Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat - Demian Lienhard


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allmählich zum Guten wandte, haben sie mich auf den Flur gelassen. Stets mit von der Partie: Hugo. Sicher, Hugo war ungefähr so cool wie ein offener Wadenbeinbruch, aber er war mein bester Freund, bevor ich Jack kennengelernt habe. Hugo ist das Stahlgestell, mit dem ich die Kochsalzlösung neben mir herschob.

      Hugo und ich waren unzertrennlich. Manchmal habe ich ihn ausgeführt. In die anderen Stockwerke. Chirurgie, Onkologie, Dialyse. Ab und an haben wir uns ein paar Fritten gegönnt in der Cafeteria. War natürlich verboten, aber musste ja keiner wissen. Hugo jedenfalls hat eisern geschwiegen.

      Und dann steht da auf einmal Jack. Es ist einer der ersten Sonnentage. Obwohl die Wege noch vereist sind, schleiche ich hinaus in den Park. Und unten an der Bushaltestelle, da glitzert ein metallicgrüner Flitzer in der Haltebucht. Jack, so der Lässige, lehnt dagegen und zwinkert mir zu. Dann geht sein Blick eine Etage tiefer.

      – Happiness is my blue potato, sagt er und deutet auf meine Brüste.

      Ich schaue ihn fragend an.

      – Steht auf deinem Pulli.

      Ich nicke. Das heißt ungefähr so viel wie: Schon klar, du Depp.

      – Was dagegen?, frage ich.

      Jack schüttelt den Kopf. Er überlegt. Er sagt nichts. Dann sagt er doch etwas:

      – Willst ne Runde?

      – Mit dieser Rostlaube?

      Jack zuckt mit den Schultern.

      – Na und wenn schon.

      Das überzeugt mich.

      Wir wollen uns also hineinsetzen, Hugo und ich, aber Jack hat was dagegen. Jack, muss man wissen, ist eher einer von der eifersüchtigen Sorte.

      – Hugo ist mein bester Freund. Uns gibt’s nur im Doppelpack, sage ich und schlage mit meiner Rechten freundschaftlich gegen die Stahlstange.

      Jack sieht: Da ist nichts zu machen. Er hebt die Schultern. Das soll wohl heißen: Von mir aus.

      Und dann geht’s also los. Ich auf dem Beifahrersitz, Hugo auf der Rückbank. Im Affenzahn blochen wir ein paar Runden um die Wäscherei, dass die Reifen qualmen. Das letzte Mal ging mein Herzschlag so hoch, als ich im Krankenwagen lag und das Leben vor meinen Augen vorbeizog.

      Nach ein paar Minuten bringt Jack den Käfer zum Stehen.

      – Mehr geht nicht, sagt er und zeigt was weiß ich warum auf den Zigarrenanzünder. – Keine Kohle für Sprit.

      Jack lässt uns also aussteigen und begleitet uns zum Eingang. Er bietet mir seinen Arm zur Stütze an, aber meine Linke deutet auf Hugo. Jack tut wie geheißen: Er schiebt Hugo vor mir her, und das, obwohl er ihn nicht besonders gerne mag.

      Dann, ein paar Tage später, fängt das mit den Geschichten an. Uns ist langweilig, Jack und mir. Aber das, was man normalerweise tut, wenn man erwachsen ist und gelangweilt, dafür kennen wir uns noch zu wenig. Und das, was man sonst noch so macht, wenn man nichts zu tun hat, war gerade vorbei: Jack steht in der Tür, als ich eben mit dem Mittagessen fertig bin.

      – Erzähl mir etwas, sagt er.

      – Gut, sage ich, ohne nachzudenken, aber dann muss ich es trotzdem. Ich überlege ein paar Sekunden und dann noch ein paar, und dann erzähle ich ihm von Viktor. Viktor war mein Lieblingsukrainer. Und vor allem war Viktor mein Stiefvater. Gut, er war der einzige Ukrainer, den ich damals kannte, und die Ukraine, die gab es noch gar nicht. Aber angenommen, es hätte sie gegeben und von den Leuten dort wären so viele hergekommen wie von den Italienern, sodass ich viele gekannt hätte von ihnen, so hätte ich ohne weiteres gesagt: Viktor ist mein Lieblingsukrainer.

      Aber das ist es nicht, was ich Jack erzähle. Ich erzähle ihm davon, wie Viktor geflohen ist von hinter dem Eisernen Vorhang und was er dabei erlebt hat, ich erzähle von Viktors Meinungsverschiedenheiten mit der Polizei und dann überlege ich mir auch zu erzählen, wie es dazu kam, dass Viktor nicht mehr mein Lieblingsukrainer ist. Aber das interessiert Jack alles nicht.

