Der Klang der Stille. Haide Tenner
In der Praxis lernt man etwa Dinge wie, dass man schnelle Läufe mitunter langsam spielen muss oder langsame Tempi eher fließend, wie man eine ganze Szene am Laufen hält oder wie man eine Szene, die nicht stimmig ist, durch das gewählte Tempo positiv beeinflussen kann. In einem kleinen Theater fix engagiert zu sein, bedeutet auch, dass sich niemand ein Blatt vor den Mund nimmt. Manche Kollegen sind nett, manche weniger, aber auch damit muss man lernen umzugehen. Jede neue Produktion, sei es Carmen oder Traviata, wird an einem so kleinen Haus wie eine Uraufführung erarbeitet, weil sie oft viele Jahre nicht auf dem Spielplan stand. Außerdem machen diese kleinen Theater alle Formen der Bühnenkunst: Oper, Operette, Schauspiel, Ballett, Musical, Kinderproduktionen, Kammeroper und Barockoper. Man lernt dadurch, welche Anforderungen das Theater abseits der Musik an den Dirigenten stellt: Dass man das Tempo für die Tänzer halten muss, wie man eine Schleife beim Musical dirigiert, in der die Musik sich so lange wiederholt, bis der Umbau oder Dialog fertig ist, oder dass man den Schlussakkord so lange halten muss, bis der Vorhang ganz gefallen ist. Ebenso wie man nach Dialogen mit der Musik einsetzt, dass man auf Scheinwerfer warten muss und dass es eben nicht nur darum geht, einfach die Musik zusammenzuhalten, sondern die ganze Vorstellung. Natürlich gab es in Ulm keine Sänger vom Niveau eines großen Hauses, sondern eher ältere Routiniers oder auch ganz junge Talente. Mit ihnen muss man behutsam umgehen. Jeder braucht individuelle Unterstützung, man muss vorsichtig sein mit seinen Kommentaren und Äußerungen. Bevor man Orchesterpsychologie lernt, muss man an einem Opernhaus Sängerpsychologie lernen, denn diese ist noch viel diffiziler. Schnell gehen da die Emotionen hoch und Tränen fließen. Als junger Dirigent will man sich einerseits merklich einbringen und hat einen starken Gestaltungswunsch, andererseits muss man sich auch zurücknehmen und auf die anderen achten, von denen man ja gleichzeitig auch viel lernen kann.
Im zweiten Jahr in Ulm verließ der erste Kapellmeister das Haus. Auch Julia Jones wechselte nach Darmstadt und es blieben außer unserem Generalmusikdirektor James Allen Gähres nur noch der Studienleiter, der zum Zweiten Kapellmeister aufrückte, und ich, da der andere Korrepetitor nicht dirigieren wollte. Dadurch kamen plötzlich viele wunderbare Aufgaben auf mich zu: Eugen Onegin, Der Bettelstudent, Così fan tutte, West Side Story, Die verkaufte Braut, Werther und Der fliegender Holländer. Es bewarben sich viele Dirigenten um den Posten des Ersten Kapellmeisters, aber im Orchester und auch von Seiten des Generalmusikdirektors hieß es immer wieder: »Warum bewirbst du dich nicht?« Ich war erst einundzwanzig und hatte Bedenken, ließ mich dann aber doch dazu überreden und nach meinem Vordirigat mit der Verkauften Braut fiel dann die Entscheidung tatsächlich für mich.
Bald kam dann meine erste Premiere mit Humperdincks Hänsel und Gretel. Das hieß für mich, zum ersten Mal Orchesterproben mit dem Opernorchester zu haben, denn bisher hatte ich nur das Kammerorchester in Ulm dirigiert, das ein Laienorchester war. Plötzlich hatte ich auch Verantwortung für die Sänger und war nicht mehr nur der »Nachdirigierer«. Ich trat dabei in jedes denkbare Fettnäpfchen. Man hatte mich schon vorgewarnt, dass dies ein schweres Stück sei, aber ich hatte keine Ahnung, wie schwer es tatsächlich ist. Durch die große Anspannung und weil ich es immer noch besser machen und perfekt vorbereitet sein wollte, verlor ich etwas von der spontanen Musikalität, die ich beim Dirigieren den Orchestermusikern bisher hatte vermitteln können. Hänsel und Gretel ist für ein Wagnerorchester geschrieben, aber mit leichten Stimmen zu besetzen. Das muss man akustisch perfekt im Griff haben. Anstatt nur etwas Kosmetik zu betreiben und die Lautstärke des Orchesters zu reduzieren, muss man das Stück aus seinem Geist heraus verstehen. Man darf vor allem nicht in die Wagnerfalle tappen, denn es muss wie ein Singspiel musiziert werden – eher wie Mozart oder Mahlers Des Knaben Wunderhorn. Ich nahm viel zu langsame Tempi, weil es sich für mich so nach Wagner anhörte, und die Musiker, die mich eigentlich mochten, waren ziemlich verzweifelt. Ich wollte mit meiner ersten Premiere natürlich die Aufführung des Jahrhunderts dirigieren. Mit einer Premiere von Hänsel und Gretel in Ulm! Dabei hätte es durchaus gereicht, einfach das Stück so gut wie möglich über die Bühne zu bringen! Ich war 22 Jahre alt und wollte unbedingt auswendig dirigieren, was ein Unsinn war und was niemand brauchte. Viel wichtiger wäre es gewesen, die richtigen Tempi zu wählen und einfach gut