Meine Augen sind hier oben. Laura Zimmermann

Meine Augen sind hier oben - Laura Zimmermann


Скачать книгу
sind frei. Passt dir das?«, sagt er über die Schulter.

       Äh, ja?

      Ich lasse Mom, Mrs Oates und den Ordner am Tisch zurück. Jackson und ich plumpsen in die Ledersessel voller Kaffeeflecken, die neben einem unangezündeten Kamin stehen. Jackson sieht aus wie jemand, der jeden Tag fremde Mädchen bei Starbucks trifft. Ich versuche auch so auszusehen.

      Und er hat Fragen – gute Fragen. Statt mit »Was gibt es für Leistungskurse?« anzufangen (denn das steht auf der Website) oder mit »Kann man auch Punkte sammeln, wenn man Memes macht?« (er gehört ja schließlich nicht zu den Freunden meines Bruders aus der siebten Klasse), fragt er ganz direkt: »Ist das die Sorte Schule, wo ständiges Kommen und Gehen herrscht oder wo es seit der zweiten Klasse keinen neuen Schüler mehr gab?«

      »Ich weiß nicht genau, wie viele es jedes Jahr sind«, sage ich. Er beugt sich über die Armlehne zu mir herüber, als wäre ich die Hüterin wichtiger navigatorischer Hinweise. Was ich ja irgendwie auch bin. Ich versuche mich zu erinnern, wie viele neue Schüler letztes Jahr in meinen Kursen waren, frage mich, inwieweit ich sie als repräsentativ betrachten kann, leite eine Gesamtmenge daraus ab und dann wird mir klar, dass er keine Statistiken will. Seine Frage ist ganz anderer Art. Es ist eine richtige Frage. Er möchte wissen, was auf ihn zukommt, und er will das von mir wissen. Es ist Oktober, wir sind mitten im ersten Halbjahr – nicht gerade die beste Zeit, um in einer neuen Schule anzufangen. Alle haben schon längst festgelegt, wo sie sitzen und mit wem sie sich abgeben wollen.

      »Oh. Du willst wissen, ob du untergehen oder auf Anhieb berühmt sein wirst.« Er nickt. »Ich weiß es nicht. Ich war noch nie die Neue …«

      »Noch nie?!«

      »Nein. Als wir umgezogen sind, konnten wir auf derselben Schule bleiben.«

      »Erstaunlich.«

      Ich halte eine Sekunde lang inne, bleibe an dem »erstaunlich« hängen. Er sagt nicht, dass ich erstaunlich bin. Immobilität ist erstaunlich. So wie bizarre Mutationen in der Natur erstaunlich sind. Aber aus irgendeinem Grund fühlt sich dieses »Erstaunlich« aus seinem Mund nett an. Ich schüttele es ab.

      »Ja«, sage ich. »Die Tatsache, dass ich nie die Grenzen meiner Postleitzahl verlassen habe, gehört zu meinen größten Errungenschaften. Es sind nicht so viele neue Schüler, aber da es drei Mittelschulen gibt und nur eine Highschool, kenne ich ganz viele Leute auch nicht.« Er nickt, als hätte er auf diese Antwort gehofft. »Ich glaube nicht, dass man als neuer Schüler besonders auffällt. Außer man will auffallen.«

      »Was ist mit der Mittagspause? Wenn ich mich nicht an jemanden dranhänge, finde ich dann überhaupt einen Platz?«

      Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jackson an seinem ersten Schultag nicht mindestens vierzig neue Freunde findet. Schließlich ist er charmant und super nett, aber ganz offensichtlich war er schon oft der Neue und ich nicht, insofern täusche ich mich vielleicht. »Das Beste ist bestimmt, sich nach der vierten Stunde an jemanden dranzuhängen, außer sie sind alle furchtbar. Für alle Fälle kannst du aber Folgendes machen: Vor dem großen Fenster in der Schulmensa ist eine lange Theke, von der aus man auf den Sportplatz gucken kann. Wenn man noch Hausaufgaben machen muss oder sein Handy aufladen will, setzt man sich da hin. Wenn man dort sitzt, sieht man nicht wie ein Loser aus. Alle werden nur denken, dass man Gedichte voller Wehmut schreibt oder so.« Was ich eigentlich hätte sagen sollen, ist: »Sei kein Idiot, du sitzt einfach neben mir!«, aber immerhin kann ich mir zugutehalten, dass ich ihn auf die Theke hingewiesen habe.

      »Das klingt gut. Ich wollte als Nächstes fragen, wo ich Gedichte voller Wehmut schreiben kann.«

      »Oh Mann. Tut mir ja leid, aber letztes Jahr haben sie die Gedichte-voller-Wehmut-AG gestrichen. Etatkürzungen.«

      »Dann können wir ja gleich wieder zurück nach Cleveland ziehen.«

      Ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Aber dadurch wird mir noch einmal klar, dass das alles neu für ihn ist – gut, Starbucks natürlich nicht und nach Auskunft meiner Mutter auch Umziehen an sich nicht. Aber die Kennedy Highschool ist neu und sein Haus ist neu und alle Leute sind neu für ihn. Ich bin neu für ihn.

