Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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Lebensabschnitt, war Raffaele immer überzeugt, es war sein erstes selbstgebautes Haus, das nur er (und nicht seine sizilianische Familie oder die deutsche seiner Frau) finanziert hatte, ein kleines Haus, das er Ziegel um Ziegel und Brett um Brett bis zum First hinauf mit seinem selbstverdienten Geld hatte bauen lassen. Damals, in den frühen fünfziger Jahren, hatte er, der Meeresmensch, sogar die fixe Idee, sich – wenn schon nicht als Tiroler Bauer, so doch als eine Art Agrarunternehmer – eine zusätzliche Einkommensquelle zu schaffen, vielleicht auch, um der deutschen Verwandtschaft seiner Frau etwas wie ländliche Verbundenheit zu beweisen. Kaum war die Villa gebaut, ließ er ein Waldstück roden, die Wurzelstöcke sprengen und den Boden zu einem großflächigen Erdäpfelacker umpflügen. Zeitweilig beschäftigte er bis zu achtzehn Landarbeiter für das Setzen und Ausgraben der Erdäpfel, wobei auch die Frau und die Kinder mithelfen mussten. Die schönste Stunde am Tag war, erzählte Mara, wenn Mutter zu Mittag mit den Maccaroni in Paradeissoße auftauchte.

      Tatsächlich konnten schon im ersten Erntejahr drei Waggons Erdäpfel verkauft werden, aber nach dem zweiten Jahr rebellierte Maras Mutter – sie hatte ihre Kinder und den Haushalt zu betreuen und sollte dazu noch die Arbeitskräfte im Dorf suchen, sie beaufsichtigen und bewirten, während der Advokat in der Stadt hinter dem Studiotisch saß oder in der Toga im Gerichtsgebäude große oder kleine Reden hielt. Also gab Maras Vater das Erdäpfel-Projekt auf und ließ Pfefferminze auf den Äckern säen und später Lavendel. Dazu brauchte es nur von Zeit zu Zeit einen Landarbeiter. Er habe die geernteten Kräuterberge in großen Tüchern fassen und bündeln lassen, erinnerte sich Mara, ja, einmal sei sie selbst mit Vater nach Bozen gefahren, das Auto sei innen bis zum Dach hinauf vollgepresst gewesen mit Kräuterbündeln. Im Süden der Stadt, in der Nähe der Etsch, habe der Vater die Duftbündel in einer riesigen Lagerhalle abgeliefert, also wohl auch verkauft, sagte sie. Aber das hat sich ja alles nicht ausgezahlt, Maras Mutter schüttelte noch in späteren Jahren als Witwe den Kopf, Mitleidslachen um den Mund.

      Auf den ehemaligen Erdäpfel- und späteren Minze- und Lavendelfeldern ließ der Vater schließlich Pappeln setzen, ähnlich wie es unter Mussolini in den versumpften Etschauen südlich von Meran geschehen war, Pappeln wie in der Poebene und wie in Teilen von Sizilien, Maras Meeresmenschvater ließ dort, wo er Jahre zuvor, um seine Erdäpfeläcker anlegen zu können, Fichten, Föhren und Lärchenbäume fällen und deren Strünke hatte sprengen lassen, dort ließ er nun Pappeln pflanzen, die schnell wachsen und daher schnell wieder für Bauholz abgeschnitten werden sollten. Zum Schutz vor Rotwild oder Baumdieben ließ er den Jungpappelwald mit einem hohen Stacheldrahtzaun absichern. Aber gerade der Stacheldrahtzaun war das Einzige, erzählte Mara, auf das die Diebe es abgesehen hatten in der abgelegenen Gegend, der Draht wurde ratenweise, Länge für Länge, abgezwickt und fortgebracht. Ihren Vater habe dies tief gekränkt, am Anfang habe er geradezu getobt, zuletzt sei es ihm schon egal gewesen, was mit dem Pappelwald geschah, ob die Pappeln nun wuchsen oder verkamen. Es wurde jedenfalls auch nichts aus der Pappelplantage; in kurzer Zeit sprossen die angeflogenen Samen von Fichten und Föhren, und bald wuchs wieder ein Tiroler Bergwald heran, vor allem Föhren zwischen den südländischen Pappeln, und gediehen so prächtig, dass sie die Laubbäume mehr oder weniger schnell abwürgten. Die Platanen erstickten in wenigen Jahren in einem immer finsterer werdenden Nadelgehölz, und zuletzt war der ursprüngliche Wald zurückgekehrt, den Maras Vater Jahre zuvor mit forstamtlicher Genehmigung, einer mühevoll erkämpften, erstrittenen Genehmigung, abholzen und bis auf die Wurzelstöcke hatte wegputzen lassen. Was davon übriggeblieben war, bekam Jul von Mara auf einem ihrer frühen Spaziergänge durch die Kukuruzfelder und über Wiesenpfade gezeigt: die „Grub’n“ – eine fast bis zur Grenze der Bezirksstadt Bruneck sich hinunterziehende breite Mulde, die streckenweise von einem talwärts plätschernden Bergbach durchschnitten wird. Jul sah ein langgezogenes Stück Wiese, die überging in einen zuerst schütteren, dann immer dichter verwachsenen Wald, und nach längerem Hinsehen, angespornt von Mara („Schau da links unten, und hier auch! gleich neben dem, nein, zwischen den zwei dicken Föhren dort, siehst du?“). Ja tatsächlich, er konnte, zwar mit Mühe, aber nach längerem Hinsehen konnte er vereinzelt ein paar verkümmerte Laubbäume zwischen dem Föhren- und Fichtenwald erkennen, die grünweiße Rinde von schmalen, verhungerten Pappelstämmchen.

