Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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ihrer Mutter wohne, wenn sie von Mailand nach Hause kam, ihr Vater sei schon vor einigen Jahren gestorben. Bei einem Glas Wein in einer Bar erzählte der Kumpel ihm auch, dass Mara sehr gut Ski fahren könne. Jul hatte in diesem Winter mit viel zu langen, unerfahren gekauften Skiern ein paar Anfängerstunden absolviert auf einem der stadtnahen Berge, der Seiser Alm, und er wollte nicht alleine Ski laufen gehen. Noch in der Bar fand er im Telefonbuch die Nummer ihrer Familie und rief sofort an. Er war erstaunt, als sich eine deutsche Frauenstimme meldete, schrill und neugierig, es war ihre Mutter, die ihn wissen ließ, dass Mara sehr wahrscheinlich am nächsten Samstag von Mailand kommen werde. Er werde dann wieder anrufen, versprach Jul, und er rief auch wieder an. Als er Maras Stimme aus der Telefonmuschel hörte, wusste er plötzlich nichts mehr von ihrem Gesicht. Sie wusste ihrerseits nicht, mit wem sie sprach, er vergaß oder vermied es, sie daran zu erinnern, dass er vor mehr als einem halben Jahr mit ihr über eine Bergstraße talwärts gerast war. Später erzählte sie ihm, sie habe nur verstanden, dass er ein compagno sei, der mit ihr einen Skiausflug machen wolle, und dagegen fiel ihr nichts ein.

      Jul hatte damals in einem der neuesten Wohntürme eine piekfeine Garçonnière mit Bad und Balkon und einem freien Blick zum Wald des Kohlerer Berges, und wenn er sich scharf nach links wandte, konnte er hinter den Smogwolken die Bergkette des „Rosengartens“ ausmachen. Um die Einrichtung des Appartements hatte er sich aber kaum gekümmert. So stand die Küche völlig leer mit geweißelten Wänden da, ohne Herd oder Abstellregale. Er benützte den Wasserhahn in der Küche nur, um zu trinken oder sich heißes Wasser über einen Löffel Nescafé rinnen zu lassen. Auch schlug er manchmal (fast immer am Morgen) ein rohes Ei am Rand des Wasserhahns auf, um es im Stehen auszuschlürfen. Im geräumigen Zimmer, das zum Balkon hin eine Glaswand hatte (sein großes, sein einziges Fenster), waren die Seitenwände auch leer, nichts als weiß, am Boden war längs der Wand, gegenüber dem Balkonfenster, eine Matratze gebreitet und davor auf umgekippten leeren Äpfelkisten eine rotgestrichene Pressplatte, auf der seine Schreibmaschine und ein paar Bücher lagen. Das war alles. Im angrenzenden, bis in Brusthöhe weißgekachelten Bad ragte seine Zahnbürste aus einem Glas unter dem Spiegel und auf einem Hocker bauschte sich seine Toilettentasche. Es war, als lebte er in einer äußerst bequemen Felsnische über den Dächern der Stadt, und er war nicht einmal allein, er hatte eine Katze, eine Siamesin, die ihn schon seit Jahren begleitete.

