Die Katze und der General. Nino Haratischwili
aus der Asche aufsteigen und leer sein, vollkommen leer.
Seit dem Ende ihrer Kindheit, seit dem Verlassen des Landes ihres ersten Lebens, seit dem Abschied vom Hof in der Silberstraße sah sie sich damit konfrontiert, sich in Anpassung zu üben, und doch konnte sie sich an diesem Punkt nicht weniger abverlangen, sich nicht verraten. Sie klammerte sich an die wenigen Begegnungen mit Gleichgesinnten und Seelenverwandten. Immer wieder gelang es ihr für flüchtige Momente, einzelne Menschen zu streifen, die unbeugsam durch die Welt liefen, unbelehrbar waren, unrettbar verstrickt in ihren Sehnsüchten und Utopien. Und dann, in solchen selbstvergessenen Augenblicken in mit schwarzem Molton abgehängten Probenräumen oder verrauchten Eckkneipen, gelang ihr etwas, das sich wie Glück anfühlte.
Der Gedanke an ihn war stechend scharf, als hätte sie sich an einer Rasierklinge geschnitten. Sie sah ihn vor sich, ihn, der es geschafft hatte, sie an ihre Grenzen zu führen, der ihr zum ersten Mal das Gefühl gegeben hatte, sie würde nicht genügen, an seine Vorstellungen nicht heranreichen, da sie nicht weit genug ging. Der Mensch, der sie bis dahin vielleicht am meisten verblüfft hatte. Der Mann mit den besessenen Augen, dem weißen Hemd und dem schwarzen Anzug, der mit seiner Haut verwachsen zu sein schien, der Mann, der anstelle von Wörtern Noten benutzte.
Ihr letztes Ausbildungsjahr verbrachte sie in Wien. Sie hatte gelernt, sich besser zu verkaufen, ihre Nöte und Ansprüche besser zu kaschieren. Sie war gut darin, Fügsamkeit vorzutäuschen, und so blieb sie dort. Es war leichter so. Sie hatte ein schönes Zimmer in der Josefstadt und ein Stipendium ergattert, das ihr ein einigermaßen sorgenfreies Jahr ermöglichte, und sich mit der Bequemlichkeit angefreundet, mit ihr einen Pakt geschlossen.
Vor ihrem Diplom hatte sich ein Zeitfenster ergeben, und sie hatte eine Statistenrolle bei einer skandalumwitterten Produktion an der Wiener Oper angenommen. Sie zahlten gut, Oper interessierte sie zwar nicht sonderlich, aber es fiel ihr dort leichter als im Theater, den Mund zu halten. Es war eine moderne Oper, ein Auftragswerk eines Wiener Komponisten, von dem sie nie etwas gehört hatte und den alle nur R. nannten, als berge der Buchstabe eine ganze Biografie.
Sie besorgte sich ein paar Platten von ihm, befand die Musik für schräg und beschloss, keinerlei Ehrfurcht vor ihm an den Tag zu legen, schon allein, weil es der Rest der Produktion tat.
Als er dann auf einer Probe auftauchte, fand sie ihn arrogant und selbstverliebt und wollte unfreundlich zu ihm sein, falls es dazu kommen sollte, dass dem großen Maestro ihre Existenz überhaupt auffiel. Es kam dazu.
Die Premiere spaltete das Publikum in Hasser und glühende Anhänger, doch auf der Premierenfeier berauschte sich jeder aus Erleichterung an sich selbst und am Alkohol. Man tanzte und sang, der Maestro aber saß die meiste Zeit neben dem Regisseur in der Ecke, hatte seinen Arm um ihn gelegt, dem armen Mann somit jede Fluchtmöglichkeit genommen, und redete wie in Rage auf ihn ein. Immer wieder wanderte ihr Blick zu den beiden Männern in der Ecke, und die anfängliche Gereiztheit und das Mitleid mit dem Regisseur wichen einer gewissen Bewunderung für die Besessenheit des Komponisten. Die offensichtliche Kompromisslosigkeit und Unnachgiebigkeit, mit der er sprach, hatten etwas Faszinierendes.
Auch fand sie es bemerkenswert, keinen einzigen Menschen zu treffen, der etwas Neutrales über ihn sagte. Entweder war er ein »widerliches Schwein« oder ein »epochaler Musiker«, aber nichts dazwischen.
Später ging sie vor die Tür, zündete sich eine Zigarette an und bemerkte ihn mit einem Rotweinglas neben sich stehen.
– Du warst im Chor, oder?, fragte er, und sie war mehr als erstaunt, dass sie ihm überhaupt aufgefallen war.
– Ja. Das war ich.