      Maras Vater war Faschist gewesen, ein ranghoher faschistischer Funktionär, nicht irgendeiner, der Mussolini nur verehrte. Und Jul hatte Mara in einer antifaschistischen, außerparlamentarischen Bewegung kennengelernt. Er sah sie während nächtelanger Diskussionen in einer Garage ohne Autos, in einem italienischen Viertel Bozens, nicht allzu weit von der historischen, deutsch-österreichischen Altstadt entfernt, unter einem der schnell gebauten Nachkriegshäuser. Ich sah zuerst, Mara, deine scheinbar ins Ferne schauenden Augen, die mir riesengroß und blau vorkamen.

      Aber Mara saß ja immer ziemlich weit weg und das elektrische Licht mag ihn getäuscht haben, auf jeden Fall hatte sie in all der Zeit, in der er sie nur stumm beobachtete, blaue Augen, erst als er mit ihr zu reden anfing, bemerkte er, dass ihre Augen braun waren, braun wie polierte Milchschokolade. Er wusste damals nichts von ihr, außer wie sie aussah und was ihn anzog an ihr – das Italienische, das Fremde, ja, für ihn war sie ein italienisches Mädchen, also etwas Fremdes, das Andere. Er wusste nicht, kümmerte sich nicht, wer ihre Eltern waren, woher sie kam, tatsächlich erschrak er beinahe, als er erfuhr, dass sie eine deutsche Mutter hatte, und zwar eine Mutter, die sich erkundigte, wer das war, der da nach Mara gefragt hatte. Doch Jul hatte lange keine bestimmten Fragen im Sinn. Er hörte der politischen Debatte in dem Garagenkeller abends bis weit über Mitternacht zu, war im Großen und Ganzen einverstanden, wenn es um den Sinn oder die Notwendigkeit von Veränderung ging (ich hätte gerne an einer Veränderung mit Hand angelegt – wie auch immer – ich hätte an jeder Art, Versuchsart von Revolution mitgemacht, ich weiß nicht … hab mir nie im Einzelnen Gedanken gemacht, ob das meine Haut gekostet hätte oder anderer Leute Blut, ich war jedenfalls bereit, auf der anderen Seite zu stehen, auf der Seite jener, denen nicht zugeklatscht wurde, ich wollte was tun für eine andere, natürlich gerechtere Zukunft). Aber konkrete Vorstellungen zu irgendeiner Veränderung gewann er nicht, sah keine Möglichkeit zur Verwirklichung all dieser Dinge, die sie in den nächtlichen Diskussionsrunden besprachen, es ging tatsächlich nicht so sehr um bestimmte Vorschläge oder Pläne, sondern vielmehr um die Erfassung und die Beurteilung der erlebten gesellschaftlichen Situation. Gegen Mitternacht überkam ihn zunehmend Müdigkeit, sein Schlafwiderstand ließ nach, es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer, die Augen offen zu halten. Die Garagenwände waren kahl, rau in ihrer betonierten Nacktheit, nicht einmal ein Plakat, kein Poster, kein Manifest hingen daran, alles Klebbare löste sich nach einem Tag oder schon in einer Nacht von den Wänden und fiel zu Boden, rollte sich ein. Jul schaute auf diese grauen Wände, hörte die düsteren Analysen und verglich Maras Augen mit den Augen der anderen.

      Er weiß nicht den Tag und auch nicht, wo er erfahren hat, dass Maras Vater Faschist gewesen war, wahrscheinlich hatte Mara es ihm gesagt, aber dass sie die Tochter eines toten Faschisten war, störte seine Gefühle nicht. Dass er und sie zusammen auf die Straße gingen, um auf der Seite der anderen zu sein, der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, vielleicht löschte das für sie die Vergangenheit ihrer Väter aus: Auch Juls Vater war ein Nazi gewesen, kein großer und kein kleiner Funktionär, aber doch einer von den vielen Mitläufern.

      Als sie sich zum ersten Mal alleine in einer Großstadt trafen, in Rom, kam Mara in blauverwaschenen Jeans und einer Strohtasche, worin sie ihre paar Sachen hatte, aus ihrer Universitätsstadt Mailand, nach Tagen von Straßenkämpfen mit der Polizei (in ihrer Hochschule hatten sie Arbeitslose und Obdachlose zu Hunderten einquartiert und sich mit ihnen verbarrikadiert). Sie kam mit dem Morgenzug kurz nach sieben. Er wartete am Ende des Bahnsteigs im Gewühl der Ankommenden und Abreisenden und sah sie trotzdem sehr schnell, ihr weißes, schmales Gesicht, fast ohne Lächeln, die Augen scheinbar gesenkt, da kam sie mit müde geschwenkter Strohtasche, ihrem einzigen Gepäck, auf ihn zu. Sie liebten sich in einem rottapezierten Attica-Zimmer, das man nur über einer offenen Dachterrasse des Hotels erreichen konnte. Und nachdem sie auf ausgebreiteten Zeitungen, noch immer auf dem Bett, Wurst und Käse, auch kalte Hühnerstücke, zusammen mit Oliven und Essiggurken gegessen und Wein dazu getrunken hatten, lasen sie gemeinsam in dem Roman „Vogliamo


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