Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


Скачать книгу
müsste zu einem Tierarzt gebracht werden, sagte Jul. Und Angelo, der eine rostighelle Lederjacke trug, nickte zustimmend, andiamo! forderte er sich, die Katze und Jul auf, als ob sie sich nicht zufällig, sondern fix verabredet in dieser Via Lo Cicero getroffen hätten. Aber sie gingen nicht zu einem Veterinär, und vielleicht gab es in dieser Stadt auch keine Tierklinik, immerhin trug Angelo die Katze behutsam an seiner Brust und achtete nicht einmal auf die Blutflecken, die seine Lederjacke abbekam. Am Ende der Gasse überquerten sie die Via Atenea und stapften die abschüssige Via Bagli hinunter, wobei Jul immer wieder den Meereshorizont hinter der einen oder anderen Biegung in den Blick bekam. Der Platz, von dem eine enge Betontreppe zu Angelos Behausung hinaufführte, war auf einer Seite flankiert von vielstöckigen Büro- und Wohntürmen und auf der anderen Seite von einer Kirche mit Glockenturm. Vor seiner Wohnungstür angekommen, reichte Angelo ihm die Katze. Und dann stand Jul mit dem verletzten Tier in den Händen in einem Maleratelier und sah von einem Fenster auf diesen Parkplatz mit Tankstelle hinunter. Während er Angelo half, die Bisswunde, also die Amputationsstelle, zu versorgen (Angelo goss eine Desinfektionsflüssigkeit darüber, Jul hielt die Katze fest umklammert, bis sie, vielfach bandagiert, in eine Kartonschachtel gelegt wurde, die Angelo mit einem Pullover ausgelegt hatte), blickte Jul, ob er wollte oder nicht, auf großflächige Ölbilder, auf Schiffskiele, die in popartiger Ausführung bis auf Handbreite aufeinander zuzustreben schienen. Es war nicht so, dass Angelo ihm seine Arbeiten vorgeführt hätte. Im Gegenteil, er stand nicht neben ihm, lehnte auch nicht an einer Wand und wies ihn nicht auf dieses oder jenes Detail hin. Nein, er winkte ihm zu folgen und führte ihn über eine winkelige Stiege auf eine kleine Dachterrasse über dem Atelier und genoss sichtlich Juls Staunen über den großartigen Ausblick. Tatsächlich glaubte Jul das Meer zu seinen Füßen zu haben, so prall leuchtete das Blau des Wassers bis zum Horizont. Unter sich sah er freilich auch die Tankstelle, davor die daran vorbeiziehende Via Empedocle und direkt unter dieser Straße Zuggeleise, dahinter eine Häuserkulisse, die aber den Meereshorizont nicht zu verdecken vermochte.

      Angelo bot ihm ein Glas Rotwein an aus einer grünen Gallonenflasche. Und sie begannen zu reden. Tranken und redeten mitten am Tag, redeten über alles, auch über Angelos Vater, den er früh verloren habe, aber von dem er wusste, dass er dort oben im Norden, in diesem Alto Adige, seine Rekrutenzeit verbracht und sich verliebt hatte in eine Südtirolerin (una ragazza tedesca). Seine Geschichte ist auch meine Geschichte, murmelte Angelo, wenigstens soweit sie seinen Vater zu einem glücklichen oder zu einem unglücklichen Menschen gemacht habe.

      Dobbiamo vederci quanto possibile – hatte Angelo irgendwann am Nachmittag gesagt. Und Jul versprach ihn anzurufen. Aber er wusste schon in diesem Moment, dass es zumindest halb gelogen war.

      Natürlich wusste Mara bereits (wie vermutlich viele seiner Freunde in der Garage), dass er verheiratet und noch nicht geschieden war, er selbst hatte es ihr auf dem Spaziergang erzählt, als er den Ring seiner Mutter in den Bach warf. Und später in Rom hatten sie lange darüber geredet, während das erste Frühlingsgewitter, das sie gemeinsam erlebten, sich mit Blitz und Donner über der Stadt entlud; vom Bett aus sahen sie durch die offene Mansardentür, wie die dicken Regentropfen auf den Fliesen der Terrasse aufsprangen und zerplatzten. Er war schon fast drei Jahre von seiner Frau getrennt, hatte sich aber in all dieser Zeit nie ernsthaft Gedanken über eine Scheidung gemacht. Es war früher Nachmittag, als Mara und er dem Regentrommeln in Rom zuhörten, und Jul schwor sich wortlos, diese Nähe mit Mara für immer zu bewahren.

      Mein Vater erzählte gerne, aber welche Geschichten? fragte Mara sich selbst in diesem römischen Hotelzimmer. Besonders erinnerte sie sich, dass er vom Krieg erzählte, und zwar vom Krieg in Albanien, doch sogar davon war ihr nur seine oft wiederholte Beschreibung der kahlen Berge in Erinnerung geblieben. Er wollte immer, sagte sie, dass ich Tänzerin würde, ich war noch sehr klein und durfte auf seinem Schoß sitzen, ich wollte ihn nicht enttäuschen und tanzte auf dem grauen Teppich in der Stube, bis ich schwindlig wurde und hinfiel. Später malte ich Bilder für ihn, er legte sie in eine Schublade, und als er starb, gab mir Mutter einige davon, und ich habe sie verloren.

