Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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verbrachte Jul in einer Pension „Ferrara“. Die hohe Flügeltür ließ sich nicht abschließen, und auch wenn er den Schlüssel umdrehte, genügte ein Ruck gegen die Klinke, dann war für jedermann der Eintritt frei. Er schob einen Stuhl formhalber gegen die Tür. Da sah er einen handgeschriebenen Zettel hängen, keinen Preiszettel oder Ähnliches, sondern einen mit blauem Kugelschreiber sorgfältig geschriebenen Beschwerdebrief irgendeines Vorbewohners, und keine Putzfrau hatte ihn bemerkt oder es wert gefunden, ihn an die Pensionsinhaber weiterzureichen. Der Schreiber beklagte sich im Übrigen ja auch, dass er in den acht Tagen, die er das Zimmer benützt habe, nie eine Reinemachfrau gesehen hätte, und die Urin-, Kot- und Spermaspuren auf dem Fliesenboden seien immer die gleichen geblieben. Nun, Jul war froh, endlich wieder ein Bett hinter vier Wänden für sich zu haben. Er war den ganzen Tag gefahren, mit dem Zug und dem Flugzeug, wollte eigentlich in Catania noch den Nachtbus erreichen nach Agrigent, schaffte es aber nicht, sein Flug war wegen technischer Probleme mehrmals verschoben worden. Als er endlich landete, war der letzte Bus schon weg. Jedenfalls war die Bettwäsche, soweit er bei dem mageren Lampenlicht sehen konnte, wohl unbenützt. Das nächste Hotel beim düsteren Bahnhof war, wie der junge Portier sagte, schon völlig belegt, was Jul wunderte, er wischte sich den Schweiß vom Gesicht, eine Nacht wie eine warme Sommernacht am Meer, zweiunddreißig Grad tagsüber, meinte der Portier, der ihm zu einem Bett verhelfen wollte und ihn deshalb durch eine Tür, auf der „Privat“ zu lesen war, und über eine Kellerstiege in einen Raum hinunterführte, in dem zwei Betten mit Matratzen (aber ohne Wäsche) standen und dessen zweite offene Tür, eine Art Garagentor, den Blick auf einen dunklen Hinterhof oder Lagerraum freigab. Also zog Jul mit Dank weiter, durch menschenleere, smoggraue Straßen. Dreck auf den heruntergelassenen Geschäftsrollos, er fragte werkelnde Straßenkehrer, konnte nicht glauben, dass es in Bahnhofsnähe kein zweites Hotel geben sollte, fragte auch bei einem Zeitungskiosk, alle wiesen ihn weiter „geradeaus, dann links, dann rechts“ – schließlich irrte er durch finstere Gassen, aber die Punks, die er vor einer schließenden Pizzeria fragte, gaben sich sehr freundlich: Wieder links, geradeaus und dann rechts, bis er endlich am Ende aller Straßen auf diese Pension „Ferrara“ gestoßen war.

      Eine vier Meter hohe Jalousientür ließ sich öffnen, davor ein schmales Balkönchen, dessen Stangengeländer ihm gerade bis zum Bauchnabel reichte. Er sah auf ein Gässchen, halb zugedeckt von niederen Hausdächern, nicht weit entfernt ragte eine pompöse Barockfassade auf, wohl eine Kirche. Bis zum Morgen hin hörte er immer wieder einmal das Husten eines Mannes und von Zeit zu Zeit eine keifende Frauenstimme – alle Schlafzimmerfenster bei dieser Hitze wohl wie seines geöffnet. Dann rumpelten die Mülleimer durch die Gasse. Er hatte Glück: Um sechs fand er ein Taxi, das ihn zum frühesten Autobus nach Agrigento brachte.

      Im Bett, in dem Maras Vater gestorben war, hatte er Natalie gezeugt. Ein kleines Zimmer, fast quadratisch, ein oder zwei Bilder an den weißen Wänden, Luftheizung, die in der Nacht aufgeregt röchelte, trockene Halswehluft im Winter. Aber damals war Mai.

      Dieses Haus gibt es nicht mehr. Und vielleicht ist es gut, wenn die Mauern der Erinnerung einfallen oder geschleift werden. Auch wenn damals der Löwenzahn die Wiesen rund um das Haus in gelbe Teppiche verwandelt hatte.

      Ein Doppelbett mit weichen Matratzen, grüne Fensterläden, ein Blick auf biedere, einzeln stehende Familienhäuser und ferne Bergkonturen.

      Von dem Mann, der in diesem Bett nach einem Herzinfarkt aufgehört hatte zu atmen, war ihm oft und immer wieder erzählt worden, meist für ihn Unbedeutendes, aber doch liebevoll Erinnertes. Jul hatte zugehört und dabei gedacht oder sich vorzustellen versucht, dass dies Maras Vater gewesen war und vor allem der tote Großvater von Natalie.

      Es war kalt in jenem Haus, wie es hinter den Mauern dieses Hauses immer bis zum Sommer kalt war, auch wenn die Luftheizung fauchte. Im Wohnzimmer hing sein Fotoporträt, schlohweiße Haare auf dem Kopf eines erst Fünfzigjährigen. Mit verhaltenem, gleichbleibendem Fotoblick schaute er auf den Stubentisch herab, grüngraue Augen, eine starke Nase mit weitgeschwungenen Nasenflügeln, ein sanftes Lächeln auf den geschlossenen Lippen. Wäre er noch am Leben, hättest du diese Türschwelle nie überschritten, meinte bald einmal Maras Schwester Teresa auf einer Art Familiengericht in jenem ersten Sommer.

