Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand. A. S. Dowidat
hatte seine Mutter ihn gebeten, neue Kerzen und Servietten zu besorgen und ihr bei Gelegenheit vorbeizubringen. Von diesen hatte sie gerne einen großen Vorrat zu Hause gehabt, und Ulrich konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals vollständig aufgebraucht hätte. Doch seit einem halben Jahr gab es diese Anlässe nicht mehr.
Manchmal bildete Ulrich sich ein, die Mutter oder den Vater im Möbelhaus zu entdecken. Dann lief er eine Weile hinter dem Mann oder der Frau her, nur um bald festzustellen, dass sie nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit seinen Eltern hatten.
Die Mutter war bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie war in der Fußgängerzone von einem Lieferwagen angefahren worden, unglücklich gestürzt und kurz darauf im Krankenhaus verstorben. Nur zwei Monate nach dem plötzlichen Tod der Mutter war auch der Vater gestorben. Als Ulrich wie gewöhnlich nach der Arbeit bei ihm vorbeigeschaut hatte, hatte der Vater noch im Bett gelegen, er musste bereits in der Nacht gestorben sein. Lange hatte Ulrich an seinem Bett gesessen und auf die entspannten Gesichtszüge des Vaters geblickt. Schließlich hatte er seine kalte Hand berührt.
Ulrich konnte sich nicht erinnern, je eine tiefe Verbindung zwischen sich und den Eltern gespürt zu haben. Im Rückblick erschien es ihm manchmal so, als seien die Eltern schon vor seiner Geburt vom Leben erschöpft gewesen. Zwar hatten sie sich über das noch überraschend aufgetauchte Kind gefreut, als sie beide schon Ende dreißig und lange verheiratet waren, doch waren sie seltsam fern geblieben und Ulrich hatte sie kaum je als an seinen Wünschen und Hoffnungen interessiert erlebt.
In einem Möbelhaus dieser Kette waren Ulrichs Eltern nur ein einziges Mal zu Besuch gewesen, als es gerade in Mode gekommen war. Die Mutter hatte nur Bettwäsche, Teelichte und allerlei Kleinkram für die Küche mitgenommen, dem Vater war die Vorstellung, schwere Möbelpakete selbst auf die Ladefläche des kleinen Wagens hieven zu müssen, ein einziger Graus gewesen. Ulrich hatte die Zeit im sogenannten Kinderparadies gleich hinter dem Eingang verbracht, wo Eltern ihre Kinder abgeben konnten. Trotzdem war der Besuch dieses neuen Möbelhauses, zu dem so viele Menschen von weither strömten, für Ulrich ein außergewöhnliches Ereignis gewesen. Im Kinderparadies war damals die Hoffnung in ihm aufgekeimt, die Eltern könnten durch den Besuch des Möbelhauses zu neuen und ganz anderen Eltern verwandelt werden. Könnten sie dann nicht das Leben ebenso tatkräftig angehen, wie es auch die anderen Eltern zu tun schienen, die ihre Möbelpakete zupackend und schwungvoll in ihren Autos verstauten? Sein verwandelter Vater würde ihn beim Abholen lachend auf die Schultern nehmen, obwohl Ulrich dafür eigentlich schon zu groß war. Die verwandelte Mutter würde erzählen, wie sie die Wohnung mithilfe des ungewöhnlichen Möbelhauses ganz neu einrichten wollte. Lachend würde sein Vater die wuchtigen Möbelpakete in das Auto laden und den Kofferraumdeckel, der sich nun nicht mehr schließen ließ, mit einem dünnen Seil am Fahrzeug befestigen. Die Mutter hätte in der Zwischenzeit von der Imbissbude vor dem Möbelhaus für jeden eine Bratwurst mit Pommes frites besorgt.
Doch Ulrichs Mutter wäre nie eingefallen, für so etwas Geld auszugeben, sie hatte stets riesige Pakete mit Wurst- und Käsebroten mit sich geführt, wenn sie gemeinsam irgendwohin unterwegs waren. Und Ulrichs Vater wäre nie eingefallen, mit offenem Kofferraumdeckel durch die Gegend zu fahren.
Als die Eltern Ulrich aus dem Kinderparadies geholt hatten, waren sie noch die gleichen Eltern wie vorher gewesen und Ulrichs Wunschvorstellungen waren schlagartig zunichtegemacht worden. Der Vater hatte immer noch den Hut aufgehabt, der Ulrich geradezu lächerlich erschien, weil schon lange niemand mehr einen solchen Hut trug. Die Mutter hatte müde gewirkt, so als hätten sie die Möglichkeiten eines neuen Lebens, die das Möbelhaus doch unbezweifelbar bot, zutiefst erschöpft.
Als Ulrich auf dem Rückweg still und verzweifelt hinten im Auto gesessen hatte, war es ihm vorgekommen, als sei das Glücksversprechen des Möbelhauses an seinen Eltern abgeprallt wie an einer Mauer. Er hatte sich in die Vorstellung geflüchtet, dass er den Eltern in wenigen Jahren, wenn er selbst erwachsen wäre und ein Leben voller interessanter Möglichkeiten führte, die Wohnung völlig neu einrichten würde. Lachend und wie befreit würden die Eltern dann auf ihrem neuen Sofa sitzen und ihrerseits ganz neue Pläne für ihr Leben entwickeln.
