Der Schmerz der Gewöhnung. Joseph Zoderer

Der Schmerz der Gewöhnung - Joseph Zoderer


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über das ganze Gesicht, griff sich mit der freien Hand immer wieder ins dunkle, über die Schulter fallende Haar. Jul blickte auf ihre dicksohligen geschnürten Schuhe, sie schien ausgerüstet für kühlere Nächte im Freien, mit einer lackschwarzen Lederjacke und schwarz-weiß gestreiften Mephistohosen. Die Männer in seiner Nähe waren auch auf sie aufmerksam geworden, mehrmals hörte er den einen und anderen sagen: Una bella ragazza. Und ein schönes Mädchen war sie, solange sie nicht ihren Mund verzerrte, was sie von Zeit zu Zeit aber tat, indem sie die Lippen jäh nach oben oder in die Breite verzog.

      Es war Nachmittag gewesen – ein wolkengrauer Nachmittag, sagten sie später im Dorf. Und Mara hatte Natalie zu deren Freundin Manuela gebracht, in dieses kleine Hotel an der Straße (mit Restaurant und Hallenbad). Während er, Jul, unterwegs war in Passau für eine Radio-Reportage (Suizid unter Jugendlichen). Tags darauf wusste er, dass Mara nicht allein mit Natalie zu dem Hotel gefahren war, sondern in Begleitung eines ortsfremden Italieners.

      Die Kacheln im Schwimmbecken waren blau, blaues Wasser bis zu den Knien beim Einstieg, doch der Beckengrund neigte sich bis zu zwei Meter Tiefe am Beckenende. Und dort gab es eine kleine Leiter zum Ausstieg mit weißen Sprossen, die Natalie nicht mehr erreichte.

      Ihm fehlt Maras Schweigen. Als ob er ohne eine Haut aus Wald und Gras und ohne Schnee und Regen und das Feuer in seinem Ofen nicht leben könnte. Es würgt ihn, die untergehende Sonne erwürgt ihn, es interessiert ihn nicht, dass Maras Vater irgendwann einmal an diesen Magnolienbäumen hier als Kind vorbeigelaufen oder als junger aufstrebender Mussolini-Faschist in der schwarzen Uniform eines Federale mit wadenengen Lackstiefeln die Via Atenea herunterparadiert ist. Er will nicht daran denken, will von dieser dröhnenden, muffigen Vergangenheit nichts wissen. Er möchte –, ja, was möchte er?

      Jetzt, wo er das Meer sehen kann, läuft er nicht zum Meer hinunter, er könnte in einen Bus steigen, nach Porto Empedocle oder San Leone fahren, doch er möchte durch das vermodernde Herbstlaub zum Wald hinauf, stumm mit seinem Hund durch das Heidelbeerkraut, mit geducktem Kopf durchs Unterholz und zwischen den hohen wartenden Fichten und Föhren hindurch. Und weiß, dass ihm das nicht helfen kann, dass er seinen Kopf in den breiten Stamm eines alten Baumes müsste drücken können, aber er wäre auch dort nicht geborgen.

      Dieses Hallenbad war der Stolz eines kleinen Hotels an der Straße, da oben auf dem Berg, so weit weg vom Meer. Und es gehörte Manuelas Großeltern, und Manuela war Natalies beste Freundin –, die Fliesen der Hallenwände schimmerten weiß.

      Tagsüber, manchmal auch noch nach Mitternacht, drängten Stimmen an seine Tür, dann wurde diese Tür zunehmend dünner, eine durchlässige Haut, die ihn gerade noch vor Blicken schützte, nicht aber vor den schrillen oder herausgekehlten Worten auf dem Korridor. Am Vormittag waren es fast nur Arbeitsrufe zwischen dem Portier Mario und dessen Bruder Salvatore oder zwischen Mario und Lucia, der unauffälligen Putzgehilfin, die jedoch von den pensionierten, siebzig- und achtzigjährigen Gerichtsbeamten, Buchhaltern und Geometern, den Dauergästen des Hotels, bei jedem Sichtkontakt im Stiegenhaus oder im Gang oder unten in der Halle wie eine Schönheitskönigin begrüßt („Buon giorno, bellissima“) und mit geschnurrten oder geglucksten Komplimenten überhäuft wurde. Niemand in diesem Hotel dachte offenbar daran, dass sich irgendjemand von lautem Gerede gestört fühlen könnte. Tatsächlich fühlte auch Jul sich nie davon gestört, schon gar nicht erschreckt, im Gegenteil, diese Stimmen waren für ihn wie Lebensgesang. Er versuchte nicht, die einzelnen Worte zu verstehen – sie waren wie das Heranklatschen der kleineren und größeren Wasserränder am Meer (oder als hörte er Radio während des Rasierens, auch wenn er weder Radio noch Fernsehen in seinem Zimmer hatte). Das Auf und Ab der Stimmen war so etwas wie ein Taucherschlauch, an dem er in der Tiefe hing. Sogar dann, wenn sie mitten in die Nachmittagsstille hinein plötzlich durch die Wände hereinbrachen, keifende Frauenstimmen, japsende Altmännerwut, ein Hin- und Hergezerre zwischen Fisteltönen und Raucherbass, nicht selten noch spät nach Mitternacht – besoffenes Gezänk, Hurengekeife.

      Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, bis er nach Tagen Maras einzige Verwandte in dieser Stadt anrief, Zia Delia, die Witwe ihres Onkels Vincenzo, der der ältere Bruder ihres Vaters gewesen war. Zunächst schien es die Hausnummer gar nicht zu geben, schließlich fand er heraus, dass er auf der falschen Straßenseite suchte, dort wo die ungeraden Nummern waren, sie aber hatte eine gerade. Es war ein fünfstöckiges Haus oberhalb des pompösen Post- und Telegrafenpalasts aus der Duce-Zeit, an einer guten Straße gelegen, ein graugrün gestrichenes Haus mit einer marmorierten Treppe. Den Lift benützte er nicht, lief schwitzend das Stiegenhaus hinauf, bis endlich im letzten Stock schon eine Wohnungstür offen stand. Keine gebückte runzelige Frau in schwarzem Kleid und schwarzem Kopftuch gab ihm die Hand, nein, Zia Delia wirkte eher wie eine Dame, großgewachsen, silberhaarig kam sie ihm in einem metallblauen, um die Hüften gefältelten Kleid entgegen, schritt wortlos lächelnd vor ihm her über den Fliesenboden ins Wohnzimmer: fünf Meter hohe Wände, drei gleich große, gleichfarbige (blaurötlichgraue) schmale Perserteppiche, ein langes Kanapee, Glastischchen und zwei Polstersessel. Jul trocknete mit einem Taschentuch sein Gesicht, blickte vom Kanapee auf diese fremde Frau, die abwartend ihm gegenüber in einem der goldbezogenen Polstersessel saß. Was sollte er reden? Warum er hier war? Um Grüße von ihrer Nichte Mara zu bringen. Fast fühlte er einen Anflug von Scham, ein Fremder für sie zu sein, dazu noch ein deutscher Fremder, und war doch ein auf Sizilianisch sehr ernst genommener Verwandter: Du bist Maras Mann, also gehörst du zur Familie, auch wenn du noch so deutsch bist, schnaubte Delia freundlich empört. Vor Jahren war er schon einmal in dieser Stadt gewesen, damals mit Mara, er wunderte sich, dass Delia sich daran erinnerte. Sie war eine pensionierte Lehrerin, hatte vierzig Jahre, wie sie selbstironisch zugab, Mathematik unterrichtet. Jetzt wollte sie von ihm auf ihr Alter geschätzt werden, sie sah wie Mitte siebzig aus, aber er wusste, dass sie zehn Jahre älter war, und heuchelte. Dem Kanapee gegenüber ein hoher gerahmter Spiegel über einer ebenholzschwarzen Konsole, eigentlich ein Flügelkästchen, rechts davon (in seinem Blick) das gemalte Porträt einer sehr schönen jungen Frau, die schwarzen Locken zu einer Haarkrone aufgesteckt, von der zu beiden Seiten geringelte Strähnen auf die Schultern fielen. Er musste immer wieder auf dieses Ölbild schauen, auf diese sinnlich vollen Lippen und die dunklen Augen, die nicht lächelten. Zia Delia folgte seinem Blick: Maras Urgroßmutter, sagte sie (la bisnonna di tua Mara), deren Mann habe sie gemalt. Ja, ja, er war Maler. Das wusste er schon, dass Maras Großmutter einen malenden Vater gehabt hatte. Und dass sie geheiratet wurde von einem Kapitän der Handelsschifffahrt, der mit achtundvierzig Jahren starb, der Vater von Maras Vater. Zia Delia bot Jul einige Aperitifs zur Auswahl an, und er nahm sich ein Glas Chinotto. Eigentlich wollte er Delia fragen, wie sie sich an Maras Vater, ihren Schwager, erinnere, wie sie ihn gesehen, erlebt habe. Aber er fragte nichts von alldem, ja, ob der Bahnhof und das Postgebäude in den zwanziger Jahren, zu Mussolinis Zeiten gebaut … Natürlich, so sahen sie doch aus, besonders das Postgebäude mit den in den Himmel reichenden Säulen und dem kolossalen Krieger-Fresko. Auch das Gebäude der Banca d’Italia war zu dieser Zeit errichtet worden. Auf dem jetzigen Bahnhofsareal sei ein Familiengrundstück enteignet worden, murmelte Delia. Eine kalte Gleichgültigkeit lähmte ihn. Um nicht unhöflich zu sein, versprach er, sie noch einmal in dieser Woche anzurufen: Vielleicht könnten wir gemeinsam das De-Pasqua-Familiengrab besuchen? Sie nickte ihm mehrmals zu: Sì, sì, warum nicht!

      Statt den Lift zu benützen, rannte Jul die Treppen vier Stockwerke hinunter, lief zum einzigen Kino der Sechzigtausendeinwohnerstadt und verschlang Kubricks „Eyes Wide Shut“, er war von jedem nackten Frauenarsch auf der Breitleinwand hingerissen.

      Mara schrie unter ihm, wie er sie nie mehr, auch in Jahrzehnten nie mehr, vor Lust hatte schreien gehört. Er wusste, dass ihr Vater in diesem Bett zum letzten Mal geatmet hatte.

      Es war kalt in diesem Haus, wie es hinter diesen Mauern immer, auch im Sommer, kalt war. Die Wände kahl oder behängt mit belanglosen, zugetragenen Souvenirartikeln, da und dort eine fabriksmäßig gefertigte Indianerpfeife oder Indianermaske, Geschenke einer Tante in Brasilien.

      Dieses Familiengericht spielte sich in ihrem ersten gemeinsamen Sommer ab, nach dem ersten gemeinsam verbrachten Meeresurlaub (während Nixons Napalmbomben den


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