Ein Schlüssel zur inneren Biografie. Günther Dellbrügger

Ein Schlüssel zur inneren Biografie - Günther Dellbrügger


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      Warten können

      heißt warten wollen.

      Geduld haben

      heißt Geduld üben.

      Selbstbeherrschung erlangen

      heißt dem eigenen Selbst

      die Beherrschung

      zu ermöglichen.

      Gelassen werden

      heißt innerlich loslassen,

      weil man den Halt

      im Ich gefunden hat.

      Till von Grotthuss1

      EINLEITUNG UNTERWEGS ZU SICH SELBST

      »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

      So steht es in unserem Grundgesetz. Dieses Bekenntnis zum Menschen, zu allen Menschen, ist den Gräueln des »Dritten Reichs« abgerungen. Die Wertschätzung des Einzelnen als »Geschöpf Mensch« ist ein großes Ideal, das in geistigen Sphären urständet. Die Würde des Menschen ist eine geistige Tatsache. Doch Tatsache ist auch, dass die Würde des Menschen weltweit täglich missachtet wird. Was folgt daraus? Dass wir erst am Anfang stehen, dieses Menschheits-Ideal zu verwirklichen, und in unseren Bemühungen nicht nachlassen dürfen, wenngleich der Weg vom Ideal zur Tat ein weiter ist und den einzelnen Menschen in seinem innersten Kern fordert.

      An diesem inneren Kern lässt uns beispielsweise der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld in seinem posthum veröffentlichten Tagebuch Zeichen am Weg2 teilnehmen. Seine Aufzeichnungen legen Zeugnis ab von dem Ernst und dem Ringen um seine innere Biografie.

      Obwohl in unserer Zeit der Individualismus angepriesen wird wie nie zuvor, sind die Attacken auf die Persönlichkeit massiv und treten aus ihrer Verschleierung mehr und mehr in das Licht unseres Bewusstseins. Wird die weltweite Gemeinde/Global Community durch unsere Stärke hergestellt, oder durch die Technik? Sind unsere Empathie, unser Wille zur Tat, unsere Erkenntnisse entsprechend mitgewachsen? Was ist konkret unter dem Begriff »Individualität« zu verstehen? Entwickelt sich Individualität auf ein Ziel hin? Haben wir dieses Ziel, Individualität zu sein, schon erreicht?

      In diesem Buch umkreisen wir die Suche des Menschen nach seiner ureigenen Bestimmung und auch die Suche nach der eigenen unverwechselbaren Bestimmung des Menschen als Person. So finden sich in den einzelnen Kapiteln sehr verschiedene Motive zu dieser Suche. Immer zeigt sich in der inneren Biografie des Einzelnen das Ringen um einen Einklang mit sich selbst. Wer will nicht am Ende seines Lebens das Gefühl haben: Ich bin mir treu geblieben, ich habe mich von meinen Idealen leiten lassen.

      1WER BIN ICH?

      Der Angriff auf den Menschen und seine Entwicklung beginnt heute schon im frühen Kindesalter und hört bis zum Lebensende nicht auf. Wir wissen viel über die ersten drei Jahre des Kindes, sein Aufgehoben-Sein in einer geistigen Kraft, aus der heraus es die Grundfähigkeiten als Mensch entwickelt, bis hin zu dem ersten zarten »Ich-Erleben«.

      Die Jahre der mittleren Kindheit und deren Mitgift für die innere Biografie des Menschen leben weniger deutlich in unserem Bewusstsein. Sie sind jedoch entscheidend für den weiteren Verlauf der Entfaltung und Selbstfindung des Menschen. Die Umbrüche dieser Lebensperiode sind ein Schlüssel für die innere Biografie. Aus diesem Verständnis heraus, zu dem das erste Kapitel einen Beitrag leisten möge, lassen sich die darauf folgenden Kapitel in einem neuen Licht sehen. Der Stern des Menschen, sein höheres Wesen, sein zweites Ich als Schlüssel seines Lebensweges erreicht den Einzelnen auf den unterschiedlichsten Bahnen. Von diesem Weg legen die weiteren Kapitel in je eigener Weise Zeugnis ab.

      ZUKUNFTSASPEKTE DER KINDHEIT

      Die Mitte der Kindheit3 ist eine Wendezeit. Abstand nehmen und »Reflexion« (Umwendung) üben, sich heraussondern und als eigenes Wesen erleben – das ist in dieser Phase des Lebens von Bedeutung. Der so gewonnene Abstand, das Wahrnehmen erster Veränderungen werden durchlebt und zugleich durchlitten. Die Frucht dieser Lebensperiode ist eine Wegzehrung, die wie Sternensamen in den kommenden Jahren immer wieder aufblitzt und auf dem weiteren Lebensweg voranleuchtet.

