Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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dass er Maras Haare berühren durfte und auch ihr Gesicht. Sie blieben auf einer Brücke stehen, lauschten auf das Lärmen des Wassers, und Jul zog den Ehering seiner toten Mutter von seinem Finger und warf ihn in den Bergbach, um Mara näher zu sein.

      Seither begann Mara ihm aus Mailand zu schreiben, auf kuriosem Format, Kärtchen, die in vier mal sechs Zentimeter kleine Kuverts hineinpassten, witzige Sätze, zum Beispiel: Ich bin heute Morgen einer Bürste begegnet.

      Jul hatte kein Telefon. Aber eines Tages klingelte die Wohnungsglocke, und als er die Tür öffnete, sprang die Siamkatze von seiner auf Maras Schulter, kaum dass sie ihre Arme um ihn gelegt hatte. Er lachte voll Stolz auf seine Katze, die sich über Maras leicht gebeugten Nacken schmiegte, es war das erste Mal, dass Mara seine Garçonnière betrat. Sie hatte es ihm zuletzt versprochen (als der Ring in den sprudelnden Bach geflogen war). Trotzdem war er überrascht, denn Mara war vom Bahnhof direkt zu ihm gekommen, ihre Mutter wusste nicht, dass sie in der Stadt war. Er ließ das heiße Wasser in das Waschbecken der Küche laufen, schöpfte Nescafépulver in zwei Gläser und sah dann, wie Mara daran nippte und zurückzuckte, sie lächelte und sah sich zwischen Zimmer und Balkon um, er nahm ihr das Kaffeeglas aus der Hand. Es war ihr erstes Geheimnis: dass sie da auf dem Betonbalkon standen und über die Häuser schauten, Mara vielleicht auch in Richtung des Hauses ihrer Mutter blickte, die sie jetzt in Mailand vermutete.

      Juls Matratzenbett überragte vielleicht um zwanzig Zentimeter den Parkettboden; seine Siamkatze schlief am liebsten auf dem Kopfpolster, aber sie verschwand sofort, als Mara sich auf der Decke niederließ. Wahrscheinlich vergingen Minuten, möglicherweise auch eine Viertelstunde, bis ihm Maras Veränderung auffiel, eine Veränderung ihrer Haut, zuerst sah er diese winzigen roten Flecken an ihrem Gesicht, dann auf ihrem Hals und auf den Brüsten, ihr ganzer Körper war übersät von diesem Scharlachrot. Er erschrak und dachte, Maras Körper reagiere auf ihn allergisch, auf seinen Bart oder weiß was sonst. Mara atmete schwer, er zog sie hoch, und sie atmete auch stehend nur mit Mühe, hustete, röchelte, er wagte sie nicht mehr mit einer Fingerspitze anzurühren. Sie musste möglichst schnell zu einem Arzt gebracht werden, aber Mara wollte nichts von Ambulatorium oder Krankenhaus hören, sie sagte, ihre Familie habe seit jeher einen Hausarzt, und dem werde sie sich anvertrauen, daher müsse sie, und zwar gleich, zu ihrer Mutter. Es waren ja nur hundert oder zweihundert Meter bis zu ihrem Haus, Jul begleitete sie, aber sie wollte allein mit dem Aufzug in den dritten Stock fahren – er könne sie am Abend anrufen.

      Ihr Hausarzt war schon ein älterer Herr, wahrscheinlich einer, der Maras Vater noch aus früheren Zeiten gekannt hatte. Er diagnostizierte bei Mara eine akute Rippenfellentzündung und verordnete zwei Wochen strengster Bettruhe und täglich eine Penicillinspritze. Und so bekam Mara ein gutes Dutzend Ampullen injiziert, obwohl sie keinerlei erkältungsbedingte Entzündung hatte, sondern, wie sich später herausstellte, eine asthmatische Allergie, verursacht und ausgelöst durch Pulcinella, Juls Siamkatze.

      Als er am Abend anrief, bekam er nicht Maras ruhige Stimme zu hören, sondern eine Unglückslitanei vonseiten ihrer Mutter, mit freundlich hoch angesetzter Stimme, die sich öfters überschlug, aber ohne Vorwurf ihm gegenüber. Jul begann Mara zu besuchen, betrat zum ersten Mal dieses Haus am Gerichtsplatz, das ihr Vater nicht lange vor seinem Tod gebaut hatte. Ein nüchternes, unauffälliges Wohnhaus der frühen sechziger Jahre, auf italienische Weise rational, mit schmalen, langgezogenen Balkonen und einem Aufzug. Maras Mutter führte ihn zu einem Zimmer, das wie eine Zelle zwischen zwei anderen in einer Art Klostergang lag, einem Seitenarm der großen Wohnung. Plötzlich sah Jul nicht mehr aus einer Garagenperspektive auf ein großäugig vor sich hin sinnierendes Mädchengesicht, sondern stand vor einem fremden Bett, sah auf Mund und Augen, die in Polster versinken wollten. Er war jäh in eine Nähe gerückt und fühlte sich ratlos, auch irgendwie schuldig.

      Er kam jeden Tag und er war Maras Mutter dankbar, dass sie ihm so selbstverständlich die Wohnungstür öffnete und ihn die paar Schritte bis zu diesem Zellenzimmer allein weitergehen ließ. Obwohl ihm bewusst war, dass er aus der Sicht dieser Frau wahrscheinlich wie ein Unglück durch die Tür hereintrat. Er war um einiges älter als Mara und hatte eine völlig andere Welt hinter sich. Und schon seine erste Annäherung hatte Mara krank gemacht. Aber Jul tat, was er tat, mit der Leichtigkeit eines Menschen, der sich auf Essen und Trinken freut, aus einer Notwendigkeit, die wie Atmen war. Von jetzt an gehörten sie zusammen. Als Mara sich wieder erholt hatte und nach Mailand zurückfuhr, verabredeten sie, sich Mitte März in Rom zu treffen.

