Der Klang der Stille. Haide Tenner

Der Klang der Stille - Haide Tenner


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Zeit. Im Jahr darauf machten wir gemeinsam auch die Wiederaufnahme. Der Regisseur verbesserte vieles und einige Sänger wurden ausgetauscht. Da verstand ich zum ersten Mal, was es bedeutet, an einem Stück weiterzuarbeiten und es weiterzuentwickeln.

      Das nächste Projekt meines Vaters war Der Rosenkavalier am Théâtre du Châtelet in Paris. Er brauchte noch einen zweiten Pianisten und der damalige Direktor, Stéphane Lissner, schlug ihm vor, mich zu nehmen. Rosenkavalier zählt zu den schwierigsten Werken überhaupt, aber ich hatte ein ganzes Jahr lang Zeit und übte wie verrückt, fast noch mehr als meine Diplomstücke, weil mir das so wichtig war. Da mein Vater damals den Rosenkavalier zwanzig Jahre nicht mehr dirigiert hatte, meinte er, wir sollten uns vor der ersten Probe einmal zusammensetzen. Er würde es schlagen, um die Noten einzurichten, und ich solle dazu spielen. Ich war ja damals wirklich noch sehr unerfahren, aber trotzdem sprach mir mein Vater ein ganz großes Lob aus: »Woher hast du das? Wie kannst du so gut einem Schlag folgen?« Für mich war das eigentlich selbstverständlich, aber heute weiß ich, dass sogar gute Korrepetitoren nicht unbedingt einem Dirigenten ohne Weiteres folgen können. Diese Zeit mit meinem Vater war eine der glücklichsten in meinem bisherigen Leben. Rosenkavalier wurde eine wunderbare Produktion mit Felicity Lott als Feldmarschallin und Kurt Rydl als Ochs. Regie führte Adolf Dresen.

      Bald danach, 1994, suchte man im Châtelet noch einen Pianisten für Siegfried und Götterdämmerung mit dem Dirigenten Jeffrey Tate. Es wurde mein erster Ring am Klavier und eine wunderbare Gelegenheit, diese Stücke zu spielen und so genau kennenzulernen, denn Jeffrey Tate war, unabhängig von seinen dirigentischen Fähigkeiten, selbst einer der besten Korrepetitoren und Studienleiter, die es je gab. Er hatte mit Karajan gearbeitet und auch den Boulez-Ring in Bayreuth als Studienleiter betreut. Von ihm lernte ich die Genauigkeit, mit der er mit Sängern probte. Zunächst arbeitete er am Text, was mir heute auch sehr wichtig ist, dann an der Intonation, am Rhythmus und auch an der Bedeutung. Von seinem unglaublichen Hintergrundwissen profitierten wir alle sehr. Bei seiner Così fan tutte-Produktion in Aix-en-Provence wurde ich dann sein erster Assistent und spielte auch Cembalo. Erneut lernte ich da von ihm sehr viel über Probenarbeit. Er erzählte mir unter anderem, dass er einst bei der Karajan-Plattenproduktion der Zauberflöte nur eine halbe Stunde Zeit gehabt hatte, aus den drei sehr unterschiedlichen Sängerinnen, die sich zum ersten Mal begegneten, das Ensemble der drei Damen zu formen. Daran denke ich jetzt immer, wenn ich Così fan tutte mache: Ich arbeite an den Ensembles, an der Balance, an der Artikulation. Wer singt staccato? Wer singt legato? Wie bekommt man etwas deutlich heraus, wie intoniert man, wie harmonisiert man das? Er hatte immer einen ästhetisch-klassizistischen Anspruch bei Mozart, alles war immer sehr ausgewogen. Das kann man mögen oder nicht – aber ich habe ihm sehr viel zu verdanken.

      Nach meinem Studium wusste ich zwar, dass ich als Repetitor arbeiten konnte, aber was dann? Sollte ich vielleicht doch Konzertpianist werden? In meiner Kindheit hatte ich verschiedene Phasen: Es gab die Phase mit dem Wunsch, Pianist zu werden. Als Sängerknabe wäre ich sehr gerne Opernsänger geworden. Es gab vielleicht auch eine kurze Regiephase als Jugendlicher, in der ich mir meine eigenen Theatermodelle baute und die großen Mozart- und Wagneropern inszenierte. Das habe ich mir damals vielleicht zu einfach vorgestellt – heute habe ich großen Respekt vor dem Beruf des Regisseurs. Aber nach der Zauberflöte meines Vaters oder spätestens nach der Walküre in Seattle wusste ich: Ich wollte dirigieren!

       Die Galeerenjahre

      Eines Tages rief mich eine ältere Gesangslehrerin aus Zürich, eine Frau Gerhard, an. Mit etwas gebrechlicher Stimme ließ sie mich wissen, dass sie für ihre Gesangsschüler für einige Stunden einen Begleiter bräuchte, es gäbe auch ein wenig Geld dafür. Obwohl ich zu dieser Zeit eigentlich mein Diplom vorbereiten musste, sagte ich zu. Frau Gerhard wurde zu meinem Schutzengel, weil sie immer wieder darauf bestand, ich müsse dirigieren. Auf ihre Anregung hin schrieb ich an alle in Frage kommenden Agenturen. Die meisten antworteten natürlich nicht, doch dann kam eine Nachricht von einer Stuttgarter Agentur, sie hätten meine Bewerbung an das Stadttheater Ulm weitergeleitet, wo auch Karajan begonnen hatte, und das Vorspiel sei nächste Woche. Das war natürlich eine tolle Sache. Ich war erst neunzehn und kam bei diesem Vorspiel auch gut an. Da ich aber schon als Korrepetitor für den Ring in Paris zugesagt hatte, stand ich allerdings für den Beginn der kommenden Saison nicht zur Verfügung. Daher wurde die Entscheidung vertagt, ich musste noch einmal mit konkreten schweren Opernszenen kommen und auch mit Sängern arbeiten. Ich übte bis dahin fleißig und wurde so tatsächlich ab Herbst 1994 Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung am Stadttheater Ulm.

