Ein Schlüssel zur inneren Biografie. Günther Dellbrügger

Ein Schlüssel zur inneren Biografie - Günther Dellbrügger


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ave Maria!

      Es will das Licht des Glaubens scheiden;

      nun bricht des Zweifels Nacht herein.

      Das Gottvertraun der Jugendzeiten,

      es soll uns abgestohlen sein.

      Erhalt, Madonna, mir im Alter

      des Glaubens frohe Zuversicht;

      schütz meine Harfe, meinen Psalter;

      du bist mein Heil, du bist mein Licht!

      Ave, ave Maria!

      Es will das Licht des Lebens scheiden;

      nun bricht des Todes Nacht herein.

      Die Seele will die Schwingen breiten;

      es muss, es muss gestorben sein.

      Madonna, ach, in deine Hände

      leg ich mein letztes, heißes Flehn:

      Erbitte mir ein gläubig Ende

      und dann ein selig Auferstehn!

      Ave, ave Maria!

      Über die literarische Qualität dieses Liedes kann man sicher streiten, aber für das gefangene, einsame Kind war es ein höchster Segen. Oft können gerade Kinder durch das Äußere hindurch den wesentlichen Kern erfassen. So auch hier. Dieses Lied erschien Natascha geradezu für sie geschrieben. Sie bittet um ein »gläubig Ende« und ein »selig Auferstehen«.

      Im Älterwerden findet Natascha eine Religion. Sie findet eine Religion im Ich. Sie erlebt die innere Spannung zwischen einem gewöhnlichen Ich und einem höheren, zweiten Ich. Entscheidend dabei ist die lebendige, treue Beziehung zu diesem Wesen – und der Mut, sich dieser Beziehung immer wieder neu zuzuwenden, sooft sie auch verloren scheint; sie lebt eine Religion im Ich.

      Natascha Kampusch offenbart sich als ausgesprochen starke Persönlichkeit. Die Gefangenschaft ohne Aussicht auf Rettung und die ständige Bedrohung, der sie ausgesetzt ist, nimmt sie als Herausforderung an. Ihr Überlebenswille mündet in die Kraft, die Jahre ihrer Gefangenschaft als zu ihr gehörig anzunehmen. Sie lehnt nach ihrer Befreiung einen neuen Namen ab. Sie ist und bleibt Natascha Kampusch. »Ich bin Natascha Kampusch, ich wurde am 02.03.1998 entführt, und ich habe mich am 26.08.2006 selbst befreit.«

      Natascha Kampuschs Lebenswille verdient unsere Bewunderung und Hochachtung. Ihr einsames Ringen um eine selbstbestimmte Zukunft ist die starke Treue zu dem, was wir unser höheres Selbst, den »Geist in unserem Herzen« nennen können.

      »Strahlender als die Sonne

      Reiner als der Schnee

      Feiner als der Äther

      Ist das Selbst,

      der Geist in meinem Herzen

      Dies Selbst bin Ich

      Ich bin dies Selbst.«

      Rudolf Steiner15

      3DIE FREIE KRAFT IM MENSCHEN

       Zu den Phänomenen unserer Zeit, welche die menschliche Biografie gestalten, gehört die Tatsache, dass im Berufsleben der Menschen ein Punkt kommt, an dem die Frage nach dem Sinn der eigenen Arbeit laut wird. Viele Menschen steigen an diesem Punkt um und suchen ein Arbeitsfeld, das über den Verdienst des Lebensunterhaltes hinaus eine innere Befriedigung schenkt und für das menschliche Umfeld und die Umwelt von Bedeutung ist. Wo es dem Menschen nicht gelingt, seinem Lebensstil in Familie und Beruf eine Sinngebung wie einen goldenen Faden einzuwirken, drohen die Kräfte zu versiegen. Viele Menschen, gerade diejenigen, die sich in der Welt sozial engagieren, in den Schulen, in der Entwicklungshilfe und wo auch immer, fühlen sich plötzlich ausgebrannt, d. h. ganz ohne Kraft. Durch diese Erfahrung gehen heute viele Menschen früher oder später, sodass sie den Eindruck haben: Ihre Existenz ist wie an ein Ende gekommen, und eigentlich müssten sie jetzt ganz neu beginnen. Aber woher die Möglichkeit und die Kraft nehmen, die freie Kraft aus dem Inneren des Menschen?16

      DAS SCHWERT: BILD DES ICH

      Alle Krisen wirken sich in der Seele, in den Lebenskräften, in Gesundheit und Krankheit aus, aber sie hängen zusammen mit dem, was ich »das Drama des menschlichen Ich« nennen möchte. Nicht Tragödie, sondern das Drama des menschlichen Ich. Wie kann man dieses Drama des menschlichen Ich anschauen? Die heutigen Wissenschaftler stehen eigentlich vor der großen Frage: Entspricht dem Wort »Ich« überhaupt etwas? Man kann es nicht anfassen, man kann es nicht messen. Ist es überhaupt wirklich?

      Um die Frage nach dem menschlichen Ich und seine Entwicklung verstehen und beantworten zu können, möchte ich ein Bild verwenden, das für das menschliche Ich stehen kann – es findet sich auch im Neuen Testament: das Bild des Schwertes. Das Schwert ist ein Bild für das menschliche Ich, für die Ich-Kraft. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, was es mit dem ganzen Menschen macht, wenn er ein Schwert ergreift und es führen will. Bis in seinen Leib vollzieht sich dabei eine Straffung, eine Konzentration; Wachheit ist gefordert. Wer ein Schwert führen will, muss diese Kräfte entwickeln.

      In der Apokalypse des Johannes wird von dem Menschensohn gesagt, dass ein scharfes, zweischneidiges Schwert aus seinem Mund hervorgehe. Das knüpft an Jesaja an, der den Gottesknecht schildert: begabt mit der Kraft des Richtspruches, mit dem Wort, das aus seinem Munde hervorgeht und Entscheidung bewirkt. Die Kraft der Entscheidung, die innere Wachheit, das Kämpferische – all das kann uns am Bild dessen, der das Schwert gebraucht, deutlich werden.

      Es gibt zu dem Schwert ein eindrückliches Bild aus der germanischen Mythologie: die Siegfried-Sage. Darin wird von einem Schwert erzählt, das einen wunderbaren Ursprung hat. Der nordische Seher schaut die ganze Schöpfung der Welt als in einem Baum zusammengefasst: die Weltenesche. Sie ragt in den Himmel und ist tief verbunden mit der Erde. Odin, einer der Götter, die den Menschen mit dem Ich begabt haben, stößt ein Schwert in die Weltenesche. So heißt sie dann die »Esche Yggdrasil«, das heißt übersetzt »Ich-Träger«, ein Name, der auch für den Menschen zutreffend ist. Der Mensch selbst erscheint im Bild der Esche Yggdrasil. Odin bestimmt, dieses Schwert solle dem gehören, der die Kraft hat, es herauszuziehen.

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      Federzeichnung der Weltenesche von Franz Stassen (1869–1949).

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