Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard
– Echt?, fragt Jack.
Ich schüttle den Kopf. Natürlich nicht.
Jack verwirft die Hände.
– Schade, sagt er.
– Schade?
– Schade, dass das nicht wahr ist.
Von nun an hat mir Jack jeden Tag etwas mitgebracht. Unter seinem Alpacaponcho hat er einen Rucksack voller Fritten aufs Zimmer geschmuggelt. Manchmal auch Schokolade, dann sogar eine Flasche Champagner. Der Alte hat immer dichtgehalten. Aber Jack mag ihn trotzdem nicht. Ihm passt nicht in den Kram, dass wir das Zimmer teilen. Er ist eifersüchtig, glaube ich.
Auch meine Mutter hatte was gegen den Alten in meinem Zimmer, da war sie für einmal einig mit Jack. Natürlich hat sie ihm das nicht gesagt, ist ja nicht so, als ob deswegen gleich … Egal. Jedenfalls hat sie dem Chefarzt alle Schande gesagt, hat sie. Von wegen Geschlechtertrennung und Privatsphäre, und ob das alles nichts mehr gelte in diesem Sauladen. Ja, Sauladen sagte sie, aber viel drauf gegeben hat der Doktor nicht. Irgendwas von Wunschkonzert hat der gesagt und Auslastung und ökonomische Zwänge und das ganze Brimborium, das man veranstaltet, wenn dir einer blöd kommt wegen ein paar Wachteleiern, du ihm aber keine reinhauen darfst. Statt einer ordentlichen Abreibung also die Frage, ob sie schon mal über eine Privatversicherung nachgedacht habe.
– Und sonst gibt’s ja immer noch das Katholische, schiebt der Chefarzt nach und verlässt das Zimmer.
Das zeigte Wirkung. Zu den Katholen oder Privatversicherung? Dann doch lieber die Tochter mit einem Wildfremden im Zimmer.
Mir sollte es egal sein. Wenn dein Leben an einem dünnen Silikonschlauch hängt, hast du echt andere Sorgen als das Geschlecht deines Zimmernachbarn.
Einmal wollte Jack wissen, warum ich im Krankenhaus bin. Natürlich habe ich ihm nichts gesagt.
– Ist doch egal, habe ich gesagt, – jetzt geht’s mir wieder gut.
Jack zuckte mit den Schultern, wie er das immer tut, wenn er sagen will: Okay.
Aber lassen konnte er’s dann trotzdem nicht, hat überall herumgefragt. Aber die Schwestern: Haben sich dumm gestellt. Die Ärzte: Fehlanzeige. Meine Mutter: Wo denkste hin. Und Hugo: Erst recht nicht.
Blieb einzig, den Alten abzuklopfen, während ich auf Toilette war.
Als ich die Tür öffne, hebt der gerade seine Lider, mühevoll und unendlich langsam, und seine dünnen Lippen spalten sich. Es hüstelt in seiner Brust, dumpf und fern, als würden irgendwo dort unten die letzten Ausläufer eines Feuerwerks explodieren. Von den Händen, die auf der gestreiften Decke nebeneinanderliegen wie zwei rückwärts geparkte Autos, hebt sich einer der dünnen Finger. Jack und ich – jetzt ist uns beiden klar: Die Sache ist raus.
Aber der Alte: sagt nichts.
Jack wiederholt die Frage, doch das Geräusch, mit dem sich die Zunge des Schlosses hinter mir in den Türrahmen streckt, schreckt ihn auf.
Jack kam jetzt jeden Tag vorbei. Meistens um zwanzig nach drei, manchmal auch um halb vier. Wenn er um viertel vor noch nicht aufgekreuzt war, wurde ich nervös. Aber irgendwann vor Ende der Besuchszeit kam er trotzdem. Um fünf wurde er normalerweise weggeschickt. Hilde drückte auch mal ein Auge zu, ließ ihn bis zum Abendessen bleiben. Jack kam mit allen gut aus, aber Hilde, das ist die, mit der er sich am besten verstand.
Man hatte das Gefühl, die beiden kannten sich schon länger.
Und dann war da dieser Mittwoch mit dem Seidenschal. Das war nicht irgendein Seidenschal und schon gar nicht meiner. Aber ein Frauenschal war’s jedenfalls, den Jack da in seinem Rucksack hatte. Ich hab’s ganz genau gesehen, als er den kühlen Champagner hervorzauberte.
