeden Tag kommen neue Bücher. Ich habe fast aufgehört, sie zu lesen. […] Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir uns nicht umbringen lassen sollten. Meistens weigere ich mich sogar, mich zu ärgern.« Im milden Blick zurück gesteht der altersweise Enzensberger zu, dass schon damals sein revolutionäres Kostüm fadenscheinig geworden war: »Natürlich ahnten die intelligenteren Häuptlinge unter den politischen Köpfen, daß auf einen Schriftsteller, auch wenn er den Mund voll nimmt mit politischen Phrasen, im Grunde kein Verlaß ist.«

       VI.

      Die Figur des Harlekins, die Enzensberger für Jürgen Habermas im Schauspiel der Revolution dargeboten hatte, gilt ikonographisch als Gestalt einer hintergründigen Nachdenklichkeit. Im Maskenspiel spricht der Harlekin der Zeit das Urteil, scheinbar ohne letzten Ernst. Die Passionsfigur dagegen bedeutet kunstgeschichtlich eine altmeisterlich frühere und vertrautere Gestalt, deren Melancholie sich am eigenen und fremden Leid entzündet. Ikonographisch gründet sie in der religiösen Tradition; die Leidensgeschichte Christi wurde in der Neuzeit zunehmend sublimer mit der realistischen Anschauung von Landschaft und Leben der Menschen verknüpft, so dass später das Leiden in ferneren symbolischen und allegorischen Bildern seinen Ausdruck erlangte, bis hin zu gänzlich säkularen Gestalten. Gleichwohl blieb die ikonographische Strahlkraft der klassischen Passion bestehen, für die Moderne wohl am stärksten ersichtlich in der Wirkung, die Matthias Grünewalds Isenheimer Altar nach dem Ersten Weltkrieg auf Künstler aller Genres ausgeübt hatte. Exemplarisch schrieb Elias Canetti über seinen Besuch in Colmar: »Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grauen abgewandt hätte, das war im Bilde noch aufzufassen, eine Erinnerung an das Entsetzen, das die Menschen einander bereiten. […] Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen.«

      Um 1968 wurde Che Guevara in vielfacher Überblendung mit dem leidenden Christus, der ebenfalls für die Armen und Rechtlosen gestorben war, zur führenden Ikone der Revolution, die weltweit gleichsam als Monstranz der guten Sache diente. Der Kunsthistoriker David Kunzle hat jüngst entlang eines ganzen Kaleidoskops an vergleichenden Bildern diesen Chesucristo. Die Fusion von Che Guevara und Jesus Christus beschrieben. In Tumult finden sich solche Bilder des heroischen Guerilla-Führers öfter, die Che auch zum beliebten Idol der Sprayer in New York werden ließ. Die Geschichte eines jungen Bauern, der in Italien begeistert das Konterfei des Guerilla-Führers trägt und sich in Kuba das Leben nimmt, erzählt Enzensberger dazu en passant.

      In Deutschland wurde Rudi Dutschke mit seiner großen Nähe zum politisch engagierten Protestantismus zu einer vergleichbaren Gestalt. Denn nach dem Attentat auf ihn zu Ostern 1968 betrachtete man auch ihn wie Che als leidensbereiten Kämpfer für die gute Sache. Auch der Freitod Ulrike Meinhofs im Mai 1976 im Gefängnis Stammheim lässt sich im Horizont dieser politischen Ikonographie deuten. Dabei hatte sich die Studentin – angeregt durch das Interesse an den Alten Meistern und der barocken Lyrik, die der Vater als traditionsbewusster Kunsthistoriker und frommer Christ früh in Meinhof geweckt hatte – schon in ihren kunst- und literaturhistorischen Studien lange mit der Passionsgeschichte beschäftigt.

      In ganz anderer Deutlichkeit entfaltet der katholisch erzogene Jean Améry zwei Jahre nach Meinhofs Tod in dem Essay Mein Judentum säkularisierte Gedanken einer jüdisch-christlichen Passionsfigur: »Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken – bis zum allerbittersten Ende. Ich trank. Und dies wurde mein Judesein. Das Judentum war eine andere Sache. Mit ihm hatte ich nichts zu tun.« Die Erfahrung des Holocaust wird ihn im Herbst 1978 einholen. Jean Améry nimmt sich in Salzburg das Leben und wird zur modernen Passionsfigur wider Willen.

      Auch Uwe Johnson exponiert in seinen Jahrestagen das Passionsmotiv. Gesine Cresspahl leuchtet dessen religiöse Erklärung im protestantischen Konfirmationsunterricht nicht ein. Johnsons Heldin lehnt Tod und Sühne als dogmatisches Modell ab, das helfen soll, mit der Geschichte fertig zu werden. Dagegen hält Gesine es strikt mit der aufklärerischen Notwendigkeit, »mit Kenntnis zu leben«. Ihre übergewissenhafte Mutter dagegen, die schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hat, wählt in der Nacht vom 9. November 1938 in einer Scheune den Verbrennungstod, nachdem ein jüdisches Mädchen erschlagen worden war. Johnson lässt es offen, ob ihr Tod Ausdruck eines irregeleiteten Gewissens oder vielmehr, wie der Pastor es will, als politisch bewegtes Selbstopfer zu sehen ist, das zugleich eine aktive Sühne im Sinne Jesu bedeute. Vor Abschluss der Jahrestage ließ Johnson in der autobiographischen Skizze eines Verunglückten sein Alter Ego den Selbstmord vergeblich suchen. Nur ein »Ableben« war dem Protagonisten möglich, das vor allem der quälenden Erinnerung an das persönliche Unglück geschuldet war, in das ihn das Eheleben nach Jahren vermeintlichen Glücks gestürzt hatte. Johnson selbst starb drei Jahre später, als das große Epos endlich beendet war, an den Folgen des jahrelangen Alkoholexzesses, dem er sich in der Einsamkeit der englischen Jahre hingegeben hatte. Das suizidale Denken, das im Werk in vielfachen Nuancierungen anklang, holte Johnson in dieser protrahierten Form der Selbstzerstörung endgültig ein.

      Auch bei Ingeborg Bachmann ist im schriftstellerischen Bewusstsein der Holocaust präsent. In ihrem Hauptwerk Malina quälen das »Ich« schreckliche Träume vom Tod in den Gaskammern. Bachmann imaginiert das Schicksal des Verbrennungstods in dem Roman sowie in einer anderen Erzählung. Tatsächlich erlag die Dichterin im Oktober 1973 den Verbrennungen, die sie sich in einem narkotischen Zustand nach Tablettenmissbrauch zugezogen hatte. Seit einem frühen Essay über Simone Weil war die Figur des Heiligen, der dem Unglück der Wirklichkeit mit der Konsequenz seines tödlichen Martyriums begegnet, in ihrem Werk präsent, auch wenn Bachmann selbst das Lebensglück durchaus zu genießen wußte. Die Freundschaft zu Hans Magnus Enzensberger blieb bis zuletzt ungebrochen, gerade weil Bachmann unter anderem darauf verzichtete, von den »vielen Liebhaber[n]« zu berichten, »die sie ertrug«, so der Autor in seiner späten »Vignette«. Dabei habe sie »von ihren Fluchten, ihren Depressionen und von den langen


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