Meine Augen sind hier oben. Laura Zimmermann
mich nicht behaupten kann. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, unsere einzige Gemeinsamkeit wäre, dass er das hier genauso peinlich finden wird wie ich. Damit war ich wohl allein.
Und aus irgendeinem Grund führt das dazu, dass ich mich öffne. Bis eben saß ich mit angezogenen Knien auf meinem Sessel, beide Hände um meinen Becher gelegt. Nun lasse ich ein Bein los und dann das andere und lege sie über die Armlehne. Ich lehne mich zurück, nur ein bisschen, und richte mein Sweatshirt, damit es immer noch weit über meinen Körper schlackert. Ich höre mich sagen: »Du machst das schon. Aber dein Deutschkurs ist im selben Flur wie mein Mathekurs, erste Stunde, falls du also Panik bekommst, ruf nach mir. ›Greer! Ich weiß nicht, wo ich bin!‹« Auf seinem Gesicht breitet sich ein großes, echtes Lächeln aus. »Greer! Helpen me por favor!« Ich spreche so laut, dass Mom neugierig rüberschaut. Nicht genervt, neugierig. Jetzt lacht Jackson laut auf. »Du musst es aber auf Englisch sagen«, ergänze ich. »Mein deutscher Wortschatz besteht aus Gesundheit.«
***
Als es Zeit ist zu gehen, sagt Mom: »Oh, Jackson! Schreib dir doch Greers Nummer auf. Vielleicht hast du ja noch weitere Fragen, was die Schule angeht.« Ich hasse und liebe sie dafür.
Mom rattert meine Telefonnummer runter und ich frage mich, ob Jackson nur so tut, als ob er sie eintippt.
Aber noch bevor sie zum Ende kommt, reicht er mir sein Handy. »Tipp du sie lieber ein.« Er hat mich schon als neuen Kontakt hinzugefügt: Greer Walsh. Und er hat Greer richtig geschrieben. Das hat auf Anhieb noch nie jemand geschafft.
Ich gebe die Nummer zweimal neu ein, nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht vertippt habe. Aber ich schätze mal, dass er sie sowieso nur benutzen wird, wenn er aus Versehen mit dem Hintern auf seinem Handy landet. Ich gebe ihm das Smartphone zurück, er drückt auf ein paar Tasten und dann ertönt ein wunderbares Ping! aus meiner Tasche. »Jetzt hast du meine auch.« Er lächelt und mein ganzer Körper läuft rot an. Ich bin froh, dass er nur mein Gesicht sehen kann.
Auf dem Weg nach draußen sagt Mom: »Deine Tochter hätte auch mitkommen sollen.«
Die Stimmung ändert sich schlagartig. Jackson und seine Mutter schauen einander an, als hätte Mom gerade gesagt, es gäbe Leber-Sardellen-Brötchen als Willkommensgeschenk.
»Wir haben …«, beginnt Mrs Oates, »sie, äh, hat beschlossen, lieber mit dem iPad im Auto zu bleiben.« Sie sieht verlegen aus. Teilnahmsvoll zuckt Mom zusammen. »Wenn sie jemanden nicht kennt, ist sie ein bisschen ängstlich.«
In dem Wissen, dass das Kind trotzdem mit umziehen muss, ist es sogar für Mom schwer, darauf etwas zu erwidern. Ich kann mich nicht erinnern, dass Drittklässler besonders mitfühlend sind, also viel Glück am Montag in der Schule, Oates-Mädchen.
»Eigentlich war das genauso geplant«, sagt Jackson schließlich. »Wir heben uns Quinlan immer auf, bis die Leute sich entschieden haben, uns zu mögen. Ich meine, wenn sie sich dafür entscheiden.« Er hebt die Schultern und wirft mir einen trotteligen Blick zu.
»Natürlich mögen wir euch«, sagt Mom mit einem kleinen Lachen. Dabei guckt sie mich die ganze Zeit an.
Und das tun wir. Das tun wir wirklich.
2
Bevor sich die Garagentür hinter Moms Land Rover geschlossen hat, bin ich schon auf dem Weg in mein Zimmer, um das zu tun, was ich immer tue, wenn ich nach Hause komme: Tür abschließen, Shirt und BH ausziehen, aufs Bett, auf den Rücken legen. Ich habe so eine alte Wolldecke, der Rand ist mit einem Satinband eingefasst und das ist immer glatt und kühl, auch wenn die übrige Decke warm ist. Ich lege mich so hin, dass das Band genau da liegt, wo sich der BH in meinen Rücken gegraben hat, und wälze mich ein paarmal hin und her. Es fühlt sich ähnlich gut an wie ein kalter Waschlappen auf einer heißen Stirn. Ich strecke mich und lasse meinen Körper, der den ganzen Tag angespannt war, einfach in die Matratze sinken. Mein Rückgrat entblättert sich, so wie es sein soll. Nur fünf, sechs Minuten, mehr nicht. Fünf, sechs Minuten, um meinen Schultern eine Pause zu gönnen, meinem Nacken, mir selbst. Um atmen zu können.
