Wien. Dietmar Grieser

Wien - Dietmar Grieser


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(und wie man gleich sehen wird: nach wie vor Begehrten), kommt es in dessen Palais am Rennweg noch zu einer letzten spektakulären Begegnung, die, von der Enkelin des Hausherrn, Pauline Metternich, heimlich belauscht, in der Folge eine Menge Staub aufwirbeln wird: Kaiser Franz Joseph, von seinen außenpolitischen Einflüsterern in eine ausweglose Lage manövriert, sucht Rat, und er tut es zu ungewöhnlicher Stunde. Notorischer Frühaufsteher, der er ist, fährt er zwischen 5 und 6 Uhr beim Palais Metternich vor, im Morgengrauen kann man die beiden Gestalten, den knapp 86-Jährigen auf den Arm des 28-Jährigen gestützt, über die Parkwege schreiten sehen.

      Zwei Monate darauf stirbt Metternich, vom Leibarzt Jäger, seinem langjährigen Vertrauten, bis zum letzten Atemzug umsorgt.

       Der Kammerdiener Seiner Majestät

       Jean Baptiste Cléry

      Wien ist reich an ungewöhnlichen Friedhöfen. Und an ungewöhnlichen Gräbern. Dieses aber ist unter ihnen allen eines der ungewöhnlichsten: Es befindet sich in einer der älteren Abteilungen des Hietzinger Friedhofs, trägt die Nummer III/6 und ist, ansonsten schmucklos, mit einem Stein aus dunkelgrauem Granit ausgestattet, der dem Besucher nicht weiter auffiele, wäre da nicht, schon stark verwittert, die geheimnisvolle Inschrift: »Le fidèle Cléry, dernier serviteur de Louis XVI.«

      Des Französischen Unkundige haben in den Sterbematrikeln aus dem Adjektiv »fidèle« den Vornamen »Fidèle« gemacht, doch einen Mann dieses Namens gab und gibt es nicht. Der hier seit dem 27. Mai 1809 unter der Erde ruht, heißt mit vollem Namen Jean Baptiste Cléry. Um seine irrtümlich verschleierte Identität zu klären, genügt es, die 1848 erneuerte Grabinschrift zu entziffern und mit Sorgfalt ins Deutsche zu übersetzen: »Der treue Cléry, letzter Kammerdiener Ludwigs XVI.«

      Ludwig XVI. – das ist der mit der Österreicherin Marie Antoinette vermählte Franzosenkönig, der, neun Monate vor dieser, auf dem Schafott des Revolutionstribunals hingerichtet wird. Wie kommt sein Domestik nach Wien?

      Ludwig XVI., König von Gottes Gnaden, ist 28 und seit acht Jahren auf Frankreichs Thron, als Jean Baptiste Cléry, aus der Gegend um Versailles stammend und fünf Jahre jünger als Seine Majestät, in dessen Dienste tritt. Als im Sommer 1792 die Tuilerien gestürmt und die königliche Familie im »Temple«, jener düsteren Zwingburg in der Gegend der heutigen Place de la République, festgesetzt wird, begleitet Cléry den König (den die Revolutionäre Louis Capet nennen), die Königin, den kleinen Dauphin, Tochter Marie Thérèse sowie Madame Elisabeth, die Schwester des Königs, auf deren Weg in die Gefangenschaft.

      In den den königlichen Arrestanten zugewiesenen Räumlichkeiten im dritten und vierten Stock des im 13. Jahrhundert von den Tempelrittern errichteten und seit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 leer stehenden Gebäudekomplexes außerhalb der Pariser Stadtmauern sorgt der seinem Herrn unterwürfig ergebene Cléry für das leibliche Wohlbefinden des Königs – bis zu dessen letztem Atemzug auf der Guillotine. Zwei Tätigkeiten sind es insbesondere, die dem sensiblen Mann nahegehen: Er soll Seiner Majestät die schon fadenscheinig werdende Kleidung in Ordnung halten, und er muss ihm, da im Temple strengstes Messer- und Gabelverbot besteht, das Essen vorschneiden.

      Während dieser fünf Monate wird der inzwischen 33-Jährige – neben den Mitgliedern der königlichen Familie – zum engsten Vertrauten des todgeweihten Monarchen: Sein Bett steht neben dem des Königs. In seinem »Tagebuch über die Vorgänge im Temple während der Gefangenschaft von Louis XVI.«, das ihn später berühmt, ja sogar zu einem reichen Mann machen wird, wird er über den Alltag im Gefängnis aussagen:

