UNHEILBAR GESUND. Christian Dobler
Schule. Nach mehreren Krankenhausaufenthalten darf auch sie ihren Leidensweg auf dieser Erde mit neun Jahren verlassen und Zuhause in den Armen meiner Mutter einschlafen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt draußen am Spielen und bekomme erstmal nichts mit.
An den Tod meines Bruders kann ich mich kaum erinnern, da ich zu dem Zeitpunkt selbst erst knapp zwei Jahre alt war.
Hier, als Monika stirbt, bin ich sieben und erinnere mich. Jedoch verdränge ich die damit verbundenen Gefühle meisterhaft. Dies ist für Kinder in diesem Alter vermutlich eine ganz normale Reaktion, die dem Eigenschutz dient. So kommt es, dass ich das ganze überspiele und bei meinen Schulkameraden wie auch im übrigen Umfeld sogar ins lächerliche ziehe, indem ich Witze darüber mache wie z.B., dass ich jetzt endlich nicht mehr teilen oder streiten müsse.
Von nun an bin ich also ein Einzelkind. Dies werde ich in Zukunft noch vermehrt (teils berechtigt - teils nicht) zu hören bekommen.
Meine Angehörigen tun mir in diesem Zeitraum kaum einen Gefallen, indem sie mich vor allem Mitleid spüren lassen und das Gefühl, ich sei etwas Besonderes. Natürlich nehme ich das niemandem übel und weiß, dass solche Dynamiken immer unbewusst und ohne bösen Willen entstehen. Meine Eltern, die in mir jetzt das letzte Kind haben, klammern sich natürlich umso mehr an mich. Hinzu kommt, dass sie zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass auch ich vor ihnen sterbe und wohl kaum das Erwachsenenalter erreiche.
Zusammengefasst, es ist wahrscheinlich der reinste Horror für sie.
In den nächsten Jahren folgen weitere Todesfälle in der Verwandtschaft und ein schwerer Autounfall meiner Mutter. Es scheint fast, als wäre unsere Familie von dieser Thematik verfolgt.
Weitere Schicksalsschläge und Todesfälle in der Familie respektive Verwandtschaft folgen in den nächsten Jahren, so dass das „Elend“ kein Ende zu nehmen vermag.
Immerhin können es sich meine Eltern ein Jahr nach dem Tod meiner Schwester leisten, mit mir nach Gran Canaria in die Ferien und somit das erste Mal ans Meer zu fliegen. Endlich können wir alle einmal etwas abschalten und die schönen Seiten des Lebens genießen. Meine Eltern lassen es sich in der Folge nicht nehmen, fast jährlich wieder mit mir ans Meer zu fahren. Dabei stehen Destinationen wie Mallorca und Süditalien auf dem Programm.
Zwölfjährig
Ich komme nun in die Oberstufenschule. Körperlich ist es nicht mehr zu übersehen, dass ich auf Grund der Krankheit zurückgeblieben bin. Ich bin der Kleinste in der Klasse. Dieses Defizit muss natürlich ausgeglichen werden. Mein Mundwerk bietet sich hierfür an und dementsprechend entwickelt es sich. Ich war aber auch schon in der zweiten Primarschulklasse der Klassenkasper und meine Mutter durfte regelmäßig zur Elternsprechstunde antraben. Die Lehrer wissen nicht, wie sie Ruhe in die Klasse bringen können, wenn ich dabei bin. Im Gegensatz zu meiner körperlichen Unterentwicklung lässt sich mein schulisches Können aber immer noch sehen. Bald werde ich sogar der Förderklasse, damals etwas Positives, zugeteilt. Ich muss ehrlich sagen, die meisten Schulthemen fallen mir einfach leicht, denn fleißig bin ich immer noch nicht, sondern eher faul und ein Minimalist.
So stellt die Zeit der drei Jahre in der Oberstufenschule schulisch für mich kein Problem dar. Auf der Persönlichkeitsebene jedoch bin ich umso mehr gefordert. So komme ich durch meine Unterentwicklung oft unter die Räder. Mein Mundwerk trägt das Restliche dazu bei, dass ich auf Dauer weder bei meinen Mitschülern noch bei den Lehrern besonders gut ankomme. Irgendwie schaffe ich es, mir meinen Freundeskreis aufzubauen, wahrscheinlich weil ich trotz allem ziemlich selbstsicher durch die Gegend laufe. So genieße ich trotz meines gesundheitlichen Handicaps die Freizeit wie viele nicht kranke Jugendliche in diesem Alter: Ich spiele Fußball, Skate, baue Baumhütten im Wald, rauche heimlich und klettere verbotenerweise auf Baukräne.
