Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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       Peter Hamm

       Ein einheimischer Fremder

       Lobrede auf den Südtiroler Dichter Joseph Zoderer

       Irene Zanol

       „daß Du eines Tages zurückgehen wirst zu Deinen besonderen Problemen, die Dir das Land aufzwingt“

       Zur Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption des Romans

       Anmerkungen

       Editorische Notiz

       Joseph Zoderer

       Zum Autor

       Impressum

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      Für meine Tochter Brenda

      Bald nach Natalies Tod hatte dieses Kopfweh begonnen, eigentlich mit dem Knarren des Friedhofstors, als es ins Schloss fiel. Vor vielen Jahren jedenfalls schon. Ein dumpfer Druck, der plötzlich einsetzte, wenn er alles wieder vor sich sah. Auch mitten in der Nacht. Obwohl er nicht dabei gewesen war, eine Woche vor ihrem neunten Geburtstag. Aber er sah alles vor sich, als ob er zugeschaut hätte, sah auch das durchsichtige, leicht chlorisierte bläuliche Wasser.

      Durch das offen stehende Fenster drang die kühle Nachtluft ins Zimmer, aber noch nicht genug Dämmerlicht, dass er Maras Gesicht auf dem Kissen neben sich hätte betrachten können. Er hörte eine Weile ihrem leisen Atmen zu, dann streckte er den Rücken durch, legte die Hände flach auf den Bauch, dachte sich als Embryo, halb eingerollt in seinem Bauch. Das Kopfweh ließ nicht nach, es musste schon im Schlaf da gewesen sein und war stärker und stärker geworden, bis es ihn geweckt hatte. Ein dumpfes Drücken, von innen gegen sein Schädeldach. Ohne die Lampe anzuknipsen, schob er die Beine zum Bett hinaus, tastete nach der Tür. Im Bad machte er Licht, sah auf die Armbanduhr: halb vier. Sein Gesicht sah ihn im Spiegel forschend an, er hatte nicht getrunken, seit Wochen, Monaten hatte er nicht mehr getrunken. Jetzt, da er vor dem Spiegel stand, ließ der Kopfdruck nach; er trat auf die Terrasse hinaus: Durch einen dichten Hochnebelschleier schimmerte ein halber Mond. Es würde ein sonniger Tag werden, ein heißer Spätsommertag. Langsam gewöhnte sich sein Blick an das Dämmergrau, er atmete tief durch. Die Kopfschmerzen waren verschwunden – die frische Luft, sagte er sich, aber als er wieder im Bett lag, auf dem Rücken, war der Druck erneut da.

      An diesem Morgen, Nebelschwaden hingen noch über den Wiesen, begleitete ihn Mara zum Waldkopf hinauf. Der Hund sprang auf den ersten Metern kläffend um sie herum, ließ sich tätscheln und lief ihnen schließlich weit voraus. Der wilde Kirschbaum am Waldrand verlor schon die ersten gelb und rot verfärbten Blätter. Mara ging vor ihm her, solange der Weg für zwei zu schmal war. Als sie aus dem ersten Waldstück heraustraten, zeigte er auf zwei, drei Raben auf der gemähten Wiese: Die sehe ich da jeden Morgen, und dann sagte er: Ich werde wegfahren. Sie durchfurchten mit ihren Schuhen das taunasse Gras, das knöchelhoch auf dem Weg stand. Mara hielt nicht an, schien nicht überrascht, fragte im Gehen: Wohin fährst du?

      Noch einmal. Er war ja nicht alt, es war doch keine Ewigkeit her, dass er auf einem rotschotterigen Hirtenweg am Meer entlangwanderte auf der Insel Kalymnos, ein dreistündiger Fußmarsch von Myrthies zum Hafen, rechter Hand aufsteigende Felswände, von gelbblühendem Maiginster überwuchert, abgetrocknete Riffe, hin und wieder der Pfiff eines Hirten, das Gemecker von Ziegen, unten das Blau des Wassers und über ihm der weißwolkige Himmel, das war doch erst vor einiger Zeit, oder? dass er mit dem blonden Berliner Sozialversicherungsbeamten (diplomiert in Altgriechisch) und Ines, seiner ersten großen Liebe, zu der winzigen Insel Telendos in einem Fischerboot hinübergerudert und nach einer Tritonschnecke getaucht war?

      Schließlich von Kalymnos nach Naxos und von Naxos nach Mykonos. In dem schmalen, weißgetünchten Zimmer (mit zwei Eisenbetten), fünf Uhr nachmittags, vor dem offenen Fenster flimmert heiß die Sonnenluft, er schaut auf die blauen und weißen Häuser des Hafens hinunter, auf die Windmühlen und das glitzernde Meer; Motorboote kommen von Delos, das stoßweise Trompeten eines Esels hört er, unter seinem Fenster blühen Zitronenbäume und scharlachrot die Granatäpfel, eine leichte Brise weht den Duft des Geißblattes ins Zimmer.