Auch heute noch empfand er bei jedem Möbelhausbesuch eine Ahnung jener hoffnungsvollen Stimmung, die ihn damals überfallen hatte. Gerade wanderte Ulrich durch die Büromöbelausstellung. An den Schreibtischen zog er hier und da eine Schublade auf, dann setzte er sich auf einen Drehstuhl und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse. Wieder fiel ihm die Frau mit den gelben Taschen auf. Sie lief zwischen den Schreibtischen hin und her, mehrmals blickte sie sich kurz um. Plötzlich holte sie eine kleine rote Tischlampe aus einer der Taschen und stellte sie auf einen Schreibtisch, daneben legte sie ein Buch. Schnell verließ sie die Büromöbelausstellung wieder.
Gerade wollte Ulrich sich erheben und ihr folgen, da sah er ein Paar in seinem Alter, das Hände haltend durch die Büromöbelausstellung lief. Die beiden ließen sich erst los, als sie gegenüberliegende Schreibtische ansteuerten. Der Mann und die Frau setzten sich und lachten sich an. Dann holten sie kleine Zettel und Bleistifte aus den Taschen und begannen, sich gegenseitig Botschaften zu schreiben, die sie sich, zu kleinen Papierkugeln zusammengeknüllt, abwechselnd zuwarfen. Auch dabei lachten und alberten sie und versuchten offenbar, sich mit ihren Mitteilungen gegenseitig zu übertrumpfen. Was für eine Erlösung in ihrer Albernheit lag! Ulrich staunte einmal mehr, welche Auswege sich auftun konnten, wenn es für die eigenen Unbegreiflichkeiten nur den richtigen Verbündeten gab.
Er blickte umher, doch niemand sonst schien Notiz von dem Paar zu nehmen. Als er aufstehen und sich unauffällig in die Nähe des Paares begeben wollte, erhoben sich die beiden wieder und liefen Hand in Hand davon. Ulrich versuchte, sich seine Eltern so vorzustellen. Doch er kam nur bis zu der Stelle, wo sie sich an die Schreibtische setzten und danach still dort verharrten, als wüssten sie nicht, was sie als Nächstes zu tun hätten. Ulrich sah wieder einmal ein, dass das Schicksal, das die Eltern umgeben hatte, noch bis in seine eigene Gegenwart reichte.
Als Ulrich ein kleines Kind gewesen war, hatte es in der Nähe ihrer Wohnung zwischen den Häusern ein brachliegendes Grundstück gegeben, wo über Mauerresten hohes Gras wuchs. Das Grundstück hatte eine seltsame Faszination auf Ulrich ausgeübt, und auf einem Spaziergang hatte er die Mutter irgendwann gefragt, warum dort kein Haus stünde. Zu seinem Erschrecken war die Mutter, die er bis dahin als ruhig und überlegt, wenn auch oft seltsam unbeteiligt an dem, was sie umgab, erlebt hatte, wie angewurzelt stehen geblieben. Sie hatte seine Hand so fest gehalten, dass es ihm weh getan hatte.
Dann hatte sie mehr hervorgestoßen als gesagt: »Da ist eine Bombe draufgefallen, das Haus war weg und alle waren tot.«
Bevor Ulrich noch irgendetwas hatte fragen können, hatte die Mutter ihn an der Hand weiter gezerrt. Am Abend jenes Tages hatte Ulrich vor dem Zubettgehen immer drängender darauf bestanden zu erfahren, was Bomben seien und warum sie auf Häuser fielen, doch die Mutter hatte nur gesagt, dass das nun alles vorbei sei und man darum nur froh sein könne. Auch der Vater hatte zu Ulrichs Fragen geschwiegen, sein ungewöhnlich lautes »Jetzt ist Schluss!« hatte den weinenden Ulrich endgültig ins Bett getrieben.
In der Folgezeit hatte es Ulrich lange nicht gewagt, an dem brachliegenden Grundstück vorbeizulaufen. Konnte man denn wissen, ob unter den Mauerresten nicht noch die Toten lagen? Von einer Großtante hatte Ulrich Jahre später erfahren, dass seine Mutter und sein Vater als Kinder bei einem Bombenangriff in einem Keller verschüttet worden waren. Beide Mütter waren dabei ums Leben gekommen und man schickte die unzertrennlichen Nachbarskinder zu der gleichen Pflegefamilie aufs Land. Niemand habe sich gewundert, dass sie später auch geheiratet hatten. Ulrich war das Leben seiner Eltern danach wie ein immer noch andauerndes Überleben erschienen, dessen sie sich selbst nicht einmal bewusst waren.
»Nun hat sie es hinter sich«, hatte der Vater nach dem Tod der Mutter einmal gesagt, und Ulrich hatte sich gefragt, ob der Vater damit das Leben im Allgemeinen meinte oder noch etwas anderes, das nie genauer benannt worden war.
Ulrich war als ein Verbündeter des elterlichen Schweigens aufgewachsen, der darauf bedacht war, die Eltern nicht unnötig aufzuregen oder zu belasten, sondern ihnen als verlässlicher Partner