Der Grenadier und der stille Tod. Petra Reategui
den Mund zu bewegen. Er tut es, sperrt den Mund auf, klatscht in die Hände, es ist ein lustiges Spiel, nur der Vater bleibt ernst. Da begreift er: Er hat andere Ohren und einen anderen Mund als der Vater. Was daran anders ist, weiß er nicht, versteht nur, dass der Vater, die Mutter, seine Schwestern, die Menschen auf der Straße über Ohren und Mund Dinge mitbekommen, die er nicht mitbekommt. Er versucht, ihre Lippenbewegungen nachzuahmen und zu erkennen, was sie damit meinen. Manchmal klappt es. Wenn der Vater seine Lippen zu einem Kreis formt und ihm winkt, weiß er, dass dieser ihn ruft. Oder dass der Vater »Wasser« meint, »geh Wasser holen!«, wenn er in einer bestimmten Art und Weise den Mund aufsperrt und ihm den Eimer in die Hand drückt. Jeden Tag übt der Vater mit ihm. Wasser, Löffel, Tisch, Stuhl, Brot, gestikuliert er. Und: ein Schuh, zwei Schuhe, und zeigt dazu Schuhe und einen oder, je nachdem, zwei Finger. Ein Teller, zwei Teller, drei Teller. Ein Licht, zwei Lichter, drei … und der Vater zündet die entsprechende Anzahl Kerzen an, doch die Mutter pustet sie wieder aus, erbost. Und er lernt: Kerzenlicht ist teuer. Damit darf man nicht spielen.
Eines Tages hat ihn der Vater mitgenommen zu dem hoch aufragenden Gebäude am anderen Ende des schnurgeraden Gässchens, in dem sie wohnen. Auf dem Dach war ein langer Stab angebracht, der in den Himmel zeigte, blinkte und ihn lockte. Dort hinauf wollte er und wie die kleinen und großen Flügeltierchen die Erde von oben schauen. Er hat den Vater so lange am Ärmel gezupft, bis dieser sich erbarmt hat und mit ihm dorthin gewandert ist.
Das Hohe Haus stand am Ende eines weiten Platzes. Davor und zu beiden Seiten lagen mehrere niedrigere Häuser. Schön waren sie, schöner als alle anderen Häuser, die er kannte. Das mittlere schien ihm das prächtigste zu sein. Männer und Frauen in eleganter Kleidung spazierten über die mit feinen Steinchen belegten Wege. Eine Kutsche fuhr vor und hielt vor der breitesten der Türen. Aus einer der Seitenpforten trat ein Mädchen mit einem mächtigen Henkelkorb, ein Tuch verdeckte, was darin lag. Doch als sie an ihm und dem Vater vorbeieilte, roch er den Duft von frischem, süßem Brot, wie es der Bäcker in ihrer Straße buk und von dem er nur träumen konnte.
Ein Herr lebt hier, bedeutete der Vater und malte mit einer Hand einen Hut auf dem Kopf, ein Großer Herr, der über alles herrscht. Und der Vater ließ seinen Arm in einer ausladenden Bewegung über die Stadt kreisen, über Gebäude, Straßen, Bäume, über Männer, Frauen und Kinder.
Noch am selben Tag bekam er den Großen Herrn zu sehen. Eine erwartungsvolle Menschenmenge hatte die lange Morgenabendstraße gesäumt. Der Vater hob ihn hoch und setzte ihn auf seine Schultern. Über die Köpfe hinweg sah er Männer in fast gleich aussehender Kleidung vorbeiziehen. An den bunten, sauberen Röcken schaukelten farbige Schnüre. Über den Schuhen trugen die Männer seltsame Unterbeinkleider und auf den Köpfen breitkrempige oder nach oben spitz zulaufende, manchmal metallisch glänzende Hüte. Der Vater drehte ihm, so gut es ging, den Kopf zu: die Männer des Großen Herrn, seine Bewacher, Wächter, Diener, verstand er.
Er beugte sich vor, um dem Auf und Zu von Vaters Mund zu folgen und dessen Bewegungen nachzuahmen. Da rollte die erste Kutsche vorüber. Und noch eine und noch eine. Die letzte war die prachtvollste. Fähnchen flatterten daran. Der Lenker auf dem Bock und die Männer, die den Wagen zu Fuß begleiteten, trugen die gleiche feine Kleidung wie die Vorab-Marschierer. In der Karosse aber saß, majestätisch aufrecht und freundlich winkend, der Große Herr. Der Große Herr war gekommen, ihn zu grüßen. Begeistert winkte er zurück.
So leicht wie mit dem Vater verstand er sich mit niemandem, selbst mit seiner Beschützerin nicht, obwohl diese ihm doch die Nachtlichter gezeigt und mit ihm Bilder in den Sand gemalt hat. Die Laterne am Himmel, die mal rund und dick wie eine Kugel war, dann wieder verschwindend dünn und schmal. Oder ein Gesicht mit Augen, Nase und Mund, sein Gesicht, oder ihren Kopf mit den langen Haaren. Manchmal auch einen Baum, ein Haus und die flitzenden Wassertierchen im Steineschiffkanal.