      »Der König stand gewöhnlich um 6 Uhr morgens auf; er rasierte sich selbst, dann frisierte ich ihn und half ihm beim Ankleiden. Gleich darauf ging er ins Lesezimmer. Weil dieser Raum sehr klein war, blieb der Kommissar im Schlafzimmer – jedoch bei halboffener Tür, um den König ständig beobachten zu können. Seine Majestät betete kniend fünf bis sechs Minuten lang, anschließend las er bis 9 Uhr. Inzwischen räumte ich sein Zimmer auf, deckte den Tisch fürs Frühstück und ging sodann hinunter zur Königin. Ich frisierte den kleinen Prinzen, half der Königin bei der Toilette und begab mich in das Zimmer von Madame Royale und Madame Elisabeth, um diesen den gleichen Dienst zu erweisen. Dieser Augenblick der Toilette bot Gelegenheit, die Königin und die Prinzessinnen von Dingen, die ich erfahren hatte, in Kenntnis zu setzen. Ein Zeichen von mir machte deutlich, daß ich ihnen etwas zu sagen hätte; daraufhin begann eine von ihnen ein Gespräch mit dem Kommissar und lenkte diesen dadurch ab. Um 10 Uhr ging Seine Majestät ins Zimmer der Königin hinunter und verbrachte dort mit seiner Familie den Tag. Er widmete sich der Erziehung seines Sohnes, ließ diesen einige Stellen aus Corneille und Racine aufsagen oder gab ihm Geographiestunden und Anweisung im Kartenzeichnen. Die Königin befaßte sich ihrerseits mit der Erziehung ihrer Tochter. Danach wurde genäht, gestrickt oder gestickt. Um 1 Uhr ließ man die königliche Familie bei Schönwetter in den Garten gehen, und ich spielte bei dieser Gelegenheit mit dem kleinen Prinzen Ball oder mit der Wurfscheibe, ließ ihn laufen und andere Übungen machen. Um 2 Uhr gingen wir in den Turm zurück, wo ich das Mittagessen servierte.«

      In diesem Stil geht es in Clérys Protokoll weiter – bis zur Schilderung der Nachtruhe, die König und Kammerdiener Seite an Seite genießen. Auch sonst ist man gewohnt, alles miteinander zu teilen, und eines Morgens, als Cléry infolge eines Versäumnisses seiner Aufpasser beim Frühstück leer ausgeht, reicht ihm der König eine Hälfte seines Brotes: »Nehmen Sie dies, mir genügt der Rest.« Cléry lehnt das Angebot beschämt ab, doch der König besteht darauf.

      »Da konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, und als Seine Majestät dies bemerkte, ließ auch er den seinen freien Lauf.«

      Die Stunde der Hinrichtung naht, Louis XVI. setzt sein Testament auf. Jean Baptiste Cléry, »der sich aus wahrer Anhänglichkeit zu mir an diesem Ort hat einschließen lassen, obwohl er fürchten mußte, Opfer seiner Treue zu werden«, möge man, so verfügt Seine Majestät, »meine Kleider, meine Bücher, meine Uhr, meine Börse und die anderen Kleinigkeiten aushändigen, die bei der Kommission deponiert worden sind«.

      Am frühen Morgen des Hinrichtungstages ministriert Cléry dem Gefängnisgeistlichen bei der letzten Messe; kniend nimmt der Diener den Segen seines Königs entgegen. Die beiden letzten Handreichungen, die sich dieser von seinem treuen Gefolgsmann erbittet, scheitern am Einspruch des Aufsichtspersonals: Weder darf er dem König, wie dieser es wünscht, die Haare schneiden, noch darf er ihm auf dem Schafott aus den Kleidern helfen. Lakonischer Bescheid des Kommissars: »Der Henker ist gut genug für ihn.«

      Letzter Eintrag in Clérys Tagebuch: »Ich blieb allein im Zimmer zurück, von Schmerz übermannt und beinahe von Sinnen. Trommeln und Trompeten verkündeten, daß Seine Majestät den Turm verlassen hatte. Eine Stunde später hörte man Artilleriesalven und Rufe ›Es lebe die Nation! Es lebe die Republik!‹ Der beste aller Könige war nicht mehr …«

      Jean Baptiste Cléry, schon vor der Revolution in königlichen Diensten, darf bei den neuen Herren mit keinerlei Nachsicht rechnen: Bis 1. März im Temple unter Arrest gestellt, wird er sechs Monate später auf seinem Landsitz, wohin er sich nach seiner Entlassung zurückgezogen hat, aufs Neue verhaftet und für die Dauer eines Jahres eingesperrt. 13-mal auf die Liste der Hinzurichtenden gesetzt, wird sein Name gleichwohl regelmäßig von unbekannter Hand gelöscht, und nach dem Sturz Robespierres im August 1794 geht Cléry endgültig frei.

      In Straßburg, wo sein älterer Bruder ein Handelshaus unterhält und als Armeelieferant gut im Geschäft ist, findet er als Rechnungsprüfer Unterschlupf, gleichzeitig beginnt er mit der Abfassung seiner Erinnerungen an jene fünf Monate im Temple; ein verschwiegener Schreiber geht ihm dabei zur Hand. Als das Gerücht aufkommt, Madame Royale, die Tochter »seines« Königs, solle im Austausch gegen französische Gefangene auf österreichisches Gebiet entlassen werden, unternimmt Cléry alles, sich ihr anzuschließen und fortan Prinzessin Marie Thérèse zu dienen. Nur – so einfach ist das nicht. Erstens zieht sich das Austauschverfahren in die Länge, zweitens hat er weder Pass noch Geld, und drittens müsste er seine Familie – Frau und drei Kinder – in Frankreich zurücklassen. So schickt ihn sein Bruder zum Schein auf Geschäftsreise in die Schweiz, und


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