Normalerweise kann ich dabei fast alles andere ausschalten. Ich höre nicht die Musik von Wilco, die mein Dad in der Küche streamt, und auch nicht, wie meine Mom zum tausendsten Mal fragt, ob das die Band sei, die sie das eine Mal im Grant Park gesehen haben. Ich denke nicht an die Hausaufgaben für Geschichte; nicht daran, ob Tyler der Grund ist, dass meine Zahnbürste heute Morgen schon nass war; und nicht daran, dass Maggie den Klub der Veganer Heuchler genannt hat, weil deren Katzen Vögel töten. Ich versuche an gar nichts zu denken, sondern einfach nur zu fühlen.
Hier halb nackt rumzuliegen, fühlt sich heute aber anders an als sonst. Weil ich heute nämlich doch an etwas denke: an Jackson. Und ich fühle mich … locker, frei, am Anfang von etwas. Nicht entspannt, ganz im Gegenteil. Aber auf eine gute Art. So, dass ich ausnahmsweise mal gerne in meinem Körper stecke.
Meine Brüste rutschen zur Seite und ich kann zwischen ihnen bis zu meinem Bauchnabel und meinem Jeansbund gucken. Ich habe noch einen ganzen Körper, der nicht Busen ist. Das vergesse ich manchmal. Ich mache ein Hohlkreuz. Ich hebe meine Beine und hänge sie über den Bettrand. Mit einer Hand fahre ich über meinen Bauch. Er ist glatt und weich und kühl. Dann stelle ich mir vor, dass eine andere Hand meinen Bauch berührt.
Und halte inne.
Das ist Blödsinn.
Das ist Blödsinn, denn ich kenne ihn gar nicht. Und er kennt mich nicht. Er ist nett, weil er neu ist, und wenn man neu und nicht nett ist, dann steht einem ein hartes Jahr bevor. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass er die komische Eigenart oder auch eine Krankheit hat, deren Symptom es ist, unbeholfene Mädchen, die sich schlecht anziehen, zu mögen, ist das Blödsinn. Denn wenn du den Bauch von jemandem berührst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis deine Hand sich weiter nach oben bewegt und – Tadaa – du das Gebirge entdeckst. Und zwar nicht die wunderbaren Skipisten in den Rocky Mountains. Nein, du verlierst dich im ungastlichen Himalaja und obendrein wirst du auch noch höhenkrank. Es ist massiv, schmerzhaft und verschwitzt. Okay, Letzteres betrifft wohl nicht den Himalaja, sondern nur mich. Aber dennoch, niemand macht Urlaub im Himalaja. Man erklimmt es, macht ein Foto und sieht zu, dass man wieder lebend rauskommt, mit einer guten Geschichte, die man dann posten kann.
Ich rolle vom Bett runter und hole einen sauberen BH aus der Schublade. Der andere ist zu verschwitzt. Ich ziehe mir ein riesengroßes T-Shirt über, unter dem auch mein restlicher Körper verschwindet.
Wer meinen Bauch immer und jederzeit berühren darf? Meine Brüste. Sie können gar nicht anders.
3
Maggie ist außer sich. Wie immer.
Wir sollten eine Seite zu einem Gedicht von Dylan Thomas schreiben, in dem es um das Sterben und das Aufbegehren dagegen geht. Das Ganze ist etwas komplizierter, aber das Wesentliche findet sich in den berühmten Zeilen »Geh nicht gelassen in die gute Nacht«.
Maggie hat fünf Seiten darüber geschrieben, dass leidende Menschen, die dem Tode nahe sind, das Recht auf ärztlich begleitete Sterbehilfe haben sollten.
»Maggie, das hier ist ein Literaturkurs. Deine Aufgabe war es, das Gedicht zu analysieren, und nicht, mit ihm zu streiten.«
»Wie soll ich es analysieren, wenn ich ihm widerspreche?«
»Wie widerspricht man einem Gedicht?«
Die anderen Schüler sind schon gegangen, also bleiben nur Maggie, Ms Mulder und ich im Kursraum zurück. Die Hälfte der Zeit, die ich mit Maggie verbringe, höre ich ihr dabei zu, wie sie mit einem Lehrer diskutiert. Oder einem Schüler. Oder einem Elternteil. Oder einem achtjährigen Kind im Halloweenkostüm, das behauptet, Hermine sei nicht so cool wie Harry oder Ron, weil sie kein Quidditch spielt.
Deswegen habe ich ihr nicht erzählt, dass ich dieses Wochenende Jackson kennengelernt habe – obwohl er jetzt gerade irgendwo in diesem Gebäude ist. Weil sie zu sehr damit beschäftigt ist, zu streiten. Oder vielleicht, weil sie dann vorschlägt, dass ich ihn frage, ob er mit mir ausgeht.