UNHEILBAR GESUND. Christian Dobler

UNHEILBAR GESUND - Christian Dobler


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stellt mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf und ich muss mich diesbezüglich zuerst wieder zurechtfinden. Ich lerne dabei meine Krankheit erstmals so richtig im Detail kennen. Die Begegnungen sind sehr positiv und den sozialen Austausch empfinde ich als bereichernd. Nichtsdestotrotz ist es für mich, als wäre ich von heute auf morgen in eine andere Welt katapultiert worden. Eine Welt so anders von jener, in der ich aufgewachsen bin. Wo mir der Kopf steht, weiß ich zu dieser Zeit nicht so genau. Bereits am ersten Abend wird erklärt, dass jeder seine Therapie, sprich die Inhalationen auf dem eigenen Zimmer, durchzuführen habe. Als ich dazu nochmals nachfrage, schauen mich alle mit fragenden Blicken an. Ich habe weder ein Inhalationsgerät dabei noch weiß ich, wann ich ein solches zum letzten Mal in meinem Leben benutzt habe. Entsprechend geht das Gelächter los, es ist allerdings sehr herzlich. Was meine Krankheit betrifft und wie damit umzugehen ist, kann ich zu diesem Zeitpunkt sehr viel von den anderen Teilnehmern lernen. Das Ganze hat allerdings auch seine Kehrseite, denn wie bereits erwähnt, stellt es meinen bisherigen Alltag komplett auf den Kopf. Zusammengefasst ist es aber eine sehr schöne und intensive Zeit in den 3 Wochen.

      Das nach Hause kommen fühlt sich in etwa so an, als ob ich wieder mitten in der Pubertät angekommen wäre. Ich habe zwar viele tolle Erinnerungen und neue Erkenntnisse auf Gran Canaria gewonnen, durfte Freunde fürs Leben gewinnen, weiß jedoch noch fast weniger als zuvor, wie ich das weitere Leben bewerkstelligen soll. Durch Zufall ergattere ich einen Gelegenheitsjob als Barkeeper in einem Club. So führe ich meine bisherige Tätigkeit auf dem Bau weiter stundenweise bezahlt im Teilzeitpensum aus und arbeite 2-3 Abende pro Woche zusätzlich hinter der Bar.

      Ich bin jetzt also 25 Jahre alt, arbeite bereits das zweite Jahr hinter der Bar und bin schon das dritte Mal bei der Klima-Kur auf Gran Canaria im November dabei. Die Wege meiner Freundin und mir trennen sich hier. Wir waren beide sehr jung, als wir zusammenkamen, haben uns beide in eine andere Richtung entwickelt und nun beschlossen, die schönen Erinnerungen mitzunehmen und die nächsten Abschnitte unseres jeweiligen Weges alleine zu gehen.

      So genieße ich nun das erste Mal ein richtiges Single-Leben. Die Arbeit hinter der Bar lädt hierfür geradezu ein. Ich lasse kaum eine Gelegenheit aus, die Angebote und Flirts anzunehmen. Das erste Mal lasse ich so richtig die Sau raus und hole mir was ich will, um meine Bedürfnisse zu stillen. Vordergründig sind die sexuellen Bedürfnisse. Natürlich sind aber die Bettgeschichten nur das Mittel zum Zweck und ein Symptom des eigentlichen Bedürfnisses. Viel mehr als nach sexueller Betätigung suche ich nach Anerkennung und Bestätigung. Nichtsdestotrotz bin ich ein Mann und ein Teil in mir genießt mit allen Sinnen, was mir bezüglich der Frauenwelt widerfährt, habe ich doch noch vor ein paar Jahren gehofft, überhaupt einmal intimen Kontakt zu erleben.

      Ich lebe zurzeit also in Saus und Braus und stecke mitten in der Partyszene drin. Ich werde sogar von einer Schweizer Reisegruppe als Animator in Ibiza engagiert, wo ich dreimal je eine Woche mitfliege. Die Gesundheit vernachlässige ich dabei allerdings beachtlich. Ich trinke auf Partys viel Alkohol, rauche zwischendurch Zigaretten und probiere sogar einige Drogen aus, namentlich Marihuana, Kokain und Ecstasy. Außer dem Krafttraining mache ich kaum Sport oder achte sonst auf mich. Meine Gesundheit verschlechtert sich dementsprechend stetig und bald kann ich nicht mehr verbergen, dass ich tatsächlich krank bin, besonders auch nicht mehr vor mir selbst.

      Es wird klar, will ich weiterleben, muss mein Leben wieder geordnet und die Perspektiven neu bestimmt werden. Diesen Entschluss zu fassen ist jedoch nicht ganz einfach.

      Langsam beginne ich zu erkennen, dass mein bisheriges Credo, jeden Augenblick auszukosten, da es der letzte sein könnte, nicht nur positiv war. Denn so buddhistisch das auch klingen mag, in meinem Fall versteckt sich dahinter auch ein wenig die Flucht vor der Auseinandersetzung mit meinem eigenen Leben und mir selbst. Dieser Wechsel ist ein Prozess und kommt mit viel Unangenehmen daher, dazu später mehr. Aber zuerst weiter in meiner Lebensgeschichte.