      STUFEN DER ABNABELUNG

      Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt genauer die Lebensstufen, die jeder Mensch durchläuft, so macht er schon vor der Geburt tiefe Erlebnisse von Aussonderung und Trennung durch – nur weniger bewusst. Schauen wir zunächst auf den Anfang des Erdenlebens, auf die Geburt. Wir als Eltern, als Erwachsene und Geschwister, freuen uns, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt. Ein altes Kinderlied spricht vom Stern, der jeden Geburts-Tag überleuchtet.

      Im Erleben des Kindes sieht der Geburtsvorgang möglicherweise sehr anders aus. Man spricht von der Gefahr eines »Geburtstraumas«. Was ist damit gemeint? Der österreichische Anatom Joseph Hyrtl (1810–1894), der sich sein Leben lang für das Wohl von Waisen und Kindern aus bedürftigen Familien eingesetzt hat und ein vehementer Gegner einer einseitig materialistischen Weltanschauung war, versuchte, sich ganz in den vorgeburtlichen, lebensreifen Embryo zu versetzen und aus dessen Erleben den Geburtsvorgang zu schildern. Denn es gibt neben der Freude der Familie und den Schmerzen der gebärenden Mutter auch den Schmerz des zur Welt kommenden Kindes!

      »Der Embryo im Mutterleib müsste, sofern er Selbstbewusstsein hätte und im Voraus wüsste, was beim Vorgang der Geburt mit ihm geschehen wird, diesen Vorgang zweifellos für seine absolute Vernichtung halten.«4

      Warum? Die schützenden Hüllen werden zerreißen, das Fruchtwasser wegfließen, in dem das Kind bisher sein Lebenselement hatte! Dann muss es sich durch eine »würgende Enge« zwängen, wie durch einen zu klein erscheinenden Höhlenausgang. Schließlich wird die Nahrung bringende Nabelschnur durchtrennt. Aus dieser Sicht erscheint ein Überleben der Geburt höchst unwahrscheinlich ...

      Aber zum Glück eröffnet die physische Geburt eine andere Zukunft. Ist der Geburtsschmerz überwunden und findet das Neugeborene eine liebevolle, umhüllende Aufnahme, kann es schnell gedeihen. In den ersten Jahren ist das Kind vollständig auf den anderen Menschen angewiesen. Wie anders ist das bei den hochentwickelten Säugetieren, bei denen das Jungtier schon voll ausgereift zur Welt kommt! Demgegenüber braucht das kleine Kind eine Schutzhülle, vergleichbar dem Uterus der Mutter, um im ersten Jahr leben und sich entwickeln zu können. Deshalb spricht man vom »extra-uterinen Frühjahr« (Adolf Portmann), in dem auch das Geburtstrauma durch Erfahrung von Geborgenheit, Nähe und Sicherheit überwunden werden kann. So bildet die physische Geburt eine erste Stufe im Selbstständig-Werden des Menschen. Es ist die Abnabelung, die sich jetzt im Physischen, später im Bereich der Lebensprozesse und Lebenskräfte und – beginnend mit der Mitte der Kindheit – im Seelischen fortsetzen wird.

      Die Entwicklung des Kindes in den ersten drei Jahren ist ein Wunder, das nicht oft genug bestaunt werden kann. Nie im Leben später ist der Mensch wieder so tätig und »erfolgreich«. Als Kinder lernen wir, unsere Leiblichkeit im Raum zu orientieren, uns selber in die Gesetzmäßigkeiten des Raumes hineinzustellen und die Schwerkraft zu ordnen. Wir lernen, an der Sprache Geistiges zu erfassen, zu verstehen und selber ins Wort zu bringen. Wir nennen das Denken-Lernen. Wir gehen in der Nachahmung über die Nachahmung hinaus und erwerben uns denkend einen eigenen Zugang zur Welt geistiger Vorgänge, Inhalte und Wesen. Die Fähigkeiten von Stehen und Gehen, der Spracherwerb und das aufkeimende Denken werden ohne ein bewusstes Lernen erworben.

      ERSTE ICH-ERFAHRUNGEN

      Diese ersten Kindes-Jahre kulminieren in einer Erfahrung, die vermutlich jedes Kind macht – mehr oder weniger bewusst. Es ist die Erfahrung: »Ich bin ein Ich.« Es gibt eine Reihe von Erinnerungsberichten über diese Erfahrung, besonders


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