Halt. Michael Donkor
Seite tauchte eine grüne Wiese auf. Dort zeigte ein Mann mit Sonnenbrille auf eine rosa Stoffraute, die am Himmel schwebte. Andere spielten sich gegenseitig Bälle zu. Wieder andere schliefen auf Decken wie die verfilzten Stadtstreicher in Adum. Manche bedienten sich häppchenweise aus Essenskörben. Unter den jungen Mädchen schienen viele nur halb angekleidet aus dem Haus gegangen zu sein, in bunten Höschen und Büstenhaltern, sodass Belinda unwillkürlich die Arme über der Brust verschränkte. War das etwa der Brockwell Park, von dem Nana ihr erzählt hatte?
»Wir sind fast da, oder?«
»Yep.« Amma hielt inne, erneut gebannt vom Sicherheitsgurt. »Fast.«
»Hier … hier ist bestimmt schön. Zum Spielen. Entspannen. Und Glück für dich, das so zu haben. Bei uns in Kumasi gibt’s sowas nicht.«
Der Fahrer bog ab und die beiden Mädchen stießen zusammen. Belinda spürte, wie Amma sich versteifte.
5
Eine eigenartige weiße Blume blühte an der Decke des vorderen Zimmers, in dem sie wartete. Unter ihren Füßen ein Holzboden – breite Dielen, übersät mit blassen Narben. Zu ihrer Linken befand sich hinter einer Faltschiebewand das Esszimmer, eine dunkle, blutrote Höhle mit einem langen Tisch, der bereits gedeckt war, als kämen bald Gäste.
Belinda hatte sich ihr neues Heim so prachtvoll ausgemalt. Es überraschte sie nicht, dass die Wirklichkeit nichts mit ihren Vorstellungen gemein hatte. Das Haus von Aunty und Uncle war so viel geräumiger; das galt auch für die Häuser aller anderen bogahs in Daban, Finanzberater, Steuerberater, Anwälte, die aus dem Ausland heimgekehrt waren, überall Zimmer, Zimmer, die keinem besonderen Zweck dienten, Badezimmer für Gäste, für niemanden, hinten und an den Seiten noch Anbauten und Kammern für die Dienstboten. Hier mussten Nana und Dr. Otuo sich doch eingezwängt oder ganz klein fühlen. Warum fuhren die Autos direkt am Haus vorbei? Wo war die Schutzmauer? Wo der Pool?
Im Gegensatz zu Belinda, die sich nun unablässig in die eigenen Finger zwickte, bis sie die Hände schließlich auseinanderriss, hatte Mutter die Ruhe bewahrt, als es zur größten Umwälzung kam. Am letzten Tag der Osterferien hätte Mutter eigentlich mit dem gelben Beleg der Western Union aus dem Comm Centre im Herzen Adurubaas zurückkommen und ihn zu den anderen Belegen in die verbeulte Blechdose stecken sollen. Tat sie aber nicht. Als sie an diesem Nachmittag in ihr gemeinsames Zimmer zurückgekehrt war, hatte das etwas Gespenstisches an sich. Schlüsselklimpern lenkte Belinda von der Jollofpfanne auf dem Herd ab. Mutter blieb einen Moment im Türrahmen stehen, völlig reglos, starr. Mutters Mähne, die vom vielen Sitzen in der Sonne allmählich einen bräunlichen Ton annahm, wirkte noch wilder als sonst. Sie ließ sich auf das Bett fallen und richtete ihren Blick auf die blasige Wand.
»Dich betrifft das auch«, hatte Mutter tonlos gesagt.
Belinda stellte die Flamme kleiner und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. Das Papier, das Mutter lose hielt, war blau und die erste Kostprobe der väterlichen Handschrift, die Belinda zu sehen bekam. Der erste handfeste Beweis, dass ihr Vater wirklich existierte. In seinem Luftpostbrief wirkten die Wörter, die er niedergeschrieben hatte, mädchenhafter als ihre Schrift. Die fein säuberlichen Zeichen ließen die Botschaft umso brutaler erscheinen. So knapp sie auch war, musste sie mehrmals gelesen werden. Der Krach der Akuapem-Kinder von nebenan, wenn sie ihr blödes Klatschspiel spielten, wie immer so laut, als wären sie im selben Zimmer. Mutter hatte gestöhnt und gestöhnt und wieder gestöhnt und war dann aufgestanden, um am Pfannenboden zu kratzen, wahrscheinlich wollte sie sichergehen, dass der Reis leicht angebrannt war, um diesen rauchigen Geschmack zu erzeugen. Der Brief endete, ohne dass ihr Vater auch nur versucht hätte, sich dafür zu entschuldigen, dass er die Schulgebühren nicht länger bezahlen konnte. Mutter stellte die Flamme noch kleiner, sodass sie flackerte. Mit hochgezogenen Augenbrauen und angespannter Miene hatte sie sich umgedreht und zum Schluss gesagt: »Das war’s also. Wir werden dir eine andere Beschäftigung suchen.«
Jetzt, unter der riesigen weißen Rose, presste Belinda die Knie zusammen, um nicht mehr daran zu denken. Sie nahm die Fernbedienung in die Hand und legte sie wieder hin. Nana war schon viel zu lange im Bad zugange. Belindas Blick blieb auf dem Couchtisch an einem klebrigen braunen Ring hängen. Die Sonne offenbarte auf sämtlichen Oberflächen einen grauen Schleier.