      Im Vorraum neben der Tür standen seine Blizzard-Ski, zwei Meter zehn. Er war schon startbereit, im schwarzen Skianzug (mit einem weißen Lastexstreifen an den Außenseiten der Hosen, Gustav-Thöni-Look), als seine Wohnungsklingel, wie vereinbart, um acht Uhr morgens losschrillte. In der Nacht hatte es stark geschneit, Jul trat mit seinen Moonboots auf den Schneeteppich des Balkons hinaus: Unten stand Mara mit roter Wollmütze neben einem Kleinwagen, dessen Dach vollgepackt war mit Skiern. Sie schwenkte einen Arm, als sie ihn erblickte, und er hätte ihr gerne ein paar Schneebälle hinuntergeworfen, er rief aber nur: Ich komme, vengo subito! Irgendwie war er enttäuscht oder doch irritiert, dass sie nicht allein gekommen war, sondern sich typisch italienisch (wie er dachte) abgesichert hatte mit einer Begleitung. Im Autobianchi saßen ihr jüngerer Bruder Carmine mit seiner Verlobten und ein gemeinsamer Jugendfreund, Luca, ein compagno, den Jul von der Garage her kannte, ohne zu wissen, dass er für Mara mehr als ein Kindheitsfreund war, mit dem sie nicht nur die letzten Zeltferien in Kalabrien verbracht hatte. Und wie hätte er den Tod seiner noch nicht geborenen Natalie mit diesem milde lächelnden Weltfreundgesicht Luca in irgendeine Ahnungsnähe bringen sollen, und überhaupt das Unglück seiner (damals noch nicht vorstellbaren) Ehe. Jul gab allen die Hand und setzte sich vorne neben den chauffierenden Bruder. Jedenfalls trug Mara eine geranienrote Jacke und über der roten Wollmütze eine Skibrille, die ihr in seiner Erinnerung ein wenig das Aussehen eines sportlichen Maikäfers verlieh. Sie fuhren auf den Karerpass, und zwar zur Paulinerpiste, von der er routinierte Skifahrer schon hatte schwärmen gehört. Wahrscheinlich hatte er nicht viel geredet während dieser Autofahrt hinaus aus der selten so weiß wattierten Stadt. Zum ersten Mal, dass er mit Mara in einem engen Raum eingepfercht war, in diesem kleinzylindrigen Wagen, und dennoch fühlte er sich gleichgültig bis zur Glücksverachtung. Ihren geranienroten Jackenrücken und ihren ebenso grellroten Mützenhinterkopf im Blick, zuckelte er später hinter Mara in einem blechernen Liftsessel zur Pauliner Höhe hinauf. Solange sie zwischen Bäumen hindurchschaukelten, weideten sich seine Augen vor allem an den dickgepolsterten, von Schnee niedergedrückten Zweigen, kleinere Bäume waren fast ganz in der tiefen Neuschneeschicht versunken und gerade noch erkennbar als Kuppen oder weiße Kegel. Bisher war er nur auf glatt präparierten Skipisten gefahren, aber hier war alles anders. Sie waren unter den Ersten, die an diesem Tag die Bergstation erreichten; man hatte eine Slalomrinne durch den meterhohen Neuschnee gezogen, jeder Rechtsschwung oder Linksschwung führte um einen aufgetürmten Schneehügel herum – für Jul eine schwer zu meisternde Herausforderung. Außerdem sah er sich, kaum dass er mit angeschnallten Skiern aus dem Sesselkübel gerutscht war, nur zwei Meter entfernt vom Rand eines Sturzhanges: Ein unvermeidbarer Raketenstart, dachte er, und Mara war schon gestartet, mit lockerem Schwung, die anderen bereits vor ihr abwärts gewedelt, aber er konnte nicht anders als kerzengerade hinunter, schaffte nicht einmal den ersten Linksschwung, oder vielleicht doch, den zweiten nach rechts jedenfalls nicht mehr, da steckte er schon in einem der Schneehaufen, im ersten oder zweiten, immerhin fand er noch seine Brille und warf sich wieder nach unten, weit kam er freilich nicht, lag sehr bald mit dem Gesicht im Neuschnee der letzten Nacht, ziemlich tief eingebettet, und hatte nur mehr einen Ski angeschnallt und keine Brille mehr, grub nach der Brille, fand den anderen Ski und schließlich sogar seine Augengläser –, weit und breit keine Mara. Damit war für ihn dieser Skiausflug oder überhaupt das Abenteuer mit Mara erledigt. Er trocknete mit dem Schnäuztuch die Brille, schulterte seine gelben Blizzard und stapfte quer über die Piste durch den Pulverschnee. Ihm war alles egal, er konnte nicht Ski fahren, Mara wusste nun Bescheid, und so wollte er diesen Tag hinnehmen, wie er eben verlief. Jul versank bis über die Knie im Schnee, aber es war ein blauer Himmel mit wenigen bauschig-weißen Wolken über ihm, die Sonne machte ihn schwitzen, er öffnete den Reißverschluss der Jacke, wollte so schnell wie möglich talwärts kommen zu einer Straße oder zu einer Hütte. Schließlich sah er geparkte Autos schräg unter sich und das Dach einer Gastwirtschaft, eine dieser schnell und hübsch hingebauten Heuschupfenkopien. Minuten später saß er auf einem steilen Hocker in der morgendlich leeren, doch gut gewärmten Stube an der Schank und staunte nicht wenig, dass ihn vor dem Hintergrund der reich bestückten Flaschenwand ein bekanntes Mädchengesicht anlachte. Seine Brille war noch etwas dampfbeschlagen von der jähen Wärme, trotzdem lachte ihn untrüglich Martina an, eine der Sekretärinnen aus seiner Redaktion. Sie helfe ihrem Bruder, dem Wirt hier, manchmal am Wochenende aus, klärte sie ihn augenblinzelnd auf. Es war wohl erst halb zehn, und Jul hockte da an der Theke mit schneegepudertem Skianzug, jedenfalls in den ersten Minuten, dann lösten sich auch die Eiskruspen von seinem Bart, und er zog die wasserdichte, tropfende Jacke aus. Er ließ sich Whisky einschenken mit viel Soda, und bald danach noch einmal. Anfangs war er sogar ein wenig wütend auf Mara und die compagni, die hinuntergesaust waren, ohne sich zu kümmern, ob er ihnen folgen könnte, doch bald war ihm klar, dass er sich höchstens über sich selbst hätte ärgern müssen, jedenfalls wusste er, dass er vor Mara eine lächerliche Figur abgegeben hatte und damit diesen Flirtversuch auf Skiern vergessen sollte. Martina nahm sich, über die Budel gelehnt, Zeit für ihn, hörte ihm zu, schäkerte. Und sie lachten beide viel, besonders als er sein Herumwühlen im Schnee auf der Suche nach der Brille schilderte, sein Aufstehen und erneutes Starten und erneutes Brillensuchen. Je länger er Martinas Lachen im Ohr hatte, desto selbstverständlicher schien ihm schließlich ihr Vorschlag, zusammenzubleiben, miteinander zu Mittag zu essen, dann habe sie ihre Nachmittagsruhe, könne tun, was sie wolle in ihrem Zimmer im Haus nebenan, ihr Bruder, der die Gastwirtschaft führe, sei nicht pingelig. Sie könnten morgen früh mit ihrem Wagen ins Büro fahren, sagte sie. Draußen lag der Schnee meterhoch unter der Vormittagssonne, allmählich füllte sich die Gaststube mit fröhlich geröteten Gesichtern. Ein italienisch-deutsches Stimmengewirr umrauschte ihn. Martina musste nur die Gäste bedienen, die sich an die Theke setzten, so dass er sie dauernd vor seinen Augen hatte, witzelnd und mit lustiger Zunge. Da hörte er plötzlich hinter sich seinen Namen rufen, wandte sich um und sah Mara in der aufgerissenen Tür stehen, wie aus einer Schneemulde aufgetaucht, mit aufgeschnallten Skischuhen, in der geranienroten Jacke und vor allem mit der energisch über die Mützenstirn hochgeschobenen Riesenbrille: Finalmente, da bist du ja! schnaufte


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