      »Wie ist Cleveland denn so?«

      »Wie überall sonst, denke ich.« Er zuckt mit den Schultern. »Wir haben nur ein paar Jahre da gewohnt.« Irgendetwas an ihm hat sich verändert, ein winziges bisschen. Er ist immer noch nett. Immer noch charmant. Aber auch ein winziges bisschen … traurig vielleicht. »Meine kleine Schwester wollte nicht umziehen. Wirklich überhaupt nicht umziehen.«

      »Mochte sie Cleveland so sehr?«

      »Nicht besonders. Aber sie hasst Umziehen.«

      »Und du?«

      »Ich bin daran gewöhnt«, sagt er mit einem Achselzucken. »Und Starbucks gibt es ja überall.«

      »Was? NEIN! Aber das hier ist wenigstens das echte, stimmt’s?« Und schon sind wir wieder da, wo wir angefangen haben. Für einen kurzen Moment konnte ich einen kleinen Riss in seiner Selbstsicherheit aufblitzen sehen. Glaube ich jedenfalls. Das macht mich neugierig. Noch neugieriger. Ich wünschte, wir wären woanders. Ich wünschte, ich könnte ihm etwas zeigen, was er nicht schon tausendmal gesehen hat.

      Wir holen unsere Stundenpläne raus, um sie zu vergleichen. Zum größten Teil belegen wir die gleichen Kurse, aber zu anderen Zeiten. Außerdem hat er Deutsch und ich Spanisch als Fremdsprache und er ist im Schnelllernerkurs Mathe 1 und ich in Mathe 2. Ich starre in meinen Becher, damit er nicht sieht, wie enttäuscht ich bin.

      »Du bist wohl ziemlich gut in Mathe«, sagt er.

      Ich trinke und pruste gleichzeitig. Nicht, weil ich eine Mathe-Göttin bin oder so. So gut, dass ich zu diesen Schülern gehöre, die schon Mathekurse an der Uni nehmen müssen, weil sie in der Schule unterfordert sind, bin ich nicht. Letztes Jahr hat Mom einem Kunden meine Dienste als Mathe-Nachhilfelehrerin angeboten. Sie hatten ein Kind in der Mittelschule, das Mathe liebte, aber einen kleinen »Schubs« brauchte. Sie würde mich nur zu gerne im Ordner unter akademischen Ressourcen aufführen – oder wenigstens als Babysitter oder so was, damit ich mal aus dem Haus komme. Es stellte sich heraus, dass das Nachhilfekind so eine Art Genie war und zweimal die Woche nach Chicago an die Uni fuhr, um Ergodentheorie zu studieren. Ich weiß noch nicht einmal, was das ist. Ich stehe nur an der Spitze der ganz normal schlauen Schüler.

      Gut in Mathe zu sein – in jedem Fach, eigentlich –, macht so ziemlich meine gesamte Identität aus. Es ist komisch, sich mit jemandem zu unterhalten, der das nicht weiß.

      In der Schule wissen die anderen über mich, dass ich gute Noten bekomme; dass ich Maggie Cleavers stillere, umgänglichere Freundin bin und dass ich Klamotten trage, die sogar für einen ausgewachsenen Bären dreimal zu groß wären. Das war’s. Ich mache keinen Sport, keinen Ärger, spiele nicht Theater. Ich bin nicht die Sorte Mädchen, mit dem man ausgehen will. Ich bin nur das kluge Mädchen. Das kluge Mädchen, das immer die Arme vor der Brust verschränkt.

      Aber Jackson weiß das nicht. Er weiß nur, dass meine Mom versucht hat, meinen Kakao mit fettarmer Milch zu bestellen. Aus Jacksons Sicht könnte ich alles sein. Das kluge Mädchen plus. Für den neuen Schüler bin auch ich neu. Irgendwie macht es Spaß, sich vorzustellen, mal ganz anders sein zu können, auch wenn er mich sofort durchschauen wird, sobald er in der Schule ist.

      »Wir haben also nicht einen einzigen Kurs gemeinsam? Komisch, denn ich bin davon ausgegangen, dass du mich am Montag als zertifizierte Relocation-Spezialistin zu Anfang jeder Stunde vorstellen wirst. Nicht gut …«, ergänzt er mit seiner deutschen Geschäftsmann-Stimme.

      Er sitzt in diesem klumpigen, abgewetzten Sessel, in dem vor ihm Tausende andere Menschen gesessen haben, der aber aussieht, als wäre er nur für ihn gemacht; als hätten alle, die es sich in dem Sessel bequem gemacht haben, hier nur geschlafen, sich gestreckt und gelümmelt, damit er sich Jackson anpasst. Ein Knie liegt halb auf der Lehne, sein Kopf ist in die Hände gestützt – er sieht aus, als wäre jede Faser seines Körpers vollkommen entspannt. Als würde er dort hingehören. Als würde er überall hingehören, egal,


Скачать книгу