Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat - Demian Lienhard


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Meine Schwester …

      Ja, seine Schwester. Wo kommt denn die auf einmal her? Hat er mir nie erzählt von. Aber ich kapiere: Jetzt ist nicht der Moment, um dumme Fragen zu stellen.

      – Sie ist …, stammelt Jack, aber weiter kommt er nicht. Er schmiert irgendeinen Haken in die Luft, der entfernt an ein Kreuz erinnert. Ich begreife sofort. Bin ja nicht auf den Kopf gefallen.

      Jack langt nach der Flasche auf der Ablage und nimmt einen großen Schluck. Verdutzt schaue ich auf die leeren Gläser und begreife: Es ist keine Zeit mehr für Umwege. Ich ziehe an seiner Hand, die ich die ganze Zeit gehalten habe, und lasse nicht nach. Da kapiert es auch Jack. Wir biegen und strecken und krümmen uns im Bett wie die beiden Enden eines zerteilten Regenwurms.

      Die Küsse, die Berührungen, alles spüre ich einzeln, nacheinander und unendlich langsam. Und ich sehe das Neonlicht des Krankenwagens vor mir, wo mein Leben hinter den Augenlidern hellrot vorbeieilte, während der Tod auf mich wartete, und jetzt weiß ich, dass es nur richtig ist, dass in dem Moment, in dem ich endlich zu leben anfange, jede Empfindung einzeln und unendlich langsam auf mich kommt.

      Zwei

      Und dann fing das mit dem Rauchen an. Und das mit Eulalia.

      Ich fing es an.

      – Und du, Alba?, fragt sie.

      – Ich?

      Eulalia nickt. Und während ihr der Rauch langsam und blau aus dem Mund sprudelt, schneidet sie eine Grimasse, als wäre ich es, die gerade raucht und ihr den Qualm ins Gesicht bläst, und sie müsste gleich kotzen deswegen. Sie schiebt ihr Kinn nach vorne, wie sie das immer tut, wenn sie etwas von dir will. Ich starre auf den Glimmstengel zwischen meinen Fingern, die vor Kälte zittern, schaue am Filter auf das Braun der Verästelungen, die sich durch das Dunkelrot von Eulalias Lippenstift ziehen, folge dem dünnen Faden, der sich über unseren Köpfen in bläulichen Schwaden verliert, und spüre, wie sich die Härchen auf den Armen im Pulli verkrallen und die Haut sich aufstellt um sie.

      – Na, was ist?

      Ich weiß nicht. Ich schaue Hugo an, aber der ist mir irgendwie auch keine Hilfe.

      – Nimm ruhig n Zug von meiner, das ekelt mich nicht. Oder willst du dir eine eigene anzünden?

      Ich zögere. Ich schüttle den Kopf. Ich starre noch immer auf dieses dunkelrote Ende der Zigarette.

      – Also?

      Ich fühle einen Blick auf meinen Schultern. Es ist Hugo. Ein Windstoß lässt mich zittern vor Kälte.

      Hugo schüttelt den Kopf. Das will heißen: Nein.

      Und dann denke ich an Viktor, an die Schule und an Marcel, ich denke an die Chemieprüfung und den Abend ohne Softeis, und weil ich mir endlich einen Neuanfang wünsche, jetzt in diesem Moment, führe ich den Filter an meine Lippen und ziehe.

      Natürlich war ich nicht mutterseelenallein, als ich im Krankenhaus lag.

      Habe ich das gesagt?

      Ja, das habe ich.

      Gut. Meinetwegen.

      Aber was ich meinte damit, ist, was jeder damit meint, wenn er sagt, er sei mutterseelenallein: Er fühlt sich mutterseelenallein. Und das ist es doch, was zählt in dem Moment.

      Jedenfalls, da waren noch andere. Zum Beispiel die schlechte Schwester, die mir jeden Morgen einen anderen Finger zerstochen hat, um dann das Zeug, das sie rausgezogen hat an der Hand, doppelt und dreifach wieder hineinzuspritzen in den Oberschenkel. Natürlich nicht dasselbe. Aber so in etwa. Bisschen Blut gegen einen Haufen Verdünner. So.

      Da war außerdem die gute Schwester, Hilde, die auch mal ein Auge zudrückte, wenn man keine Lust hatte auf den Krankenhausfraß und die Hauptmahlzeit durch drei Becher Softeis ersetzte. Da war der gute Assistenzarzt, der immer nach künstlicher Minze roch und mit dem ich gerne gevögelt hätte, und da war Eulalia.