      Er hatte einen Kaffee am Bahnhofsbuffet in Passau getrunken und eine Buttersemmel mit Käse gegessen, bevor er Mara anrief. Maras Stimme wird er für immer im Ohr haben: Ich kann es dir nicht sagen, ich kann es dir nicht sagen. Nun sag schon endlich, was ist – hatte er in die Telefonmuschel geschrien. Und wusste doch schon alles.

      Als hätte er etwas versäumt, als müsste er etwas suchen, rannte Jul aus dem Hotel hinaus und durch die verwinkelten Gangliengassen die Salita della Madonna dei Greci hinauf, über die Scaletta Gubernante, hörte am helllichten Sonnenwerktag singende Frauenstimmen aus der Kirche und schlappte an Arbeitern vorbei, die oben auf dem bischöflichen Hügel den Tuffstein an den Mauern der Kathedrale sauberkratzten. Er stieg über die weitgeschwungenen Steinstufen zum Hauptportal hinauf. Es war verschlossen, und so drehte er dem Dom wieder den Rücken zu, ja, er schwenkte seine Arme wie Flügel, weit und breit kein Tourist, kein Passant. Zwischen den Hausdächern blitzte das Meeresblau auf, und rechter Hand sah er tief unten das von Straßenbändern durchzogene Hügelland, Flecken von gedämpftem Mandelbaumgrün, auch Olivenhaine und Weinäcker, vor allem aber die graubraunen, viereckigen Flächen der abgeernteten Weizenfelder. Wo immer er Dörfer ausmachte, waren sie an Hügelhänge oder an die Flanke eines Bergrückens hingeduckt. Bist du mit deinem Leben zufrieden? hatte er unvermittelt Zia Delia gefragt. Wie oder was hätte sie darauf antworten sollen? Sie zuckte die Schultern, drehte ihre nach oben gerichteten Handflächen hin und her. Hab keine Wahl, sagte sie mit erstaunten (oder erschrockenen?) blaugrauen Augen, und er hatte sie zu verstehen geglaubt: Hab nie viel auswählen können. Ihr Mann habe immer jede Wahl gehabt, mehr als genug Frauen und Mädchen, sagte sie und schüttelte ihre hochgehobene Hand.

      Mehrmals umrundete Jul die Piazza Don Giovanni Minzoni unterhalb der Kathedrale, trank in der Bar „Duomo“ einen Campari, den der Bruder des Barkeepers erst aus dem Magazin-Verschlag vom Hinterhof holen musste. Langsam, als könnte er so den latenten Druck in seinem Kopf wenigstens im Gleichgewicht halten, schlug Jul dann (mit gerecktem Oberkörper) den Vicolo Seminario hinunter zum Stadtzentrum ein, es wäre auch die Richtung zum Meer gewesen. Vor einem einst wohl häufig aufgesuchten Ladeneingang blieb er stehen: Eine verrammelte Holztür, die bräunlichrote Farbe in winzigen Äderungen zersprungen, blätterte ab, an der Mauer links von der Tür konnte er auf einem verrosteten Blech noch „burro naturale“ entziffern. Als er von dem Vicolo Seminario in die Via Lo Cicero einbog, mit diesem ungebremsten Abwärtsschritt, erschrak er – fast wäre er auf eine kauernde Männergestalt aufgelaufen. Vor einem dieser links und rechts sich immer wieder einmal öffnenden kleinen Hinterhöfe, eigentlich Vorhöfe (cortili), mit oft mehr als einem Stiegenaufgang, also halb auf der Gasse, halb schon innerhalb eines solchen cortile (c. Balletti oder cortile Aranciario), blickte er auf einen gekrümmten Männerrücken, und erst im zweiten Moment begriff er, dass ein schwarzstoppeliger, eher junger Mann über einer Katze kniete. Nach einem flüchtigen Blick wollte Jul schnell vorbei, aber da wandte sich der Fremde ihm zu und hob ihm sogar die Katze entgegen: Verletzt, si è fatto male, sagte er in gutem Italienisch, nicht im Dialekt, auch wenn die Aussprache ihn als Sizilianer auswies. Als ob er ihn als Zeugen erwartet hätte, führte er Jul vor, wie schlecht es der Katze ging, genauer einem Kätzchen, das Jul auf zwei oder drei Monate schätzte. Das Tier zog eine Hinterpfote schlapp über das Pflaster, konnte er deutlich erkennen, aber der junge Sizilianer wollte ihn die Verletzung noch genauer sehen lassen, reckte ihm das braunweiß gefleckte Kätzchen mit einer Hand entgegen, und da sah Jul die Bisswunde, eigentlich die Abbisswunde: Am rechten Hinterbein fehlte die Pfote. Eine Kanalratte vielleicht, kaum ein Hundebiss, meinte der Schwarzstoppelige mit strengem Ernst im Gesicht. In diesem Moment hörte Jul sich reden, sah geradezu, wie er sich an die Stirn griff, weil er so Unwichtiges daherredete: Er sei ein Katzenliebhaber, sagte er, habe jahrelang eine Siamkatze bei sich gehabt, hier freilich sei er ein Fremder, rief er aus und hob


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