»Nana? Amma?«
Belinda ging zum Kamin, streckte den Finger aus und fuhr über ein Regalbrett, hinterließ dabei eine tiefe und vollkommen gerade Linie. Staub ballte sich. Natürlich wäre das ein Eingriff, wäre unhöflich, aber sich einfach wieder aufs Sofa zu setzen? Wäre Faulheit. Sie trat aus dem Zimmer und geriet in einen Flur, der am anderen Ende von unten beleuchtet wurde. Die Stufen knarrten unter ihren Fersen und führten sie in eine luftige Küche hinab, wo alles in einem klinischen Weiß erstrahlte, das sich im staubigen Kumasi nicht herstellen ließe. So viel Weiß: Tassen, Teller, der Boden. Nur eine unverputzte, bröckelnde Wand fiel aus dem Rahmen. Vielleicht doch keine Klinik, eher eine Art Fabrik: Das blankpolierte Metall der Schränke, der Herd, der umgedrehte Rauchfang darüber, der Kühlschrank, die Behälter, die Uhr an dieser unfertigen Wand kamen ihr vor wie grausame Maschinen. In dieser Küche fehlte Holz, fehlten Töpferwaren – alles Heimelige. Unter der Spüle standen sorgfältig aufgereiht Sprays, die beruhigend vertraut rochen. Mr Muscle war genau der Richtige. Belinda schnappte ihn sich.
Wieder oben, hätte sie am liebsten geklatscht, als sich Schaumblasen über die Tischflecken ergossen und der bohrende Schmerz in ihrem Kreuz verschwand. Aus unbestimmter Richtung hörte sie einen erstickten Schrei, dann schlug eine Tür zu. Belinda räumte schnell Tuch und Spraydose weg. Der verräterische Mr Muscle rollte unter dem Tisch hervor und grinste sie an.
»Tut mir leid! Ich wollte nur –«
»Mir tut’s leid. Ich habe sie oben erwischt und … dann haben wir geredet.« Nana ließ sich auf das Sofa sinken. Belinda tat es ihr nach.
»Schon gut.«
»Warum kann sie nicht einmal stillsitzen? Du, du hast doch gesehen, wie sie aus dem Taxi gestürmt ist, als wären Bitte und Danke und Hallo ganz aus der Mode gekommen?« Nana hielt inne, die winzigen Fältchen an ihren Augen dehnten sich, flehentlich hob sie die Hände. »Sie lässt sich bei dir entschuldigen und muss sich gleich hinlegen, weil sie letzte Nacht so spät heimgekommen ist. Was macht das nur für einen Eindruck?«
»Macht nichts. Unterwegs, im Taxi, war sie so nett zu mir, so hilfsbereit.«
»Gestern gab es die Prüfungsergebnisse, und das musste sie eben mit ihren Freunden feiern. Nur Bestnoten. Das hat sie mir noch zugerufen, schon war sie wieder aus dem Haus, und ich durfte ihren Erfolg an so einem Streifen Papier ablesen. Nur Bestnoten.« Belinda gefiel Nanas leises Lachen. »Am liebsten würde ich sie hierhin setzen, damit wir ihr sagen können, wie sehr wir uns freuen, wie dankbar wir sind – aber das fällt ihr ja im Traum nicht ein, sich wie wir jetzt hinzusetzen und zu reden.« Nana zog die rote Strickjacke fester über ihre weiße Bluse.
»Sie –«
»Dein erster Auftrag wäre vielleicht, für mich herausfinden, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden getrieben hat, ja? Ich bin … ich bin sicher, sie hat nichts getan … nichts Schlimmes? Aber ich muss … ich muss Bescheid wissen.«
»Auftrag klingt so groß für eine – eine so kleine Person wie mich.«
»Sa? Für mich klingt Auftrag genau richtig.«
»Ich –«
»Gott sei Dank, dass deine Aunty dich dafür freigegeben hat – obwohl sie dich und deine tolle Arbeit gern für sich behalten hätte. Aber das ist eben wahrer Anstand, meine Liebe. Wenn man sich bei Bedarf füreinander opfert, verstehst du? Manchmal muss es eben sein.«
»Aane.«
Nana zupfte am winzigen Schwanz ihrer Eidechsenbrosche, die nun noch erhabener an ihrer linken Brust prangte. »Wir waren unzertrennlich. Vom ersten Tag an, dem Tag unserer Konfirmation.« Nanas Ohrringe tanzten. »Es war so schön mit uns. So besonders.«
»Bestimmt.«