Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui

Der Grenadier und der stille Tod - Petra Reategui


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das Haus der Medicinalratswitwe verließ, schneite es noch immer, sogar heftiger als am Morgen auf dem Richtplatz. Mindestens drei Stunden bräuchte sie bei diesem Wetter bis nach Palmbach, darüber würde es Nacht werden. Aber die Kiepe trug sich jetzt so leicht wie ein Sack Daunen. Der bauchige Honigtopf war fast bis auf den Boden leer, Frau Wilde hatte ihr die restlichen Nüsse abgekauft, die Kreuzer im Geldbeutel klimperten, und obendrein hatte sie ein Kleid geschenkt bekommen. Die Maïre würde ihr verzeihen.

      Der Schnee dämpfte die Geräusche der Stadt, verschluckte die Schritte der Passanten, erst im letzten Augenblick hörte Madeleine ein Fuhrwerk an sich vorbeirumpeln. Der Wagenlenker zeterte lauthals, weil er hatte ausweichen müssen.

      Der sicherste Weg nach Hause führte durch die Lange Straße zum Durlacher Thor am östlichen Ende der Stadt und danach über Gottesau und Wolfartsweier zur Zollstation vor Grünwettersbach. Von dort bis nach Palmbach war es zwar auch nicht gerade ein Katzensprung, aber wäre sie erst einmal dort, würde es sich dann doch schon wie zu Hause anfühlen.

      Hinterher fragte sich Madeleine, warum sie ausgerechnet heute, wo es ohnehin schon spät war, diesen Umweg gemacht hatte. Ohne nachzudenken war sie vorhin in die Kronengasse eingebogen und befand sich mit einem Mal in Klein-Carlsruhe, in diesem verschrienen Dörfle, das Carlsruher fürchteten wie der Teufel das Weihwasser.

      Die ersten Häuser in der Gasse hatten sich noch in nichts von den anderen in der Residenz unterschieden. Doch nach ein paar Schritten wurde es einsam. Links und rechts des Wegs lagen Gemüsegärten und kahle Felder, und dann tauchten unvermittelt die ersten Baracken des Dörfle auf. Jetzt wurde Madeleine doch mulmig zumute. In einem der Hauseingänge stand eine Frau, die sie giftig anglotzte. Vorsichtshalber wechselte Madeleine die Straßenseite.

      Nicht für geschenkt hätte sie in den Bruchbuden wohnen wollen, die sich nun dicht an dicht reihten. Dachziegel klapperten lose im Wind, geborstene Fenster waren mit Stroh und Lumpen zugestopft, eine Tür hing schief in den Angeln. Von überallher kamen Kinder angerannt, johlend, mit laufenden Nasen, die Haut über den Wangenknochen rot und rissig vor Kälte. Wie ein Lauffeuer musste es sich herumgesprochen haben, dass eine Außerstädtische durchs Dörfle ging, noch dazu allein und in einem seltsam kurzen Rock, unter dem Knöchel und Waden hervorschauten. Kinder waren überall gleich, auch in Palmbach rotteten sie sich zusammen, wenn, was selten genug vorkam, Fremde auf der Durchreise das Dorf besuchten, sprachen sie an, wollten wissen, wer sie waren, woher sie kamen und wohin sie wollten. Einmal hatte Madeleine sogar gesehen, wie Antoine, der größere ihrer zwei Brüder, einen Unbekannten angeschnorrt hatte, als sei er am Verhungern. Die Lektion, die sie dem Fraïre danach erteilt hatte, würde dieser sein Lebtag nicht mehr vergessen. Auch wenn sie alles andere als reich waren, Bettelei hatten Waldenser nicht nötig.

      Je weiter sie vordrang, desto elender wurden die Behausungen, desto matschiger der Boden unter ihren Füßen. Alles, was Madeleine jemals über diese Ansiedlung am Rande der markgräflichen Residenz Schlimmes gehört hatte, schien sich zu bewahrheiten. Wie leichtsinnig von ihr, hier durchzugehen! Wie war sie nur auf diese blödsinnige Idee gekommen? Sie könnte überfallen werden, beraubt, erschlagen. Doch dann fiel ihr die Buttermeierin ein, die ihr erzählt hatte, dass sie auch hier wohnte. Sie mochte die Buttermeierin. Es war eine besonnene Frau, die nachdachte, bevor sie sprach. Anders als die Oberhäusserin, die ständig prahlte, in einer ordentlichen Straße mit ordentlichen Leuten zu wohnen, sich aber über alles und jeden das Maul zerriss.

      Wenn die Buttermeierin im Dörfle wohnte, war die Gegend vielleicht doch nicht so gefährlich, wie die Leute behaupteten.

      Die Kronengasse mündete in eine etwas breitere Querstraße. Die Durlacher Thorstraße, vermutete Madeleine. Sie blickte sich um. Links dürfte es hoch zum Durlacher Thor gehen, sie wendete sich nach rechts zum Rüppurrer Thor. Irgendwo hier musste Catharina Würbsin gelebt haben. In dem Haus mit dem morschen Hoftor? Oder dort, wo eben ein Soldat herauskam? Der Kindsvater?

      Warum nur hatte die junge Frau ihr Neugeborenes erschlagen?

