Ein Schlüssel zur inneren Biografie. Günther Dellbrügger
Fall nur am wahrnehmenden, sprechenden und agierenden Gegenüber entfalten. Das Kind braucht den Erwachsenen wie eine Brücke. Denn die Urverbundenheit des Kleinkindes mit der Welt (»Vater bin ich, Mutter bin ich, Sonne bin ich, alles bin ich« – so ein etwa vierjähriges Kind) ist verschwunden wie ein Regenbogen. Jetzt ist das Kind darauf angewiesen, die Welt zunächst als Inhalt des Lebens des Erziehers kennenzulernen. In dessen Verantwortung liegt es, ob das Kind später durch ihn zum guten Gebrauch der eigenen Freiheit finden kann. Indem der Erwachsene für sich selber nach dem Sinn seines Lebens sucht, zündet er ein Licht an. Dieses Licht kann dem älteren Kind ein Spiegel werden. Indem es das Licht des Erwachsenen erlebt, erwächst in ihm Lebensmut.
STUFEN DER GEWISSENSBILDUNG
Die Vorstufe zum eigenen Handeln ist die Einfühlung, die Empathie. Das Kind will – sich damit identifizierend – hingebungsvoll in den anderen eintauchen und miterleben, »wie Handeln geht«. Es erlebt menschliches Handeln mit, um es daran selber zu lernen. Doch das geht keineswegs reibungslos. Denn um das zehnte Lebensjahr beginnt eine Krise. Das Kind erfährt sein Willensleben neu: als »Nacht«, als Labyrinth, als hinter einer verschlossenen Tür, für das Bewusstsein unzugänglich.
In dieser Phase braucht das Kind Leitbilder, die Wirklichkeit eines anderen sprechenden und handelnden Ich, um dem »dunklen Grund« etwas entgegenzusetzen. Das Kind sucht im anderen Ich Quellen des Handelns, aus denen heraus es selber sein Verhalten mehr und mehr lenken kann. Darin liegt der hohe Auftrag und die Würde der Erziehung. Denn der Begegnungsraum zwischen Kind und Erwachsenem kann Zukunft vorbereiten und eröffnen. In den Jahren ab dem 9. Lebensjahr möchte der Stern des Kindes neu aufleuchten, bevor er zumeist in den Jahren der Pubertät noch einmal verschwindet. Das Gewissen als Zukunftspfand wird in diesen Jahren veranlagt.
Dieses Kapitel sei abgerundet mit Auszügen aus einem Brief, den der Arzt Hans-Müller Wiedemann aus der Seele des Kindes in der Mitte der Kindheit intuitiv an die Erwachsenen schreibt, »von Herz zu Herz«:
»Erzieht mich nicht nach dem Muster, nach dem euch eure Eltern erzogen haben. Denn ich bin anders, als ihr damals gewesen seid ... Ich möchte verstehen lernen, wie ein Mensch dem anderen helfen kann, und was einer dem anderen bedeutet. Denn ich ahne jetzt, dass der Mensch einsam sein kann ... Ich ahne, dass es hinter dem Fühlbaren und Sichtbaren meines Leibes ... noch etwas gibt, was ich auch bin und fühlen möchte. Ich hoffe, dass ihr von dort her zu mir sprechen lernt, wo der unsichtbare Mensch seine Heimat hat und wo sein Stern leuchtet ... Macht euch kein Bild von mir, aber habt Vertrauen in mich ...
... sucht den Sinn eures Lebens. Dieses Licht in euch wird wie ein Spiegel sein. Ich kann darin euren Sinn in meinen Mut verwandelt sehen ...
Die Welt ist nicht immer schön, aber sie ist wichtig für mich. Auch jede menschliche Beziehung in ihr ist wichtig ...«11
Diese Zeilen sind der Versuch einer Annäherung an das, was in der Seele des heranwachsenden Kindes lebt, das das Herz in sich entdeckt. Er könnte auch unterschrieben sein: Natascha Kampusch.
2RELIGION IM ICH
DIE INNERE KRAFT VON NATASCHA KAMPUSCH
Am 2. März 1998 wurde Natascha Kampusch als zehnjähriges Mädchen entführt. Sie hatte sich vorgenommen, dass dieser Tag der erste Tag eines neuen Lebens sein sollte. Auf dem Weg zur Schule wird sie von einem Mann in einem weißen Lieferwagen entführt. In einem Verlies unter einem gewöhnlichen Einfamilienhaus hält er sie achteinhalb Jahre gefangen. Nach und nach gestattet er ihr »Ausflüge«, bis sie in einem unbewachten Moment fliehen kann.12
IM RINGEN UM DIE INNERE FREIHEIT
Wie hat dieses Mädchen das ausgehalten, ohne zu zerbrechen? Wie hat sie den Täter in Schach gehalten, der zugleich über acht Jahre lang ihre einzige Bezugsperson war? Wie hat sie es geschafft, an ihrem Plan: »Mit 18 will ich frei sein!« festzuhalten und ihn gegen alle Widerstände zu realisieren? Ihr ungebrochenes Überleben ist umso bewundernswerter, als sie sich selber als unsicheres Mädchen schildert, das eine schwierige Kindheit hatte, im Wechselbad von Aufmerksamkeit und Vernachlässigung. Ihr starker Kern zeigt sich aber schon früh in dem Willen, zu lernen, Schwierigkeiten allein zu meistern.