      Eulalia, das ist die andere Patientin im Krankenhaus, die gerne mit dem Assistenzarzt vögeln würde. Aber ihre Arme – sie waren gebrochen. Beim Skifahren. An einem Ort, wo sie die Cafés noch Tea Room nennen. Rutscht mit den Skischuhen aus und stürzt die Treppe hinunter, bleibt unten vor dem Herrenklo liegen. Als sie wieder zu sich kommt, haben es sich ihre Unterarme auf der Treppe bequem gemacht. Schmiegen sich an die unterste Stufe wie ein Winkeleisen und stellen sich schlafend. Sie schaut hin, schaut weg und dann wieder hin: Und schon knallt ihr Kopf zum zweiten Mal auf die braunen Fliesen. Woher ich das weiß? In Tea Rooms sind die Fliesen immer braun.

      Noch dazu holt sie sich eine Gehirnerschütterung. Als ihr Kopf zum zweiten Mal auf die Fliesen prallt oder auf der Treppe schon, das weiß ich nicht und Eulalia schon gar nicht. Eulalia, muss man wissen, hatte keinen Helm auf. Aber das ist die Zeit, als nur die allergrößten Idioten einen Helm tragen beim Skifahren. Also, sagen wir, fünf auf tausend. Und auf dem Weg zum Klo – dazu gibt es wahrscheinlich sowieso keine Zahlen.

      Der Rest ist das, was immer geschieht, wenn man in solchen Gegenden ist und ein Krankenhaus braucht: Man findet keins. Also lässt man sich an einem Ort behandeln, von dem jeder sagen würde, wenn er zu Hause mit einer Tasse Früchtetee am Tisch sitzt und sich nebenbei die Nägel lackiert: Nie im Leben. Denn: Während die Schamanen des Provinzlazaretts irgendwas an deinen Armen herumkleistern, hörst du, wie im Nebenzimmer die Kuh muht und mit den Hufen ausschlägt, weil sie gerade dabei sind, ihr die Hörner auszubrennen.

      Und wenn alles vorbei ist, kommst du nach Hause und willst dir eigentlich bloß den Gips wechseln lassen nach ein paar Tagen, aber die Ärzte im Krankenhaus schlagen nur die Hände über dem Kopf zusammen, als sie die Buckelpiste unter deiner Haut sehen, und trommeln gleich die ganze Chirurgie zusammen. Und dann fängt alles wieder von vorn an, nur schlimmer. Mit Schrauben diesmal und diesen langen Narben mit den seitlichen Stichen, dass es aussieht, als hätte sich ein Langläufer einmal quer über deinen Unterarm gestoßen. Und du schwörst dir, dir die Knochen beim nächsten Mal zu Hause zu brechen, oder am besten direkt vor der Notaufnahme.

      So war das bei Eulalia. Ja.

      Wenn du einen Film schaust, von dem du vergessen hast, dass du ihn schon einmal gesehen hast, und dann irgendwie voraussiehst, was jeden Moment geschehen wird: diese Vorahnung, so war das mit Eulalia. Ich komme aus dem Aufzug, mache mich klein vor dem Empfang, um dem bohrenden Blick der Schwester auszuweichen, und noch bevor ich Hugo bei der Yuccapalme um die Ecke schiebe, weiß ich: Wenn du jetzt in die linke Ecke schaust, dann sitzt da Eulalia.

      Natürlich wusste ich nicht, dass es Eulalia sein würde. Oder, dass da jemand sitzen würde, der Eulalia heißt. Aber ich wusste, dass es jemand wäre, den ich kennen würde.

      Nicht gut, aber Parallelklasse. Immerhin.

      Turnunterricht.

      – Der fällt erst mal flach für uns, was?, sagt sie und hebt den Daumen. Weil sie das tatsächlich gut findet oder weil es die einzige Bewegungsmöglichkeit ist, die der Unfall ihren Armen gelassen hat.

      Ich nicke. Ich sage nichts. Ich überlege. Dann sage ich doch etwas:

      – Ja, sage ich.

      Und dann will ich noch etwas sagen, aber da ist ihr Blick, der sich in Hugo verbeißt und nicht mehr ablassen will von ihm. Der Länge nach mustert sie ihn, von unten nach oben und wieder zurück.

      Und gleich noch einmal.

      Es ist nicht zum Aushalten.

      Irgendwann gleitet er trotzdem ab, ihr Blick, aber nur, um dann umso länger auf mir zu verharren. Auf mir, meinem Handgelenk und dem Verband, auf der Schiene und der künstlichen Sehne, an der er so fest zerrt, dass sich mein Daumen krümmt davon.

      – Kompliziert, hm?

      Blut steigt mir in die Wangen und unter den Scheitel. Ich zwinge meinen Blick auf den Boden, aber bald ertappe ich ihn, wie er hinübergleitet zum Zeitungsständer, zur Essensausgabe, zum Empfang. Dann geht er durchs Fenster hinaus in den Schnee, huscht über Wege, Büsche und Bäume, aber er findet keinen Halt: Das


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