      Was für ein staubblauer Südhimmel, unter dem er an Orangenfeldern vorbei auf sanfte Hügelwellen zufuhr, sandgelbe und bräunlichrote Dünen, zu Hügeln gehärtet, längst beackert bis zum Kamm hinauf: abgeerntete Weizenfelder, stoppelig oder schon wieder für die nächste Saat umgepflügt. Weit der Raum und unermessliches Licht, hier schien jede Einengung unmöglich. Trotzdem, dachte Jul, oder seltsam, dass Maras Vater von hier aus in die engen Tiroler Bergtäler gegangen war, sein halbes Leben dort verbrachte, umgeben von einer völlig anderen Sprache, von völlig anderen Menschen, mit einer deutschen Tirolerin Seite an Seite schlief. Links und rechts der Autobahn über weite Strecken Eukalyptusspaliere, rosa blühender Oleander auf dem Mittelstreifen. Schwarze magere Kühe weideten auf fast erdigen Wiesen. Vom fahrenden Bus aus vermochte Jul kein Gras auszunehmen, auf den Wiesen zu Hause gewiss noch grüne, saftige Weide.

      In Caltanisettas Morgenverkehr sah er mehrmals ein Riesenplakat mit einem Herrensakko plus Krawatte, statt eines Kopfes stand darauf: PRIGIONE. PASSIONE TOTALE (Gefängnis. Leidenschaft total). Auf der anderen Seite der Stadt wurde die Straße von Mandelplantagen begleitet. Und an den Hügelhängen Weinäcker, die unter ihren Plastikplanen wie Wasserflecken glänzten. Das Wort PRIGIONE blieb in ihm haften, ließ ihn nicht los, auch das Wort TOTALE nicht. Ich schreib mir das auf, sagte er sich und schrieb die zwei Wörter auf die Rückseite seiner Flugkarte. Schon im Halbdämmer des Morgens in der Pension „Ferrara“ hatte er gedacht: Ich sollte diese Geräusche festhalten, auch die Gerüche, die durch die angelehnten Balkonjalousien ins Zimmer drangen.

      Mehr und mehr grub sich die Fahrbahn in die karstiger werdende Landschaft ein, Ohrenkakteen, Agaven, Felsbrocken, manchmal ein Streifen mit Eukalypten. Im Winter würde hier alles verwandelt sein, der Karst sich wohl mit leuchtenden Farben schmücken. Das schwarze, schmiedeeiserne Gitter des Friedhoftors schloss sich mit einem knarrenden Geräusch, eine blonde, weißblonde oder grauweiße Frau zog es zu. Jetzt war Natalie tot. Aber er konnte sie doch nicht in dem Erdloch zurücklassen. Komm, hörte er Maras Stimme, komm. Sie hing an seinem Arm, und sie vermochten sich beide nicht von der Stelle zu rühren.

      In seinem Hotelzimmer (weißgekalkte Wände, drei mal vier Meter, und brauner Fliesenboden) hält er die Außen- und Innenläden geschlossen, bis auf einen Spalt, und lässt die Neonlampe an der Decke eingeschaltet. Er sitzt halbnackt hinter den Fensterläden, durch den offen gelassenen Spalt strömt ein greller Strahl. Die Sonne brennt von neun Uhr morgens auf seine Fensterwand, eine Hitze wie im Hochsommer, auch wenn Oktober ist. Ich bin tot, bin wie Natalie, denkt er, dann murmelt er diese Worte vor sich hin wie ein Gebet. Ich bin gestorben, ich bin nicht hier für ein anderes Leben.

      Ein kleines Hotel, ein fröhlich zwinkernder, untersetzter Portier mit Weinfahne. Und vor dem Hotel ein dreieckiger Platz, nicht groß, ins abschüssige Gelände geschnitten, früher ein Fischmarkt (erzählt der Portier), heute vollgestopft mit Autos, ein Pflastersträßchen führt in engem Bogen aufwärts und abwärts vorbei, gleich neben dem Hoteleingang die Trattoria „Da Totuccio“ mit japanisch geschriebener Speisekarte neben der italienischen und englischen im Glaskasten. Statt abwärts zog es Jul aufwärts, trotz mittäglicher Hitze, die Via Sapponara hinauf zur „Madonna dei Greci“, ein Tempel einstmals, dann hatten die Normannen und Spanier mit den Tempelquadern und römischen Ziegeln weitergebaut, eine stille museale Kirche mit einem ummauerten winzigen Garten, in dem jetzt eine riesige Palme und eine Zypresse standen. Er konnte diese sonnige Verlassenheit kaum fassen, beim Auf- und Abstieg durch all die schmalen Verwinkelungen, mit immer neuen winzigen Nebengässchen und Durchgängen in der Kreuz und der Quer, manchmal sah er eine Hausfrau mit Einkaufstasche, oder eine schwarzgekleidete Greisin steckte den weißhaarigen Kopf aus einer Tür; sonst alles wie ausgestorben, aber Radiomusik oder TV-Sprecherstimmen aus offenen Fenstern. Da und dort hockte eine Katze oder ein alter Mann auf der Türschwelle.

      Er kaufte sich in einer Tabaccheria


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