Meine Augen sind hier oben. Laura Zimmermann

Meine Augen sind hier oben - Laura Zimmermann


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      Laura Zimmermann

      Meine Augen sind hier oben

      Roman

      Aus dem Englischen von Barbara König

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      Prolog

      Meine Mutter glaubt, dass es zwei Sorten von Menschen gibt: die, die gerne im Mittelpunkt stehen, und die, die so schüchtern sind, dass sie lieber gar nicht beachtet werden wollen. Sie glaubt, ich gehöre zur zweiten Sorte, findet aber, ich sollte zur ersten gehören.

      Was sie nie verstehen wird: Es gibt auch Menschen, die für manches gerne im Mittelpunkt stehen und für anderes nicht. Wie zum Beispiel, beachtet zu werden, weil man hervorragend Klavier spielt, aber nicht, weil man allergisch auf Erdnüsse ist. Oder weil man neue Schuhe trägt, aber nicht, weil man einen Akzent hat. Oder weil man als einzige Schülerin auf der Kennedy Highschool die bestmögliche Note im Leistungskurs Humangeografie erhalten hat, aber nicht, weil man die einzige Schülerin auf der Kennedy Highschool ist, die einen Busen hat, der größer als ihr Kopf ist.

      1

      »Na, komm schon, Greer. Vielleicht freundet ihr euch ja an.«

      Meine Antwort ist ein genervtes Blinzeln.

      »Es ist schön, wenn man jemandem dabei hilft, sich einzuleben. Eine Möglichkeit, etwas zurückzugeben.«

      Ich blinzele noch schneller, weil sie so tut, als würde ich das freiwillig machen.

      »Eine halbe Stunde. Vierzig Minuten. Höchstens.«

      Moms halbe Stunden dauern nie höchstens vierzig Minuten. Moms halbe Stunden können Stunden dauern. Besonders wenn sie ein Publikum hat.

      Wir sind wegen eines ihrer Kunden hier. Mom arbeitet für die Firma Relocation Specialists und berät Menschen beim Wohnortswechsel. Große Unternehmen engagieren sie dafür, dass sie zugezogenen Mitarbeitern hilft, sich in der neuen Gegend einzuleben. Sie führt sie durch die Nachbarschaft, organisiert Schulbesuche und empfiehlt Kinderärzte, Handwerker oder Waxing Studios.

      Sie liebt ihren Job. Er befriedigt ihren ständigen Drang, sich zu allem zu äußern, und rechtfertigt den exzessiven Luxus-SUV mit Babyrobben-Fell-Leder-Ausstattung, den sie geleast hat.

      Manchmal, so wie jetzt, hat sie einen Kunden mit einem Kind in meinem Alter. Dann schleift sie mich zu dem Termin mit, als wäre ich ihre Junior-Partnerin. Alle Fragen zum Leben als Teenager in einer Vorstadt in Illinois soll ich ihnen dann beantworten. Sie haben aber nie Fragen.

      Es ist immer dasselbe. Es ist sogar immer dasselbe Starbucks. Ich sitze neben Mom und versuche besonders freundlich auszusehen. Die oder der Neue starrt unterm Tisch auf ihr oder sein Handy. So weiß ich, dass sie – egal, wo sie auch herkommen – Freunde haben, die cooler sind als ich. Ist der Kunde eine Mutter, stellt sie mir die Art von Fragen, von denen sie meint, dass ihr schmollendes Kind sie stellen sollte. Wenn es nicht gerade schmollen würde. Sobald ich anfange zu antworten, unterbricht mich meine Mutter, um so zu antworten, wie ich ihrer Meinung nach antworten sollte. Für alle ist das total unangenehm, nur für Mom nicht. Kathryn Walsh ist nie etwas unangenehm.

      Ob man es glaubt oder nicht: Meistens nutzt es mir rein gar nichts, ein sanftmütiger, leistungsstarker und überhaupt sehr umgänglicher Teenager zu sein. Besonders nicht bei meiner Mutter. Wenn ich mehr mit ihr streiten würde, so wie Maggie mit ihrer Mutter, oder wenn ich mich peinlich aufführen würde, so wie Tyler, dann würde sie mich nicht zu solchen Sachen zwingen. Dann wäre das zu anstrengend. Aber Kathryn Walsh strengt mich mehr an, als ich sie anstrenge, und hier bin ich also. Sie ist einfach so. Ich bin einfach nicht so.

      Deswegen gehe ich mit ihr mit, um den desinteressierten Nachwuchs von Menschen zu treffen, die grausam/wichtig genug sind, mit ihrer Familie während der Schulzeit umzuziehen.

      Deswegen helfe ich meinem Bruder Tyler bei den Mathehausaufgaben, obwohl er die Antworten online finden könnte.

      Deswegen bin ich jedes Jahr brav beim Wiedersehenstreffen mit Leuten aus Moms Geburtsvorbereitungskurs dabei, das immer im Mai in genau diesem Etablissement stattfindet.