Ich meine, ich bin nicht eifersüchtig oder so. Aber wenn dein Typ einen Frauenschal mit sich herumträgt, dann musst du dir einige Fragen gefallen lassen. Es sei denn, er schenkt ihn dir. Dann ist es was anderes. Aber das hat er nicht getan. Also hat er eine andere. Oder er ist schwul. Du denkst: Ja klar, diese gewollte Vernachlässigung seiner Eleganz, die gezierten Wendungen seines Kopfes und vor allem: sein Alpacaponcho. Also schwul. Das ist scheiße. Nicht das Schwulsein an sich, wir verstehen uns. Aber ausgerechnet Jack. Der hat nicht schwul zu sein. Punkt.
Jack entkorkt inzwischen die Witwe und gießt galant zwei Gläser ein. Und schwupp, sind die auch schon leer. So geht das den ganzen Nachmittag. Jack ist guter Laune. Aber ich, ich bin irgendwie nicht bei der Sache. Und betrunken bin ich auch nicht. Da ist dieser Seidenschal in meinem Kopf und Hugo in meiner Vene, der ständig Kochsalzlösung nachschiebt, dass es mich fröstelt im Unterarm.
Keine guten Voraussetzungen also. Aber Jack pfeift drauf. Er zieht meinen rechten Arm zu sich und beginnt weiß der Geier weshalb an Hugo herumzufummeln. Ich frage ihn, was das soll, aber er antwortet nicht, also ziehe ich den Arm wieder weg.
Und dann geschieht es: Jack küsst mich.
Oder er versucht es zumindest, berührt aber nur meine Zähne, denn ich reiße meinen Mund auf.
– Hugo!, schreie ich.
Der baumelt nämlich frei in der Luft, und über meinen Arm läuft’s kalt und heiß. Jetzt ist auch Hilde im Zimmer, und wie sie die Sauerei sieht am Boden, da reißt ihr der Geduldsfaden. Sie zeigt auf die Tür, ohne etwas zu sagen, und Jack kapiert’s sofort. Ist ja nicht dumm, der Junge.
Und dann fing das mit dem Warten an. Am nächsten Tag war Jack auf einmal nicht mehr da, und auch am übernächsten nicht. Dann sagte ich mir, dass er nach dem Wochenende wiederkommt. Montag ist er wieder da, sagte ich mir, bestimmt.
Aber das war er nicht. Auch am Dienstag nicht. Am Mittwochnachmittag habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe Hugo genommen und mich zur Bushaltestelle aufgemacht, aber vom Käfer keine Spur.
Keine Frage, ich war traurig und ich war allein, mutterseelenallein. Um mich herum war nur noch die Luft des Krankenzimmers und dieses Desinfektionsmittel, das einem in die Nase wabert andauernd und sticht über den Augen.
Doch dann fällt mir plötzlich auf, dass er anders ist, der Flur und die Leute, die sich bewegen auf ihm. Es ist Freitagmorgen. Normalerweise gleitet lautlos ein Bett übers Linoleum, in seinem Schlepptau der müde Pfleger. Vor der Station verstopfen die Angehörigen irgendwelcher Neulinge den Durchgang und bestürmen die Schwestern, dass die mit der Bullerei drohen müssen. Im Wartezimmer läuft ein Radrennen der letzten Saison.
Aber an diesem Tag hatte sich etwas verändert. Natürlich war da noch der Pfleger, der das Bett über den Flur schob, aber auf seinen Lippen zuckte ein Lächeln und um die Winkel seiner Augen. Und die dicken Winterjacken und Mäntel zeichneten sanftere Silhouetten auf die Schultern der Angehörigen, die sich brav auf den Plastiksitzen hielten heute.
Mir war sofort klar: Heute würde es passieren.
Jack tauchte gegen halb zehn auf, obwohl ich ihn nicht vor halb vier erwartet hatte. Der Alte mit der Prostata wurde gerade operiert, also setzte sich Jack aufs Bett gegenüber. Jack – man kann gar nicht so recht sagen, wie er ausgesehen hat an diesem Tag. Die Haare ducken sich zu einem bierfarbenen Scheitel und über seiner Nase balanciert eine viel zu große Hornbrille mit Fensterglas. Der Rest von ihm steckt in einem schwarzen Anzug, der so eng ist und so kurz, dass man den Eindruck nicht los wird, dass es der Anzug ist, der Jack trägt und nicht umgekehrt.
Zufrieden stellt er fest, dass Hugo nicht mehr im Zimmer ist.
– Manchmal vermisse ich ihn, sage ich.
Das hätte ich lieber nicht getan. Jacks Blick verfinstert sich. Er sagt nichts.
Die Eifersucht.
Natürlich.
Aber er tut ja auch nichts dagegen, um nicht als Idiot dazustehen. Als er nämlich den Champagner aus dem Rucksack holt, blitzt da wieder der Seidenschal hervor. Und er schenkt ihn mir auch dieses Mal nicht.
– Was tust du hier?, frage ich.
Jack zögert. Er bringt seine Kiefer