Am schwierigsten war es, die Mutter zu verstehen. Das heißt, er verstand sie, aber sie ihn nicht, und den Schwestern war er nur lästig. Die kicherten albern, äfften ihn nach und ließen ihn nicht mitspielen. Er streckte ihnen dafür die Zunge raus, zeigte ihnen eine lange Nase, und wenn sie dann immer noch nicht aufhörten, ihn zu ärgern, verprügelte er sie, bis die Mutter dazwischenfuhr und ihn schlug. Die Mutter schlug oft. Einmal sogar im Feierlichen Haus am Markt.
Das war nach dem Tod des Vaters, die Mutter hatte ihn und die Schwestern dorthin mitgenommen. Für ihn war es das erste Mal, dass er das Haus von innen sah, und staunend stand er vor den mächtigen gekreuzten Holzbalken, die vorn im Raum in die Höhe ragten. Doch die Mutter zog ihn weg von dort und zu sich nach hinten.
Mit einem Mal begann die Luft zu schwingen, zuerst sanft und zart, und schwoll schließlich an zu einem Beben und Zittern. Die Menschen öffneten die Münder und klappten sie wieder zu, auch die Mutter und die Schwestern taten es. Das Zittern erfasste seinen Körper, fuhr ihm in den Bauch, erfüllte ihn mit einem überwarmen Gefühl, und inbrünstig öffnete auch er den Mund. Ihm war, als spränge etwas Großartiges aus ihm heraus.
Doch die Menschen stierten ihn an, entsetzt, empört, angewidert, einige feixten böse oder verlachten ihn. Die Schwestern schauten betreten zu Boden. Und die Mutter schlug zu. Schlug ihn auf den Mund, auf den Kopf, hätte vielleicht gar nicht mehr aufgehört mit Schlagen, wenn nicht eine Frau ihr in den Arm gefallen wäre. Heulend rannte er hinaus auf die Straße. Das Feierliche Haus hat er nie wieder betreten.
Viele Tage später hatte ihn sein Vaterbruder nahe der Kiesgrube jenseits des Steineschiffkanals gefunden.
Es war auch der Vaterbruder, der ihn gelehrt hat, den Kehrbesen zu führen und die Straßenfegerkarre zu lenken. Der ihm zeigte, wo er abends vor den Toren der Stadt den Unrat abliefern musste und seinen Lohn bekam. Auch Zeichen malte der Vaterbruder auf Papier, Zeichen, wie er sie immer in und an den Geschäften der langen Morgenabendstraße sah. Er erkannte Zusammenhänge zwischen den Strichen und Kreisen und den Dingen. »Bett« war leicht, auch »Tisch« oder »Mond«, das »o« war so rund wie der helle Lichtkörper oben am Himmel, und der Mund des Vaterbruders formte sich genauso rund wie zuvor der Mund des Vaters für »komm«. Und er lernte die Zeichen, die für ihn standen: I-g-n-a-t-z. I-g-n-a-t-z kritzelte er und deutete auf sich, nur die Bewegung der Lippen dazu gelang ihm nicht.
Er wollte mehr erfahren. Er schleppte Blätter an, die über und über beschriftet waren. Doch der Vaterbruder bedauerte, und er, I-g-n-a-t-z mit dem Andermund, verstand: So viele Zeichen begriff auch der Vaterbruder nicht. Doch die Blätter behielt er für sich, verwahrte sie an einem geheimen Ort, und sah er in einem Laden neue, wartete er, bis keiner schaute, griff sich ein paar und schlenderte weiter, als sei nichts geschehen. Das weiche Papier fühlte sich gut an in seiner Hand.
Der Schankwirt hat ihm zu trinken gebracht, und was die Suppe nicht schaffte, gelingt dem süffigen Getränk. Es benebelt ihn. Nicht sehr, nur so viel, dass er die verfluchte Leere nicht mehr spürt, seine Beschützerin nicht mehr vermisst, für eine Weile nicht mehr an den Vater denken muss. Der Mann am Nebentisch grüßt und hebt sein Glas. Er prostet zurück. Durchs Fenster sieht er, dass es zu schneien aufgehört hat. Er könnte jetzt zum Markt gehen und schauen, ob die Händlerinnen wegen des Geschehens am Vormittag den Verkauf auf den Nachmittag verlegt haben. Vielleicht ist das Mädchen da.
Das Mädchen hat Augen so tief wie der tiefste Brunnen. Die glänzenden, nachtdunklen Haare trägt sie zu einem Knoten hochgebunden, der von einem zierlichen Häubchen bedeckt ist. In den Ohrläppchen stecken blinkende Steine in der Form winziger Blüten. Himmelfarbene Sonnenblümchen. Das Mädchen muss stark sein wie seine Beschützerin früher, sonst könnte sie nicht den großen Korb mit dem schweren Deckelkrug und den Früchten tragen, deren Schalen so hart sind, dass man sie mit einem Werkzeug oder, geschickt dazwischengeklemmt, mit den Fingern aufbrechen muss.
Das Mädchen Blümchen ist von weit her. Er hat die Erdklumpen unter ihren Schuhsohlen gesehen und die Dreckspritzer auf den Strümpfen. In der Nacht, bevor sie ihm das erste Mal aufgefallen ist, hat es geregnet gehabt. Wahrscheinlich war der Weg, auf dem sie gekommen ist, schlammig, führte vielleicht durch sumpfige Wiesen.
Was ihm an jenem Tag den Mut dazu gab, weiß er bis heute nicht. Seine Beine bewegten sich von allein. Die anderen Händlerinnen bauten bereits ihre Stände ab, Blümchen verabschiedete noch eine Kundin. Dann ging er hin und