      Diese Filiale von Starbucks befindet sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes. Ich folge Mom nach drinnen.

      Der Nachwuchs, den ich kennenlernen soll, ist genau wie ich in der zehnten Klasse an der Kennedy. Das ist ja schon mal was. Meine einzige Gemeinsamkeit mit den anderen Kindern bei den Treffen von Natürliche Entbindung und sanfte Geburt ist die Hebamme. Jackson Oates, wer immer er ist, wird das hier bestimmt genauso peinlich finden wie ich. Dann haben wir das auch schon mal gemeinsam.

      Nachdem Mom Mrs Oates zur Begrüßung umarmt hat, stellen sie mir Jackson vor. Wie ein schmollender Schwachkopf sieht er jedenfalls nicht aus. Er macht eigentlich sogar einen nicht schmollenden, nicht schwachköpfigen Eindruck. Hellbraune Haare, dunkelbraune Augen und ein breites Lächeln, als wir uns begrüßen. Er streckt die Hand aus, um meine zu schütteln, als wäre die Familie aus den Fünfzigerjahren hierhergezogen. Ich habe jedoch gelernt, höflich zu sein, also drücke ich ihm fest die Hand. Das scheint ihm zu gefallen.

      »Oh, wie gut! Deine Eltern haben dir wohl auch beigebracht, wie wichtig es ist, sich ordentlich die Hand zu geben.« Das sagt er in väterlichem Ton, mit einem kurzen Blick auf seine Mutter, die die Augen verdreht. »Ich habe dabei immer das Gefühl, einen deutschen Geschäftsabschluss zu tätigen«, ergänzt er mit normaler Stimme. Seine Hand ist warm. Nicht schwitzig. Nur warm, wie sich das für einen lebendigen Menschen gehört. Und ich habe den starken Verdacht, dass es bei denen, die immer unterm Tisch mit ihrem Handy spielen, nicht so ist.

      »Wir treffen häufig neue Menschen«, sagt seine Mutter zur Entschuldigung.

      »Ich werde zwanzig Apfelkuchen und einen BMW kaufen«, sagt er halb auf Deutsch, halb auf Englisch, und wider besseres Wissen bin ich bezaubert.

      Das ist gar nicht so peinlich, wie ich dachte.

      Das ist auf ganz andere Art peinlich.

      Mom klärt schnell, was alle haben wollen, bestellt für uns (sie ist einfach so, einfach so) und zahlt. Da sie mich im Prinzip als ihre Assistentin betrachtet, sagt sie zu den anderen: »Wir suchen uns einen Tisch. Greer wartet auf die Getränke.« Mom und Mrs Oates steuern Moms Lieblings-Vierertisch an, direkt neben dem Ausgang. Jackson bleibt jedoch an meiner Seite und sieht dem Barista dabei zu, wie er die Milch schäumt.

      Eigentlich ist das der Teil, wo der unbekannte Trottel sich neben seine Mutter setzt und so tut, als hätte ich persönlich dafür gesorgt, dass er hier sein muss. Doch Jackson steht neben mir, wartet auf die Getränke, als gehörten wir zusammen. Ich sehe wohl verwirrt aus. Er sagt: »Du hast nur zwei Hände?« Wie eine Idiotin schaue ich auf meine Hände, als müsste ich die Anzahl überprüfen.

      »Ach so, ja, natürlich.«

      »Hey, danke, dass du mitgekommen bist. Du würdest bestimmt lieber was anderes machen.«

      Das dachte ich zuerst auch, aber das hier ist plötzlich doch interessanter, als mir die Fußnägel zu schneiden. »Kein Problem«, stottere ich. Eine Minute lang stehen wir schweigend nebeneinander und ich frage mich, ob ich in dieser Konstellation jetzt der gesprächsunfähige Trottel bin. Ich ergänze: »Dir ist schon klar, dass das hier der absolute Geheimtipp ist. Hier gehen die Einheimischen am liebsten hin, wenn sie untertauchen wollen.«

      Er grinst ein wenig. »Starbucks?«

      »Oh, dann hast du davon gehört?«

      »Kathryn? Dein Kaffee ist fertig.«

      Wir nehmen die Getränke von der Theke mit. Ich stelle den Caffè Latte für Mrs Oates und Moms Oh-das-klingt-irgendwie-französisch-das-nehme-ich auf dem Tisch ab. Dort haben sie schon den Informations-Ordner von Relocation Specialists ausgebreitet. Mom sammelt darin all ihre Profi-Tipps zu »dieser ganz besonders familienfreundlichen Gemeinschaft, nur fünfundvierzig Minuten von der Stadtmitte Chicagos entfernt«. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch diese Starbucks-Filiale im Ordner aufgeführt ist (der sich wiederum oft in diesem Starbucks


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