      – Erzähl mir was anderes, sagt er. – Irgendwas, woran ich nicht die ganze Zeit denken muss danach.

      – Okay, sage ich.

      Aber dann sage ich nichts, denn als ich durch meine Erinnerung gehe, sind da nur Schritte, die leise hallen in ihr und doppelt.

      Jack heißt eigentlich René. Mit Betonung auf der ersten Silbe, das erste E als Ö ausgesprochen, wie es hierzulande üblich ist: Rönee. René will, dass ich ihn Jack nenne, weil die Dinge, die ihm zustoßen, normalerweise nur den Figuren eines grellen amerikanischen Roadmovies passieren. Und René, sagt er, das würde eben nicht dazu passen.

      Ich finde, Jack klingt richtig mies, aber wenn einer so sehr mit den Wimpern klimpert wie Jack, während er dich um irgendwas bittet, dann erfüllst du ihm jeden noch so dämlichen Wunsch.

      Also gut. Ich meine, das mit den Geschichten. Angefangen hat das eigentlich später. Einen Tag vielleicht. Oder eine Nacht. Wenn man’s genau nimmt.

      Aber will man das?

      Es ist nur: Wenn es etwas gibt, was ich nicht ausstehen kann, dann sind das Anfänge. Ich verabscheue den Morgen und ich verabscheue das Neujahr. Immer sind die Leute begeistert und immer sind sie randvoll mit Hoffnung deswegen. Dabei ist es doch genau umgekehrt, das mit der Hoffnung.

      – Erst wenn du am Ende bist und der letzte Ausweg versperrt, solltest du dich aufs Hoffen verlegen, hat Viktor einmal gesagt.

      Ich habe darüber nachgedacht, ob es mir besser ginge mit diesen Anfängen, wenn der Tag erst um elf beginnen würde und das Jahr erst im März.

      – Es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen, sagt Jack, – du kannst ja doch nichts daran ändern.

      Natürlich hat er recht.

      Aber deshalb habe ich nicht darüber nachgedacht. Ich habe darüber nachgedacht, weil ich nichts ändern kann an der Situation und gefangen bin in ihr.

      Jedenfalls. Ich liege im Bett und denke nach. Es ist der Abend des Tages, an dem Jack diese Geschichten hören wollte. Doch in meinem Kopf gibt es gerade keine Geschichten. Es gibt nur Unruhe und es gibt Leere in ihm. Aber davon kann ich Jack nicht erzählen.

      Dann fällt mir doch etwas ein. Mir kommt in den Sinn, warum mir nichts in den Sinn kommt: Als Hilde so spät noch ins Zimmer gekommen ist, um mir den Blutverdünner zu spritzen, ist es vergessen gegangen, das mit den Füßen. Ich mache das Licht an, werfe die Decke zurück, steige in die Pantoffeln und gehe ein paar Schritte umher, aber nur so weit, dass ich Hugo nicht wecken muss, der tief und fest schläft am Rand. Dann setze ich mich wieder aufs Bett, streife die Pantoffeln ab, strecke mich aus und decke mir die Beine zu. Ich merke sofort, wie es ruhiger wird in meinem Innern. Bevor ich ins Bett steige, muss man wissen, dürfen meine nackten Füße den Boden nicht berührt haben. Das Gefühl des kalten Bodens unter meinen Sohlen lässt alle Gedanken einfrieren in mir.

      Am nächsten Tag ist alles besser. Jack ist wieder da und ich komme ins Erzählen. Die ganze Nacht über habe ich nachgedacht und den ganzen Morgen, und als ich damit fertig war, habe ich mir eine Dose Cola gekauft in der Cafeteria. Es muss Cola sein und es muss eine Dose sein. Wenn ich es mit den Nerven zu tun kriege, muss ich mich irgendwo festhalten können.

      Wenn der Wind nicht weht, erzähle ich, ist er in den U-Bahntunneln versteckt. Bevor die U-Bahn auf den Kontinent kam, hat es keinen Wind gegeben in Europa. Bienen gehen am Durchfall zugrunde, wenn sie vom Nektar der Kornelkirsche trinken. Die UdSSR ist der einzige Staat auf der Welt, dessen Hauptstadt nicht im eigenen Land liegt, sondern in Südafrika.

      – Soweto – Sowjetunion … Verstehst du?

      – Klar, sagt Jack, und: – Hast du noch mehr davon?

      Aber hallo.

      Und dann erzähle ich ihm vom Boden in meinem Zimmer, einem Dielenboden aus zweiter Hand. Meine Mutter hat ihn auf Raten gekauft, in einem Pfandleihhaus, sage ich, und als es zu Ende war mit dem Geld, haben sie ihn wieder abgeholt. Seither kann ich den Nachbarn unter mir


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