      Während diese Erkenntnisse also langsam in mir heranreifen, steht ein weiteres Jahr auf Gran Canaria an. Mittlerweile ist die Insel zu meiner zweiten Heimat geworden und nach der anfänglichen Aufregung, hat sich auch der Kur-Alltag für mich normalisiert.

      Ich lerne dort eine deutsche Reiseleiterin kennen und verliebe mich ziemlich schnell in sie. Der Abschied nach drei Wochen ist der Übliche in solchen Situationen und wir versprechen uns beide, den Kontakt aufrecht zu erhalten und offen dafür zu sein, was die Zukunft bereithält.

      Die liebe Zukunft. Zurück in der Schweiz habe ich hierzu noch immer keine besonderen Perspektiven und Ziele. Entsprechend leicht und intensiv kommt die Idee auf, nach Gran Canaria zurückzugehen, bzw. für unbestimmte Zeit dort zu bleiben und einen Job zu suchen. Es vergehen einige Wochen und Monate. Der Kontakt zwischen meiner Bekanntschaft und mir wird immer weniger und eines Tages teilt sie mir mit, sie habe einen neuen Mann kennengelernt. Dummerweise ist mein Flug zu diesem Zeitpunkt bereits gebucht, die Wohnung gekündigt und das Auto verkauft. Die Dame bietet mir freundlicherweise an, sie würde mir trotzdem helfen, einen Job zu suchen, falls ich den Flug antreten möchte. Ich lehne dankend ab. Danach geht es mir ziemlich schlecht. Alles hatte ich auf diese Karte gesetzt und bin nun völlig orientierungs- und ahnungslos, wie es weitergehen soll. Zum Glück rüttelt mich ein guter Freund von mir auf. In diesem Moment meines Lebens realisiere ich endgültig, dass es nichts bringt in Selbstmitleid zu versinken und ich trotz meiner Krankheit Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen möchte. Und dazu passt nach Gran Canaria wegen einer verflossenen Liebe abzuhauen nicht gerade. So bleibe ich da.

KAP 4 Wieder Fuß fassen

      Die Veränderungen im Außen finden etwas langsamer statt. Ich lebe noch immer in Partylaune und vieles ist mir mehr oder weniger egal, gleichzeitig setze ich aber langsam wieder einen Stein auf den anderen, natürlich nicht ohne das eine oder andere Intermezzo.

      Ich bin inzwischen zurück zu meinen Eltern nach Hause gezogen und die wilden Gewohnheiten beruhigen sich allmählich. An der Fasnacht in Lörrach lerne ich eine Frau kennen und wir verlieben uns beide auf den ersten Blick. Es ist mehr Verknalltheit denn Liebe. Die Auserwählte ist in Berlin aufgewachsen und wohnt zurzeit in Düsseldorf. Die Fernbeziehung stellt uns vor Herausforderungen. In der Regel sehen wir uns alle zwei bis drei Wochen, entweder sie fliegt nach Zürich oder ich fahre die rund sechs Stunden mit dem Auto zu ihr. Nach acht Monaten verläuft auch diese Beziehung im Sand und ich lerne innerhalb kurzer Zeit die nächste Frau kennen, auf die ich mich einlasse. Sie kommt aus meinem Dorf. Aber auch mit ihr ist nach zwei Monaten Bekanntschaft bereits wieder Schluss (ich weiß wieder einmal nicht, was ich will). Alle diese Geschichten waren aber vielleicht sowieso nur eine Vorbereitung auf das, was nun passiert. Denn kaum ein paar Tage sind vergangen, da lerne ich meine wahre Liebe und „Seelenverwandte“ kennen.

      Es passiert an einem meiner letzten Abende, an denen ich offiziell hinter der Bar arbeite. Es handelt sich um den Einsatz an einem Groß-Anlass, bei dem viele verschiedene Bars in einer Halle, bzw. einem Festgelände zur Party einladen. Der Abend hat gerade begonnen und die ersten Besucher bereits das Gelände gestürmt. Da sehe ich von weitem eine wunderschöne, große, schlanke Blondine auf meine Bar zukommen. Sie hält nicht an, sondern läuft an mir und meiner Bar vorbei. Unsere Blicke kreuzen sich, für Sekundenbruchteile nur, doch es schlägt voll bei mir ein. So, wie ich es zuvor noch nicht erlebt habe. Ich kannte dieses Gefühl bis dahin nicht, aber ich weiß, dass ich diese junge Frau kenne, obwohl ich sie nicht kenne. Du weißt schon, was ich meine und vielleicht hast du dieses Gefühl auch schon erlebt. Es ist unmöglich mit Worten zu beschreiben. Ohne zu wissen warum, fühlt man eine unglaublich tiefe Verbindung und Vertrautheit. Es fühlt sich an, als ob wir zueinander gehören.

      In diesem Moment nimmt man das Äußere kaum noch wahr. Obwohl die Frau vor mir auch objektiv überdurchschnittlich schön ist, bewusst ist mir ihre äußere Perfektion in diesem Moment keine Sekunde, denn dieser intensive Gefühlszustand nimmt meinen ganzen Körper, meinen Kopf und mein Herz vollständig ein. Da bleibt kein Platz für Anderes, Nebensächliches, Äußeres. Wie es der Zufall will, muss ihr Noch-Freund, mit dem sie freundlicherweise vor meinen Augen rumknutscht, die Party wegen Krankheit frühzeitig verlassen. Meine Auserwählte bleibt jedoch mit einem Kollegen


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