      Am Abend waren er und Ines mit einem jungen Schweizer Maler, den er Dionysos Stürmli nannte, durch die engen Gässchen des Ortes gezogen, und in einer Straßenkneipe hatten sie Wein getrunken; der Schweizer hatte mit den Männern getanzt, die Hände auf ihren Schultern, hatte den immer schnelleren Rhythmus mitgetanzt, bis er plötzlich auf den Kneipenboden hinklatschte, Schaum auf den Lippen. Wie alt war heute dieser Dionysos Stürmli? Er hatte ihn nie mehr gesehen. Vielleicht war er längst schon fünfzig, vielleicht noch älter als er.

      Während Jul einen Koffer mit dem Allernötigsten vollpackt, denkt er: Hier werden eben die Holunderbeeren schwarz. Von den Birken und Kirschbäumen fliegen gelb und rot die Blätter auf die Herbstwiesen, aus den Radiomeldungen fliegen ihm die Jahre entgegen und weg: Bin doch noch jung. Und fahre noch einmal. Noch einmal mit dem Koffer in kleinen Hotelzimmern sich zusammenducken (vor dem Abenteuer) vor dem Alleinsein. Das letzte oder vorletzte Mal (war das eben / oder doch schon vor Jahrzehnten?) stand er in dunkelblauem Blazer mit blitzenden Nickelknöpfen und viereckigem Köfferchen am Highway. Und erst in Kanada hatte er sich um fünf Dollar eine kurze Jeansjacke gekauft, blassblau und gespenstisch neu. Aber in Mexiko schon ohne Jacke und die Schuhe bald ohne Schnürsenkel, schmutzverkrustet, schließlich in Bastsandalen, das Khakihemd immer verschwitzt, aber den Schweiß nicht mehr gerochen in der Hängematte. Zuerst in der Hängematte geschlafen, aus Vorsicht und aus Furcht vor Ratten, vor Skorpionen, Giftspinnen und Schlangen, auch aus Ekel vor der Spucke auf dem Lehmboden, doch schließlich (um ausgestreckt auf festem Untergrund schlafen zu können) auf dem ausgelegten Schlafsack und nicht mehr an Ratten und Skorpione gedacht, nicht einmal mehr an Spucke, und das Gesicht und das Geschlecht nur noch im Pazifik gewaschen, da war er endlich frei, freier war er nie mehr gewesen. Und hatte plötzlich Hände gehabt, die reden konnten, mit allen ohne Furchtsamkeit, mit Indios, mit Indiofrauen, mit grauhaarigen Mexikanern, mit halbnackten verdreckten Kindern, mit völlig fremden Mädchen. Ohne Spiegel hatte er sich sein Gesicht ruhig und hell vorgestellt. Er lachte viel, sah auf Mangobäume, durch die offene Tür seiner Hütte auf Mangos und auf Bananenbüschel, fuhr in einem umgebauten, zu einem Wohnhaus umgebauten Lastwagen über Tausende Meter hohe Vulkanberge und badete in einem verwunschenen Indianersee; in Guadalajara kaufte er einem Mädchen aus Cleveland, Ohio, sieben rosagelbe Pfirsiche. Als Dank für Liebe.

      Er packt seine paar Klamotten ein, ohne Streit, im Gegenteil, Mara hat ihn auf das Gelbwerden des Lärchenwaldes auf der anderen Talseite aufmerksam gemacht, an den Wipfeln verfärben sich die Bäume, auch Natalie hatte dies einmal gesehen; jetzt war die Zeit des Schulbeginns, wenn Natalie heimkam und gleich nach dem Essen hinauslief mit einem Nylonsack, um die roten Kirschblätter einzusammeln und die zitronengelben der Espen. Auf den Feldwegen lagen sie heute Morgen klitschnass, manche schon faulig. In der vorhergehenden Nacht dieser wütende Regensturm. Tagsüber dann der Himmel wolkenschwer, alles (sein Kopf, die Landschaft, sein Schweigen) zugedeckt von einem tiefhängenden Dach. Morgen wird es dieses Dach nicht mehr geben, morgen wird es nicht mehr regnen, nicht im Zug, und auch im Flugzeug nicht. Schlaftabletten hat er eingepackt, er muss sich ja vor sich selbst hertreiben, er sieht, wie er (mit einer Filmpistole im Rücken) sich zur Tür hinaustreibt, immer die eigene Pistole im eigenen Rücken (er spürt den Druck), bis zum Zug, die Leute schauen, greifen aber nicht ein, er steigt über zwei Stahltreppchen in den Zug, und der Zug rollt los. Und da ist die Pistole weg. Mara


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