      Wegen meiner Verpflichtung in Paris konnte ich weder die Eröffnungspremiere vom Rosenkavalier noch Wiener Blut korrepetieren, und so war Funny Girl mein erstes Stück – ausgerechnet ein Musical! Aber beim Üben bemerkte ich, wie viel Spaß mir diese Musik machte. Außerdem ist man gleich mit allen Abteilungen des Theaters beschäftigt: mit Sängern, Schauspielern und dem Ballett. Das Schöne im deutschen Stadttheater ist, dass man irgendwann immer seine Chance bekommt. Nach zwei Monaten übernahm ich zwei Vorstellungen als Dirigent. Es gibt das ungeschriebene Gesetz an deutschen Bühnen, dass man auf jeden Fall eine zweite Vorstellung bekommt, um sich zu verbessern, denn beim ersten Mal kann ja immer etwas schiefgehen. Sollte auch die zweite Vorstellung nicht wunschgemäß klappen, bleibt man am Klavier. Das war natürlich alles sehr aufregend, ich durfte Bühnenproben und eine Bühnenorchesterprobe leiten und das erste Mal ein professionelles Orchester dirigieren.

      Mein Vater half mir damals sehr, denn er hatte mich als Korrepetitor zwar sehr gelobt, aber an meinen Dirigierfähigkeiten hatte er noch große Zweifel. Die Grundlagen hatte ich zwar im Fach Orchesterdirigieren am Konservatorium gelernt und auch in der Dirigentenklasse hatte ich Klavier gespielt und zugeschaut, aber das war keine wirkliche Ausbildung. Mein Vater kam eine Woche vor meinem Debüt nach Ulm und ließ mich das Stück durchschlagen. Danach fragte er mich etwas verblüfft, wo ich denn das gelernt hätte. Er gab mir noch ein paar Ratschläge und kam auch zur ersten Vorstellung. Ich war hochgradig nervös, aber der Vorteil beim Musical ist, dass im Orchester der Drummer immer das Tempo hält. Egal was schiefgeht, man hat etwas, woran man sich festhalten kann. In der ersten Vorstellung passierte es dann auch nach 25 Minuten: ein Kapitalschmiss. Der Posaunist hatte mich nicht verstanden und nicht eingesetzt. Ich dachte, jetzt ist es aus, aber ich machte weiter. Später lernt man, dass es in einer solchen Situation meistens nicht aus ist, denn auch bei den Größten kann immer etwas schiefgehen. In der Pause waren alle sehr positiv, fanden den Schmiss nicht weiter schlimm, sondern hatten bemerkt, dass da ein Zwanzigjähriger mit den Sängern atmet, Freude an der Musik hat und diese auch weitergibt. Die zweite Vorstellung lief dann einwandfrei – ganz ohne Schmiss. Danach bekam ich von der zweiten Kapellmeisterin, die sich bereits bei meinem Vorspiel in Ulm für mich eingesetzt hatte, gleich die nächste Chance. Julia Jones dirigierte Wiener Blut, eine Operette, in der zwar alle Melodien von Strauß sind, aber das Stück als Ganzes stammt nicht von Strauß. Sie war der Meinung, ich sollte auch ein paar Vorstellungen übernehmen. Alle sagten, das sei schwerer zu dirigieren als Die Fledermaus, denn die Übergänge sind sehr oft ungeschickt geschrieben. Ich hatte auch großen Respekt davor, denn immerhin war es, wie mein Vater mir erzählte, Kleibers großes Erfolgsstück in Zürich, aber ich hatte große Lust auf diese Musik – allein schon wegen des Kaiserwalzers, der als Balletteinlage eingefügt war. Über die Weihnachtstage lernte ich fleißig. Die Ulmer spielten zwar viel Operette, aber einen Wienerischen »Nachschlag« musste man schon über eine gewisse Gestik vermitteln, was sich bei der Vorstellung dann auch bezahlt machte.

      In dieser Saison dirigierte ich dann auch meine erste Oper: Don Giovanni. Rein technisch gesehen viel leichter als Wiener Blut, aber gestaltungsmäßig natürlich eine andere Kategorie. Wenn man in der Provinz eine Vorstellung übernimmt, kann man nicht viel anders machen als der für die Produktion verantwortliche Dirigent. Wenn ein Vorgänger ein Tempo vielleicht zu langsam genommen hat und alle darunter gelitten haben, kann man das zur Freude aller Beteiligten ändern, man kann auch die Dynamik ändern, muss es aber deutlich zeigen. Die Musiker waren sehr nett zu mir; wenn etwas unklar war, ließ mich das der Konzertmeister wissen, und die Hornistin sprach des Öfteren über das Thema Klang mit


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