Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand. A. S. Dowidat

Die Geschichte von Ulrich, der bei Ikea einzog und das Glück fand - A. S. Dowidat


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Gab es tief verborgen im Möbelhaus ein Geheimnis? Etwas, das er irgendwann entdecken müsste? Womöglich verbarg sich hier auch für ihn ein Ziel für sein Leben, das ihm bisweilen so leer schien.

      Getragen von dieser Hoffnung und von seinen Aussichten beflügelt, wollte Ulrich auch anderen wenigstens ein kleines Glückserlebnis verschaffen. Gerade trat ein Kind an einen Wühltisch mit kleinen Stoffmäusen, streckte sich daran hoch und griff mit einer Hand hinein. Mit einer weißen Maus lief es dann zu seinen Eltern hin.

      Die Eltern schüttelten den Kopf, als das Kind ihnen die Maus entgegenhielt und sagte: »Die möchte ich haben!« Dann blieb es still stehen und schob ein leiseres »Bitte« hinterher.

      Ulrich hörte die Mutter sagen: »Nein, die brauchst du nicht«, der Vater befahl: »Leg sie zurück!« Folgsam kam das Kind zum Wühltisch zurück und legte die Maus wieder hinein. Daraufhin lief es wieder zu seinen Eltern und ging mit ihnen in Richtung Restaurant davon.

      Ulrich blickte ihnen nachdenklich hinterher. Nach einer Weile sah er sich nach allen Seiten hin um. In der Kinderabteilung war augenblicklich nicht viel los, nirgends war ein Mitarbeiter des Möbelhauses zu entdecken.

      Rasch holte Ulrich sich eine der gelben Taschen, die in einem Drahtkorb lagen, warf einige der kleinen Stoffmäuse und weitere Stofftiere hinein und schlenderte langsam zum Restaurant. Dort bummelte er zwischen den Tischen hin und her und setzte hier und dort eine der Mäuse auf einen freien Tisch.

      Das Kind saß mit der Mutter an einem der Tische am Fenster, den Vater entdeckte Ulrich in der Schlange an der Essenstheke. In einem großen Bogen näherte sich Ulrich dem Tisch und lief dann nahe an ihm vorbei. Die Mutter wischte mit dem Finger auf ihrem Smartphone herum und bemerkte sonst nichts. Das Kind saß mit verschränkten Armen und hängendem Kopf da und rührte sich nicht.

      Erst als Ulrich zwei Mäuse auf den Nachbartisch setzte, die sich umarmten, sah das Kind zu ihm hin. Ulrich hielt den Kopf schräg und lachte zu ihm hin. Das Kind zog die Stirn in Falten. Ulrich holte weitere Stofftiere aus der Tasche, die größeren platzierte er auf den Stühlen, die kleineren setzte er auf der Tischmitte zu einem Kreis zusammen. Fasziniert blickte das Kind zu Ulrich hin. Zuletzt versuchte Ulrich, aus einigen Stoffmäusen einen Stapel zu errichten, der jedoch zusammenfiel. Er zuckte mit den Schultern und lachte, aus dem Augenwinkel sah er auch das Kind lachen. Ulrich ließ die leere Tasche am Tisch zurück und ging zum Ausgang des Restaurants, wo er erneut in der Möbelausstellung verschwand.

      Dass er seit dem Betreten des Restaurants von einer Frau beobachtet worden war, die an einem der Tische am Eingang saß, unter dem sie zwei gelbe Plastiktaschen abgestellt hatte, hatte Ulrich nicht bemerkt.

      2.

      Das Arbeitsamt ermahnte Ulrich dringend, Bewerbungen zu schreiben, und drohte ansonsten mit einer zeitweisen Nichtzahlung des Arbeitslosengeldes. Zudem war Ulrich verpflichtet worden, an einem zweiwöchigen Computerkurs teilzunehmen. Der Vollzeitkurs sollte nächste Woche beginnen und Ulrich spürte einen immer stärkeren Widerstand. Wie sollte er dann noch seine täglichen Streifzüge durch das Möbelhaus aufrechterhalten?

      Ulrich lag auf einer Matratze in der Bettenabteilung und blickte grübelnd an die Decke mit ihrem Gewirr aus Versorgungsleitungen. Er fühlte sich zwar oft zu keiner Entscheidung fähig, aber eines wusste er genau: Ein Computerkurs würde ihm nicht helfen, seine Lebensfragen zu beantworten. Den Brief mit der Aufforderung, sich am kommenden Montag um acht Uhr in einem Schulungszentrum im Norden der Stadt einzufinden, hatte er daher kurzerhand in den Papierkorb geworfen.

      Seine Streifzüge durch das Möbelhaus hatte Ulrich in den letzten Wochen weiter ausgedehnt, oft hielt er sich den ganzen Tag dort auf, ohne dass ihm langweilig wurde. Dabei fiel ihm immer wieder die Kundin auf, die mit zwei gelben Plastiktaschen durch das Möbelhaus lief und dabei auf Ulrich so selbstgewiss wirkte, wie er es sich selbst auch wünschte. Anders als er schien sie zu wissen, welches Ziel sie verfolgte. Sie hielt sich offenbar nie allzu lange im Möbelhaus auf, sondern dekorierte hier und da die ausgestellten Zimmer und Wohnungen etwas um, machte sich hin und wieder Notizen, aß etwas im Restaurant und war wieder verschwunden.