und stimmig zu musizieren. Für die Sänger hatte ich die »perfekte« Interpretation im Kopf, ohne zu wissen oder mich zu fragen, welche Intention der Sänger oder die Sängerin hat, wozu die Stimme geeignet ist und wie man damit umgeht. Sängerinnen und Musiker waren sehr ehrlich mit mir, was gut war, denn es gab wirklich noch viel zu lernen. Ich hatte mich selbst unter wahnsinnigen Druck gesetzt, weil ich so viel von mir erwartet hatte, aber es ist der Vorteil eines kleinen Hauses, dass sehr offen kommuniziert wird und dass einen das Orchester nicht auflaufen lassen will. Da lernt man sehr schnell, und als ich dann Janáčeks Jenufa herausbrachte, lief es bereits deutlich besser, obwohl das zunächst eine für mich völlig fremde Welt war. Ich beschäftigte mich intensiv mit diesem Werk, fuhr zunächst nach Dresden, um mir eine Vorstellung auf Deutsch anzusehen, in der Gwyneth Jones die Küsterin sang, denn auch bei uns in Ulm wurde das Werk auf Deutsch gespielt. In Frankfurt lief es dann zur gleichen Zeit mit der wunderbaren Anja Silja als Küsterin auf Tschechisch. Außerdem las ich Literatur über Janáček, hörte viel von seiner Musik und entwickelte langsam ein Gefühl für diesen Komponisten. Es wurde dann im Ganzen eine schöne Premiere. Angela Denoke, die schon auf dem Absprung nach Stuttgart war, sang Jenufa und wusste genau, was sie wollte. Damals begriff ich, dass man sich durchaus darauf einlassen kann und soll, was ein Sänger denkt, dass einem kein Zacken aus der Krone bricht, wenn man den Ideen anderer gegenüber offen ist. Kurz: Ich lernte, was Zusammenarbeit bedeutet.
Damals sammelte ich auch die ersten Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Regisseuren. Ich war allerdings noch viel zu sehr mit mir und der Musik beschäftigt, um zu registrieren, dass auf der Bühne vielleicht etwas nicht funktioniert, wie zum Beispiel ein akustisch ungeeignetes Bühnenbild. Auch diese Dinge muss man erst lernen.
Das Zusammenspiel mit Regisseuren ist im Grunde bis zum heutigen Tag für mich immer ein schwieriges Thema geblieben. Meine besten Erfahrungen mit Regisseuren waren bisher zumeist Wiederaufnahmen, wie zum Beispiel Parsifal in Bayreuth von Stefan Herheim oder Michael Hanekes Don Giovanni in Paris, auch wenn Letzteres nicht ganz meine Sicht ist. Bei Neuproduktionen hatte ich ganz selten eine wirklich erfüllende Zusammenarbeit. Aber selbst wenn es einmal gut funktioniert hat, heißt das noch lange nicht, dass es beim nächsten Mal wieder so ist. Auch bei den sogenannten »Kennenlerngesprächen« bin ich inzwischen sehr vorsichtig geworden. Meiner Erfahrung nach ist ein solcher Erstkontakt niemals negativ, zumal der Regisseur ja engagiert werden will. Oft hat man den Eindruck, es gebe ein Grundeinverständnis über das Stück, aber spätestens bei der Klavierhauptprobe, wo zum ersten Mal alles zusammenkommt, sieht man dann, dass vieles ganz anders ist als ursprünglich besprochen. Manches hat man sich selber während der szenischen Proben schön gesehen und gerade bei Kostümen und der Beleuchtung gibt es dann böse Überraschungen. Umgekehrt gibt es aber manchmal auch positive Erfahrungen. Ich denke da zum Beispiel an die Entführung aus dem Serail anlässlich des Mozartjahres 2006 im Burgtheater unter der Regie von Karin Beier. Als wir uns kennenlernten, dachte ich: Das kann nie etwas werden. Sie fand die Dialoge altmodisch und schlecht und hätte am liebsten alles neu geschrieben. Ich wollte die Produktion verlassen, es kam zum Krach, Direktor Ioan Holender intervenierte und die Dialoge wurden »nur« modernisiert. Statt »Weg Niederträchtiger« hieß es dann »Hau ab, verzieh dich«. Damit konnte ich irgendwie leben, wenngleich es nicht meine Idee von Theater ist. Die anfänglich großen Bedenken zerstreuten sich aber im Laufe der Arbeit und ich hatte letztlich viel Spaß bei der Produktion, die dann auch ein Erfolg wurde.
Bei der Zusammenarbeit mit Regisseuren ist mir die Personenführung sehr wichtig. Deshalb schätze ich auch Sänger und Sängerinnen mit darstellerischer Intelligenz ganz besonders. Wenn ich mit einem Sänger arbeite, geht es nie nur um Intonation, Phrasierung oder Farben, sondern es geht immer auch um den Inhalt. Am problematischsten sind für mich einerseits Sänger, die in einer musikalischen Probe nicht an der Gestaltung arbeiten wollen und ohne Energie nur die Noten singen und andererseits solche, denen man in einer szenischen Probe nichts Musikalisches sagen darf. Ich möchte mit Menschen arbeiten, die für die ganze Sache brennen, mit denen man – durchaus auch kontroversiell – diskutieren kann, um letztlich einen gemeinsamen Weg zu finden. So soll es auch in der Zusammenarbeit mit der Regie sein.
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