Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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lachend ab: So früh am Morgen? Sie stand in der Tür und winkte ihm zu kommen. Und so murmelte er ein paar entschuldigende Worte zu Martina hin und rutschte vom Hocker herunter. Damit war alles entschieden, weiß er jetzt. Mara hatte ihn gesucht, war, wie sie ihm erzählte, kreuz und quer über die Piste gefahren, war den Kübellift hinauf und wieder herunter, und schließlich hatte sie angefangen, die umliegenden Imbissstuben und Einkehrhütten abzuklopfen. Wenn er daran dachte, sah er blitzartig immer eine Tür aufgehen, hörte das kurze, polternde Geräusch schwerer Skischuhe und sah Maras Gesicht – forschend, erfreut, empört. Bisher hatte er sie meistens stumm erlebt, still und zurückhaltend. Ihre Scheu zog ihn an. Und jetzt hatte er sie wütend gesehen.

      Einige Meter von der Kneipenhütte entfernt warteten die anderen im Auto. Erst lange danach kam ihm der Gedanke, dass Mara ihn damals nicht wie einen gesucht haben mochte, den sie in ihrer Nähe haben wollte, sondern einfach wie einen, für den sie sich verantwortlich fühlte, da er im Auto ihrer Familie auf den verschneiten Berg gefahren war. Sie saßen aneinandergepresst im Fond des Kleinwagens, und vermutlich redete er – vom Whisky beflügelt – in seinem holzhackerischen Italienisch zu laut und zu viel, und deshalb wohl hinterließ die Erinnerung ihm kein einziges Wort, so als wären sie in stummer Nähe den Berg hinuntergerollt, durch Kurven und Tunnels und an Schneerändern vorbei, bis sie sich in der Stadt unten die Hände drückten und auseinandergingen. Sie gingen auseinander ohne irgendeine Verabredung, und sie sahen sich erst nach Wochen wieder bei einer Versammlung in der Garage.

      Ein Lawinenunglück, bei dem sieben Alpini, italienische Gebirgssoldaten, unter den Schneemassen erstickt waren, brachte sie erneut zusammen. Das Unglück war – nach Analyse und Urteil in der Garage – durch Verantwortungslosigkeit, Ehrgeiz, Leichtsinn und Ignoranz von Offizieren verursacht worden, von Offizieren, die eine militärische Routineübung trotz amtlicher Lawinenwarnung hatten durchführen lassen: Eine Kompanie war über einen gefährdeten Hang marschiert und hatte einen enormen Schneeabgang ausgelöst, sieben junge Männer konnten nur mehr tot aus dem Schnee gezogen werden. In der Garage wurde beschlossen, in allen größeren Orten des Landes eine Flugblattaktion durchzuführen, eine Art pazifistische, jedenfalls gegen die militärische Obrigkeit gezielte Gegeninformation, gegen „Offiziersdünkel“, „Kriegsspielerei“, „verantwortungslose Karrieregeilheit“, der das Leben junger Menschen ausgeliefert worden sei. Und Mara meldete sich (an einem Wochenende, das sie zu Hause bei ihrer Mutter verbrachte) ebenso wie Jul zum Flugblattverteilen in einem der Seitentäler, dem Pustertal, das ihm am fremdesten, ihr aber am vertrautesten war.

      Sie fuhren mit noch zwei anderen Gesinnungsfreunden los – wieder im Kleinwagen, der Maras Mutter gehörte, den diese aber nie benützte, weil sie aus Angst vor dem eigenen Fahren sich lieber in einen Zug oder Bus setzte. Mara und Jul waren sich nicht mehr fremd, aber irgendwie benahmen sie sich noch so. Mara ging die Aktion sehr gelassen an, er auch. Er saß neben ihr im Auto, und sie lenkte, während auf den Rücksitzen Bruna und ein compagno über die Lawinentragödie sprachen; Mara und er murmelten manchmal auch ein Wort nach hinten, noch öfter aber machten sie beide einander auf das eine oder andere in der vorbeifliegenden Landschaft aufmerksam: Schneereste auf kahlem Baumgeäst, ein Rabe, der steif auf einem in die Erde gerammten Stock hockte, und die Eiskristallruten über dem Flüsschen Rienz.

      Sie parkten das Auto in den Dörfern wenn möglich auf dem Platz vor der Kirche und begannen in den umliegenden Straßen und Gassen den ihnen entgegenkommenden Leuten die Informationszettel entgegenzustrecken. Einige nahmen das Blatt entgegen, Überrumpelte, die keine Zeit zu überlegen hatten, andere rannten aus dem gleichen Grund wie verängstigt weiter.