      Mara und Jul gingen nicht tanzen, das heißt, sie gingen nie auf einen Ball oder in ein Night, aber sie tanzten miteinander auf dem gemeindeeigenen Wiesenstück gegenüber dem väterlichen Ferienhaus. Sie tanzten auf dem Kirchweihfest im Juni, auf der Bretterbühne und zu den üblichen Schlagerschnulzen, deutschen Marsch- und Foxtrottrhythmen. Nein, sie gingen nie am Abend aus, um zu tanzen. Obwohl sie viel getanzt haben auf ihre Weise, wollte ihm scheinen, sogar wenn sie sich stocksteif gegenübersaßen und nichts als redeten.

      Mara erzählte gerne von ihrer Kindheit, vom Leben in den Wäldern und auf den Wiesen rund um das Landhaus, aber sie erzählte auch gerne von den frühen Jahren in der Stadt, zuerst in dem villenartigen Haus hinter dem Corso d’Italia, an einem schmalen Wiesenkanal gelegen, in den sie ihre Füße hineintauchen konnte, an dem sie und ihr jüngerer Bruder Mühlen bauten und Bootsanlegestellen und in den sie einmal hineingerutscht und beinahe darin ertrunken wäre; dieser Stadtbach durchquerte kaum fünfzig Meter hinter dem Corso damals noch Wiesen mit Kirschbäumen und Weinpergeln. Nicht weit davon entfernt hatte ihr Vater eine ganze Häuserzeile errichten lassen, eine solide Miethäuserfront. Und das erste Haus davon stand, als es fertig war, für eine längere Zeitspanne beinahe idyllisch allein da; auf den Weinäckern an seiner Rückseite wurden im Frühherbst noch Trauben geerntet, während die Frontseite auf einen weiten, noch unasphaltierten Platz sah, den zwei protzige Gebäude aus der Faschistenzeit flankierten (mit breit angelegten Treppenaufgängen): der Justizpalast und das Finanzamt. Ich ging in die erste Klasse der Mittelschule, als wir von der Villa am Bach in das Haus am Gerichtsplatz zogen, erinnerte sich Mara. Links und rechts ihres Hauses sei noch an den anderen (vom Vater finanzierten) Häusern gebaut worden. Wir Kinder lebten zwischen Baustellen, es gab große Erdhügel, auf denen wir kurvige Bahnen für Murmeln anlegten, und auf der damals noch nicht geteerten, sondern mit weißem Splitterkies bedeckten Piazza spielten wir den Giro d’Italia nach. Der große, weite Platz sei für sie und für ihren jüngeren Bruder aber nicht nur Spielplatz, sondern im buchstäblichen Sinn auch ein Schauplatz gewesen, so etwas wie eine Kino- oder Theaterbühne, auf die sie vom Küchenfenster des dritten Stockes in schulfreien Stunden hinuntergeschaut hätten, zum Beispiel am Sonntag, wenn die Erwachsenen auf dem Kies „tamburello“ spielten, eine Art Schlagballspiel.

      Später, sagte Mara, als aus der Piazza ein Parkplatz geworden sei, habe sie oft gegen Abend am Küchenfenster sitzend auf das Auftauchen von Vaters Auto gewartet. Immer wieder einmal habe sie mit ihrem Bruder Carmine die Autos gezählt, die vom Corso zum Gerichtsplatz einbogen. Und sie hätten gewettet, wer der Anzahl von Autos am nächsten käme, die innerhalb von einer oder von zwei bis drei Minuten auf den Parkplatz einfahren würden. Es war immer am Abend (er sah Maras Lächeln noch jetzt im Erinnern), und wir dachten nur an Vater und fragten uns, ob er jetzt oder in fünf Minuten oder wann endlich er mit seinem Fiat in den Platz einböge. Er war ja viel unterwegs, aber am Freitagabend kam er immer von Bruneck nach Hause, in Bruneck hatte er nach dem Krieg eine Kanzlei in der rötlichbraun getäfelten Stube unserer Großmutter, seiner Schwiegermutter, eingerichtet. Das Erste, was wir sahen, wenn er aus dem Auto stieg, war seine dicke, schwarze Aktentasche, die er aus der Tür hinausreckte, dann erst tauchte vorsichtig seine Stirnglatze auf, die weißseidigen Haare. Carmine rannte das Stiegenhaus hinunter, um Papà die Aktentasche abzunehmen, aber viel an Papier war darin nie, eher etwas zum Essen, oft ein großes Stück Speck, das er von einem bäuerlichen Klienten bekommen hatte. Wenn er guter Laune gewesen sei, habe Papà nach dem Abendessen meistens etwas erzählt, Carmine habe die Pantoffeln geholt und ihm die Straßenschuhe von den Füßen gezogen, und sie, Mara und Carmine, hätten links und rechts des grüngepolsterten Sessels sitzen dürfen, aber auf diesem Polstersessel sei Vater leider schnell müde geworden und eingeschlafen. Wir Kinder durften dann im Wohnzimmer nur mehr auf Zehenspitzen gehen, hatte Mara sich nicht nur im Hotelzimmer in Rom erinnert, sondern ihm auch noch später mehrmals erzählt: Mama ließ uns dort nicht einmal lesen oder die Schulaufgaben machen, ich habe noch heute Papàs Schnarchen nach dem Essen im Ohr.

      Wirklich fröhlich sei Vater ausnahmslos an Sonntagen und Feiertagen gewesen, da habe Mama ja besonders üppig und köstlich gekocht, rotoli alla siciliana zum Beispiel, und dazu habe Papà meistens Freunde eingeladen. Wir Kinder, zürnte (im Nachhinein) Mara,


Скачать книгу