Mit zehn Jahren sehnte sich Natascha Kampusch schon nach der Vollendung ihres 18. Lebensjahres, denn dann würde sie ausziehen und endlich selbstbestimmt leben können. Dieser Wille zur Zukunft, der Zeitbogen hin zum 18. Lebensjahr bildet die entscheidende Kraft, aus der Natascha Kampusch sich aufrechtgehalten hat. Sie hat aus der Zukunft überlebt!
Einige Wochen vor ihrer Entführung hatte sie durchgesetzt, allein zur Schule gehen zu dürfen. Sie wollte das, um ihre Angst selbst zu besiegen, von innen heraus stark zu werden. Die Entführungssituation zeigt dieses Ringen: Als sie den weißen Lieferwagen sieht, schrillen in ihr die Alarmglocken. Hat sie auf irgendeine Weise gewusst, was sie erwartet? Sie entschließt sich, nicht auf die andere Straßenseite zu wechseln, sondern an dem Unbekannten vorbeizugehen – als Mutprobe. Als sie ihm näher kommt, schwindet ihre Angst! Er strahlt etwas Schutzbedürftiges aus, verloren und sehr zerbrechlich ... In dieser Erstbegegnung blickt sie tief in die Psyche des kranken Täters. Er wirkt schutzbedürftig, verloren, schwach. Hier zeigen sich bei Natascha schon zwei dem menschlichen Ich zugehörige Stärken: Mut und Empathie.
In den Jahren zuvor waren in den Medien verschiedene Fälle von Entführungen, von Missbrauch an Kindern bekannt geworden, die auch in der Schule besprochen wurden. Psychologen hatten geraten, sich gegen Übergriffe nicht zu wehren, um nicht das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Natascha hielt sich daran. Der Täter befahl ihr, ruhig zu sein, doch Natascha setzte sich über seine Anweisung hinweg und fragte ihn – nach seiner Schuhgröße! Man müsse den Täter genau beschreiben können, hatte sie gelernt. Offenbar hat sie den ersten Schock zurückdrängen können, indem sie ihre ganze Aufmerksamkeit in die Sinneswahrnehmung schickte.
In ihrem Gefängnis angekommen, fragt sie offen: »Werde ich jetzt missbraucht?«, und erhält die Antwort: »Dazu bist du viel zu jung, das würde ich nie tun.« Der Missbrauch durch den Täter ist sublimer. Er ist auf die Wahnidee verfallen, sich mit absoluter Macht die Nähe eines Menschen zu erzwingen, sich eine Sklavin heranzuziehen.
Auf dem kalten, nackten Boden ihres Verlieses findet sich Natascha in absoluter Dunkelheit. Als der Täter mit einer Glühbirne zurückkommt, geschieht in ihr etwas, ohne das sie wohl nicht überlebt hätte: »Ich akzeptierte, was passiert war.« Ihre Panik weicht einem gewissen Pragmatismus. Sie fügt sich, passt sich äußerlich an. Sie hat diese Form der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse später eine Regression in ihre Kindheit genannt, durch die sie sich geschützt habe. Dadurch bewahrte sie sich einen inneren Raum, in dem Widerstands- und Durchhaltekraft wachsen konnten.
Der Täter übt einen sublimen Terror aus. Auf der einen Seite erfüllt er ihr nach und nach viele äußere Wünsche (Videogerät, Radio, Bücher ...), andererseits foltert er sie durch quälende Helligkeit in den Nächten, Reizentzug zu anderen Zeiten, Hungerfolter, Beschallung. Von körperlichen Misshandlungen, die im Laufe der Jahre zunehmen, kann sie sich nur durch minutiöses Aufschreiben einigermaßen distanzieren: Sinneswahrnehmung und Leiblichkeit als primäres »Zuhause«, als Grundlagen der Identität werden vom Täter attackiert. Er versucht nach und nach, ihr diese Identität zu nehmen.
Er verlangt, dass sie sich einen neuen Namen sucht: Natascha wählt »Bibiana«. Sie darf nicht mehr von ihrer Lebensgeschichte, der Zeit vor der Entführung sprechen. Er will sich einen Menschen »züchten nach seinem Bild«. Ihr eigenes Bild verweigert er ihr: Sie bekommt keinen Spiegel, sie soll sich vergessen. Hinter seiner Fassade ist der Täter so schwach, dass er ihr verbietet, ihm frontal ins Gesicht zu sehen!
Als Natascha nach sechs Monaten zum ersten Mal ihr Verlies für kurze Zeit verlassen darf, wird ihr schmerzlich bewusst, wie perfekt und praktisch unauffindbar das Versteck ist. Das fällt ihr schwer auf die Seele. Sie realisiert, dass sie auf äußere Befreiung nicht rechnen kann.
Vom