Er sah sie kurz an, seinem Gesicht konnte sie nichts entnehmen, konnte ihn nicht deuten. Die dunklen Augen, der dunkle Bart mit wenigen grauen Haaren darin, die hohe Stirn, all das schien eine Tarnung zu sein, eine Tarnung für irgendwas, das im Verborgenen bleiben sollte. Es war schwer, sein Alter zu schätzen, er hätte zwei, zehn oder auch zwanzig Jahre älter sein können als sie.
– Du warst sehr präsent, fügte er hinzu, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie fragte sich, ob er sich über sie lustig machte, aber er wirkte nicht wie jemand, der sonderlich humorvoll war.
Sie kamen ins Gespräch. Zuerst tauschte man Belanglosigkeiten aus. Dann wollte er ihre Eindrücke von der Produktion erfahren, als Außenstehende hätte sie einen unvoreingenommenen Blick für diesen ganzen »Wahnsinn«. Sie schilderte ihre Eindrücke, sie mussten lachen.
Als ihnen der Wein ausging, fragte er, ob sie von hier verschwinden wollten.
– Man wird einen Suchtrupp nach dir schicken, du bist schließlich der Ehrengast schlechthin!, erwiderte sie.
– Umso besser. Das Versteckspiel war schon als Kind mein liebstes Spiel. Überhaupt spiele ich gerne.
– Aha. Was denn so?
– Alles Mögliche. Spielst du mit?
– Kommt drauf an, was.
Sie fragte sich, ob sie ihn anziehend oder abstoßend fand, und konnte sich nicht entscheiden.
– Du versteckst dich. Ich finde dich.
– Wie das?
– Du gehst irgendwohin, wo du denkst, dass ich dich nicht aufspüren werde.
– Und was soll das für ein Ort sein?
– Keine Ahnung. Die Stadt ist groß genug und bietet genug Verstecke.
Sie musste laut auflachen.
– Ich meine es ernst. Du gibst mir drei Hinweise. Genau drei, nicht mehr, nicht weniger.
– Ich soll mich also irgendwo verstecken. Irgendwo in der Stadt?
– Ja, in einer Wohnung, einem öffentlichen Gebäude, einem Lokal, ganz egal. Nur die drei Hinweise brauche ich.
– Und dann?
– Dann finde ich dich.
– Und solltest du es nicht tun?
– Dann war es den Versuch wert.
– Und solltest du mich finden?
– Dann vögeln wir bis zum Morgengrauen.
Sie hörte jemanden die Klinke herunterdrücken, wobei mehr als zwei Versuche nötig waren, da die Tür sich als schwerer als erwartet erwies, und dann vorsichtige, zaghafte Schritte, wie die eines Fremden, der unbekanntes Terrain betritt und dem Boden unter seinen Füßen nicht traut.
– Hier sind Sie also. Darf ich?
Ein hochgewachsener Mann, ziemlich schlaksig, mit dem Gesichtsausdruck eines äußerst reizbaren Menschen, trat aus der Tür und kam direkt auf sie zu. Er trug ein gut sitzendes Sakko und eine dunkelblaue Jeans. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Gesichter vergaß sie nie, eigentlich vergaß sie auch keine Namen, es war vielmehr so, dass manche Namen auf gar keinen Fall zu bestimmten Menschen zu gehören schienen, und so erfand sie welche für sie, die ihr viel passender zu ihren Körpern und Geschichten vorkamen. Vor allem, wenn Menschen eine auffallende Ähnlichkeit mit Tieren hatten, dann gab sie ihnen Tiernamen. Auch ihr eigener Name war irgendwann verblasst wie eine alte Fotografie im Wandschrank und fand einzig bei offiziellen Anlässen Erwähnung. Ihr wirklicher Name bot ihr keinen Schutz, aber der Name, auf den sie hörte, der ihr gehörte, ihr allein und Millionen anderer dieser geheimnisvollen Tiergattung, war stets eine Höhle, eine warme Decke, ein Rückzugsraum und gleichzeitig eine Erinnerung, eine Erinnerung, dass sie einmal überlebt hatte und es nun auch weiterhin tun würde.
Diesen Mann musste sie sofort Vogel nennen. Er war groß, dünn, ungelenkig und hatte die runden, dunklen Augen eines Storchs.
– Bitte, sagte sie, bemüht, einen freundlichen Ton anzuschlagen, der ihre Enttäuschung überdecken würde, gestört worden zu sein.
– Mein Kompliment. Große Schauspielkunst, kann man nicht anders sagen. Sie haben Ihre Schwester eindeutig in den Schatten gestellt.
Sie hasste solche Floskeln. Nie konnte man wissen, ob der Mensch es