Gesundheitlich geht es mir den Umständen entsprechend gut. Das darf ich mit gutem Gewissen behaupten. Dennoch gehen die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch immer davon aus, dass ich wohl höchstens das Erwachsenenalter erreiche. Außer, dass ich viel huste und täglich Medikamente einnehme, bemerke ich selbst aber kaum Einschränkungen gegenüber den nicht kranken Jugendlichen.
Dreizehnjährig
In der Zwischenzeit, ich bin 13 Jahre, unternehmen meine Eltern mit mir wieder einmal einen Urlaubstrip. Es geht nach Florida, wo wir meinen Paten besuchen, der auf Grund seines Jobs auf einer Bank einen Sprachaufenthalt macht.
Das ist der Moment, wo ich vom klassischen Hausarzt zum CF-Spezialisten wechsle. Medizinisch gesehen, ist das natürlich ein großer Fortschritt und meine Überwachung respektive Betreuung wird damit optimiert.
KAP 2 | Erwachsen werden |
Zu der Zeit, in der ich vom Jugendlichen langsam zum Erwachsenen werde, ist es noch eher ungewöhnlich, dass ein CF-ler überhaupt das Erwachsenenalter erreicht. Deshalb wird das Thema kaum thematisiert und stellt dementsprechend für mich eine Herausforderung dar. Denn plötzlich bin ich ein fast schon „ausgewachsener Teenager“ und siehe da, ich lebe noch. Und es geht mir den Umständen entsprechend gar nicht mal so schlecht.
So komme ich in die letzte Schulklasse. Auf Grund meiner guten Schulnoten sähen mich viele in meinem Umfeld gerne am Gymnasium und später studieren. Meine Eltern überlassen solche Entscheidungen jedoch glücklicherweise mir allein und versuchen nicht, mich zu beeinflussen.
Da ich weder die Schule noch das Lernen wirklich mag und es auf Grund meiner Lebenserwartung in meinen Augen keinen Sinn macht, weiter zur Schule zu gehen und somit vielleicht gar nie mein eigenes Geld verdienen zu können, erübrigt sich diese Frage für mich ziemlich schnell.
So mache ich einen Besuch beim Berufsberater und entscheide mich für die vierjährige Berufslehre zum Hochbauzeichner. Ich war immer gut in der Geometrie und habe Sprachen nie gemocht, so passt das ganz gut. Die Lehrstelle ist im eigenen Dorf schnell gefunden und die erste Hürde, nämlich den künftigen Lehrmeister vorgängig über die Krankheit und deren möglichen Folgen ins Bild zu setzen, ist auch geschafft. Da ich jetzt weiß, dass ich nach dem Schulabschluss versorgt bin, stelle ich jegliches Bemühen und Engagement in der Schule ein. Ich genieße meine Zeit, bevor der „Ernst des Lebens“ beginnt.
Die emotionalen und psychischen Herausforderungen nehmen indes zu. Ein starker Husten macht sich mehr und mehr bemerkbar und die körperliche Unterentwicklung ist inzwischen auch nicht mehr zu übersehen, respektive zu überhören. Denn mittlerweile bin ich wohl der einzig übrig gebliebene Junge meines Jahrgangs, der den Stimmbruch noch nicht hatte. Die entsprechenden Hänseleien bleiben selbstverständlich nicht aus. Ich bin ein absoluter Meister im Überspielen geworden und vermute daher, dass mir niemand anmerkt, wie ich darunter leide.
Damit nicht genug. Ich habe nun meine Tätigkeit als Hochbauzeichner-Lehrling begonnen und werde beim Beantworten der Telefonanrufe mit Frau Dobler begrüßt und verabschiedet. Naja, es gibt wohl Schlimmeres. Und die Zeiten werden sich ändern, und zwar gewaltig. Das kann mein verunsichertes damaliges Selbst aber natürlich nicht ahnen.
Vielleicht fragst du dich, welche Ziele hat ein Jugendlicher mit einer solchen Diagnose? Was will ein junger Erwachsener, der davon ausgeht, dass er grade mal noch einige Jahre zu leben hat, vom Leben? Ganz einfach:
Ich will die Autoprüfung noch bestehen und einmal legal Alkohol trinken dürfen. Und das wichtigste; ich will wissen, was Sex ist und wie es sich anfühlt. Leider scheint genau dieser Wunsch zu diesem Zeitpunkt für mich fast unerfüllbar. Wie soll ein Junge in meiner Verfassung jemals eine Freundin finden? Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, mich mit der anderen Spezies zu unterhalten.
Aber wie bereits erwähnt, die Zeiten ändern sich. Mittlerweile im 3. Lehrjahr angekommen, habe auch ich den Stimmbruch noch bekommen. Ich bestehe mit Bravur die Autoprüfung und bin zudem einer der ersten, der eine Freundin hat und zu diesem Zeitpunkt mit siebzehn Jahren seine Unschuld verliert.