      Jul blieb bei Mara. Ohne dass sie es verlangt hatte, wollte er sie nicht allein lassen. Sie begnügten sich damit, die Flugblätter einigen Passanten in die Hand zu drücken und ein paar Blätter an das Glas einer Auslage oder an eine Hauswand zu kleben, aber sie ließen kein Gasthaus oder Café aus. In Welsberg wurden sie, kurz nachdem sie in einem behäbigen Wirtshaus am Hauptplatz ihre Zettel an ein paar Männer an der Schank verteilt hatten, auf der Straße von einem italienischen Polizeibeamten angehalten und ins nahe gelegene Bezirksgericht geführt. Dort, über ihre Personalien befragt, erklärte Jul sich kurz entschlossen als Maras Bräutigam, außerdem als Korrespondenten einer ausländischen Zeitung, der, auf Besuch bei seiner Verlobten, diese bei Ausübung ihrer bürgerlichen Rechte begleitet habe. Mara hatte das Abgeführtwerden und die Befragung unaufgeregt, beinahe gleichgültig hingenommen, überrascht und verwirrt wurde sie aber ganz offensichtlich durch seine Behauptung, ihr Verlobter zu sein. Wieder auf freiem Fuß, lachten sie alle vier lauthals im Auto auf der Rückfahrt. In ihrem Übermut parkten sie sogar in unmittelbarer Nähe eines Militärpostens (eines mit Stacheldraht umzäunten Häuschens, nur wenige Meter entfernt von der Mühlbacher Klause), zwischen und unter zwei winterkahlen Straßenlinden pinkelten Mara und er in den abgasgrauen Schnee und warfen auch ein paar Flugzettel auf die Böschung; dabei kicherten sie so laut, dass ein Uniformierter sich hinter dem Stacheldrahtzaun aufpflanzte und über die Straße schrie: Wer ist da? Sie sprangen ins Auto und fuhren unbehindert davon.

      Jul wusste, dass er sich bei der Festnahme in Welsberg komisch benommen hatte, aber ihm hatte sich nicht so sehr die Demütigung eingeprägt als vielmehr dieses neue Gefühl des Ausgeliefertseins mit Mara, dieses jähe öffentliche Zusammengehören, auch wenn es List war seinerseits, ein Gewaltakt, diese Erfindung von Nähe, erlogene, aufgezwungene Vertrautheit, er bereute davon nichts. Ja, er hatte Mara überrumpelt, er hatte sich in Maras Kopf als ein möglicher Verlobter hineingedrängt.

      Auf jeden Fall hatte sich ihr Verhältnis verändert, auch wenn sie mit den zwei compagni im Wagen fast ausschließlich wieder über politische Themen sprachen. Von diesem Tag an verband Mara und ihn etwas Bestimmtes, ebendieser Vorfall. Sie wollten sich wiedersehen und vereinbarten ein anderes Wochenende zum Skifahren. Diesmal in nächster Nähe der Wälder und Wiesen, wo Mara ihre Kindheit während der Sommer- und Weihnachtsferien verbracht hatte, eben auf dem Berg über dem kleinen Landhaus ihres Vaters.

      Sie waren nicht allein, sondern in Gesellschaft von Maras älterem Bruder Raffaele und ihrer Schwester Teresa, die von ihrem Mann Carlo begleitet war. Jul genoss die Minuten, die er oben auf der Bergkuppe (zwischen Gondelstation und dem nächsten Hüttenausschank) ohne Ski an den Füßen verschnaufen konnte – den Rundblick und die Sonne –, dann allerdings suchte er an eine Theke zu kommen, und während Mara sich auf der Toilette vermutlich Sonnencreme auf den Wangen verstrich, trank er ein großes Glas Grappa. Mara liebte den Nordhang mit Blick auf den Talkessel, ein Schattenhang mit schnellerem Schnee, eine mit riesigen Schneewarzen übersäte, breite Piste vom Start weg, und Mara vergnügte sich, wedelte in kurzen Schwüngen hinunter, er stürzte ihr mit angeschnapster Kühnheit nach, manchmal schaffte er es, einem Schneehügel auszuweichen, meistens nicht, aber diesmal wartete Mara jedes Mal in freundlicher Entfernung, bis er sich wieder aufgerappelt hatte. Ihre Geschwister kümmerten sich zum Glück nicht um ihn, waren längst woanders unterwegs. Es war schön, hinter Maras Schwüngen herzustürzen, in weitem, aber scharfkantigem Zickzack, und dann aufwärts gezogen zu werden von einem Schlepplift, im Blick immer Maras schwarzes, auf den Jeanshintern genähtes Perlonherz. Und es war schön, mit ihr längs einer Glaswand des Berggasthauses Spaghetti alla Bolognese zu essen bei einer Flasche Rotwein. Sie fuhren am frühen Nachmittag sogar die ganze Länge der Silvesterpiste hinunter, von wo Maras väterliches Ferienhaus dann zu Fuß schnell erreichbar war.

      Damals war er zum ersten Mal durch das dunkelbraune Gartentörchen gegangen, über den verschneiten Gartenrasen und hatte zum ersten Mal Maras Mutter gesehen, eine schöne, feingesichtige Frau mit kurzgeschnittenen, silbergrauen Haaren und einem fast ängstlich lachenden Gesicht, einem Dauerlächeln, das wie eine Schutzschicht über Neugier und Sorge gezogen schien (erst später bemerkte er die hoch angesetzten Wangenknochen, die ihrem Ausdruck beinahe slawische Züge verliehen). Er wurde in eine laute Herzlichkeit hereingeholt und fühlte sich dennoch eher wie ein abgetastetes Objekt, ein betrachteter Gegenstand. Vielleicht war es dies, warum Mara und er sich bald verabschiedeten. Er weiß nicht mehr, ob er Mara durch einen Blick oder ein zugerauntes Wort aufgefordert hat oder ob sie beide es gleichzeitig wollten, jedenfalls unternahmen sie allein mit dem Auto noch eine Spazierfahrt in die Umgebung. Wahrscheinlich


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