      Aus Scham, aus Verzweiflung und Hilflosigkeit? Hatte sie Angst vor den Eltern gehabt, vor dem Gerede der Nachbarn? Und der Schwängerer, hatte er davon gewusst? Was hätte Jeanne gemacht, wenn sie allein auf dem Feld gewesen wäre, als das Kind kam? Es in der Furche liegen gelassen und Erde darüber geschaufelt oder in den Tann geworfen?

      Zweimal hatte Madeleine Dirnen am Schandpfahl gesehen, angekettet wie Vieh. Männer, Frauen, Kinder, alle machten sie sich einen Spaß daraus, die armen Weiber, die sich nicht wehren konnten, zu verspotten, anzuspucken, mit Dreck, Kot und faulem Obst zu bewerfen. »Strafe muss sein«, hatte die Oberhäusserin gehechelt.

      Auch Jeanne war bestraft worden. Sie hatte Geld an das für Palmbach zuständige Oberamt in Neuenbürg zahlen müssen, und an einem Sonntag hieß Pfarrer Henri Doll sie in der Kirche aufs Armesünderbänkchen hocken, um dann geschlagene zwei Stunden gegen Laster und Triebhaftigkeit zu predigen. Er hatte leise und mitfühlend begonnen, doch als ein paar Gemeindemitglieder murrten, hob er besänftigend die Hände und verschärfte seinen Ton, beschwor in immer wortgewaltigeren Bildern den Zorn Gottes herauf und verstieg sich schließlich zu einem solchen Donnerwetter, dass am Ende alle Gläubigen, selbst die, die anfänglich gemeckert hatten, weil der Pfarrer ihnen zu nachgiebig gewesen war, die Köpfe einzogen und krampfhaft auf ihre Schuhe stierten. Schließlich war es Sindic Brun gewesen, der den sonntäglichen Frieden rettete, indem er in einer winzigen Pause, in der Doll Atem holen musste, ein mutiges »Aleluià« anstimmte, worauf Jeannes Matthieu nach vorn trat, verschämt seine Finger vor dem Bauch knetete und nach Beendigung des Lieds der versammelten Palmbacher Gemeinde mit hochrotem Kopf verkündete, er bereue sein Vergehen, seine Pécca, er bitte um Verzeihung und heirate die Kindsmutter. Sì, ouì, hier und jetzt, sofort und auf der Stelle. Ob sie es auch wolle, danach wurde Jeanne nicht gefragt.

      Das sei ja auch nur recht und billig, hatte die Maïre hinterher spitz bemerkt. Nicht alle Kerle seien so manierlich. »Und dir, méou fillho, sage ich: Hüte dich vor den Männern, vor allem jetzt, wo du so oft runter in die Residenz zum Markt musst. Ich wollte, du müsstest es nicht. Aber ich schaffe es nicht mehr mit meinen Knien, und wer außer dir soll’s sonst machen? Deine Schwestern sind noch zu klein.«

      Mit einem Mal hielt es Madeleine nicht mehr aus zwischen diesen elenden Klein-Carlsruher Baracken, hinter deren Fenstern sie Blicke zu verfolgen schienen, Flüche, Verwünschungen. Sie wollte nur noch fort, weg von hier. Als sie am Rüppurrer Thor ankam, atmete sie erleichtert auf. Ob sie es denn weit habe, fragte der Wachthabende mitfühlend, während er den Korb inspizierte und den Zoll kassierte.

      »Bis nach Palmbach.«

      »Ach herrje«, sagte er, »na dann, bonne route!«

      Kamen ihr außerhalb der Stadt anfänglich noch einige Fuhrwerke entgegen, auch späte Fußgänger, die es eilig hatten, zurück in die Residenz zu kommen, wurde es bald still und einsam um sie.

      Ich bin der einzige Mensch auf der ganzen weiten Welt!

      Madeleine lachte gequält. Leise begann sie zu singen, es war mehr ein Piepsen. Der Wind verwehte die Worte, Flocken wirbelten ihr ins Gesicht, sie schloss die Augen zu schmalen Schlitzen. Über Durlach dunkelte der Himmel, in einer halben oder dreiviertel Stunde würde es tiefste Nacht sein, nur der Schnee sein fahles Licht verbreiten. Schlagartig fühlte sie sich müde. Das war zu viel gewesen heute, die Hinrichtung, das Hickhack der Offiziere, der Besuch bei der Medicinalratswitwe, die so freundlich zu ihr gewesen war und zugleich so vornehm, dass Madeleine vor lauter Vornehmheit nicht wusste, wo sie hinschauen sollte. Und dann zum Schluss noch das Dörfle.

      Soldaten dürfen nicht heiraten.

      Jetzt, wo alles still um sie herum war, stieß ihr die Bemerkung der Buttermeierin auf wie Sauerbier.

      Aber er hatte ihr doch gefallen, von Anfang an hatte er ihr gefallen.

      Es war über sie gekommen wie ein Sommergewitter, sie war machtlos dagegen gewesen.

      So etwas war ihr noch nie passiert, nicht in Palmbach und in keinem der anderen Waldenserdörfer in deutschen Landen, wohin sie von Zeit zu Zeit zu einem Fest oder einem Familientreffen wanderten. Die jungen Männer dort waren alle langweilig wie Schafsböcke und spielten sich


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