      Ulrich hätte sie gerne angesprochen, doch er hatte keine Vorstellung, auf welche Weise er das bewerkstelligen sollte. Leicht und unbefangen müsste man dies tun können, so leicht und unbefangen, dass man sich Wochen oder Monate später so glücklich wie auf einem der Werbeplakate des Möbelhauses in einer Küche beim gemeinsamen Kochen oder in einem Schlafzimmer bei einer lustigen Kissenschlacht wiederfinden konnte. Doch wollte er das überhaupt? – So war es immer: Wenn Ulrich nur die leiseste Vorstellung von möglichen Wegen in seinem Leben entwickelte, kam ihm sofort eine Zweifelsfrage in den Weg, die alle weiteren Schritte unterbrach.

      An diesem Samstagabend war Ulrich unter den letzten Kunden des Möbelhauses. Er hatte sich fest vorgenommen, am Montag nicht zu dem ihm auferlegten Kurs zu erscheinen. Doch gleichzeitig ängstigte ihn die Vorstellung, der Kursleiter würde seinen Namen aufrufen, nach einer Weile missbilligend in die Runde blicken und dann mit einem roten Stift einen Vermerk hinter seinen Namen machen. Sein Nichterscheinen würde auch das Arbeitsamt nicht auf sich beruhen lassen. Ulrich hatte das Gefühl, er stünde in einer Schlucht zwischen Felswänden, die sich immer näher auf ihn zubewegten. Und nein, er würde nicht zum Kurs erscheinen. Aber was um Himmels willen wären die Folgen? Sollte er da nicht lieber doch … Nein. Doch.

      Ulrich war kurz davor, in ein leises Weinen auszubrechen. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich jemals in seinem Leben einer Aufforderung verweigert hatte. Doch dieser Kurs erschien ihm so unsinnig und geradezu gegen seinen möglichen weiteren Lebensweg gerichtet, dass er ein deutliches Nein gedacht hatte, als er die Kurseinladung aus dem Briefumschlag zog. Dieses Nein bröckelte jetzt wieder, denn konnten die Folgen nicht verheerend sein? Würde er nicht auf einer Liste des Arbeitsamtes landen, auf der die Trödler und Verweigerer erfasst wurden, die den amtlichen Aufforderungen nicht nachkamen und die man daher besonders ins Auge fassen musste?

      Ulrich steigerte sich in die Vorstellung hinein, jemand vom Amt würde spätestens am Dienstag persönlich bei ihm vorstellig werden, um ihn zum Schulungszentrum zu eskortieren. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind nach den allerersten Schultagen einen Widerwillen dagegen empfunden hatte, sich weiterhin dieser täglichen Routine auszusetzen. Er empfand die Schule und das Lernen nicht als besonders schlimm, auch die Mitschüler waren umgänglich, und wäre der Schulbesuch freiwillig gewesen, hätte er nichts dagegen einzuwenden gehabt. Doch die Vorstellung, gar keine Wahl zu haben, sondern von nun an jeden Morgen früh aufstehen zu müssen, um sich einer nicht gewählten Gemeinschaft auszusetzen, war ihm plötzlich und ohne jede Vorbereitung wie ein einziger Graus erschienen.

      Hatte er denn von nun an gar keine Wahl mehr im Leben? Er hatte sich doch bislang immerhin freiwillig dafür entschieden, nicht auf den Baum zu klettern, sondern am Fuße des Baumes zu sitzen und in aller Ruhe ein Bilderbuch zu betrachten. Jetzt würde er jeden Tag morgens zur gleichen Stunde denselben Weg zurücklegen müssen, um an demselben Tisch zu sitzen. Nein. Er würde lieber zu Hause bleiben und nur dann zur Schule gehen, wenn er wollte. Am dritten Schultag hatte er sich kurz nach Verlassen der Wohnung auf der Straße von der Hand seiner Mutter gelöst. Er reckte das Kinn und sagte laut: »Nein! Nein, heute möchte ich nicht in die Schule gehen!«

      Seine Mutter blickte erstaunt zu ihm hin, als hätte sie eine solche Schwierigkeit nie von ihrem Sohn erwartet und ihm auch niemals zugetraut. »Komm«, sagte sie nur und streckte ihm ihre Hand hin.

      Ulrich stemmte die Hände in die Hüften und blieb stehen. Seine Mutter lief einige Schritte weiter, rief noch einmal: »Komm, komm«, so als glaube sie immer noch nicht, dass Ulrich es ernst meinen könnte. Dann blieb sie wieder stehen und schüttelte den Kopf. Als sie einige Schritte auf ihn zuging, immer noch mit der ihm hingestreckten Hand, wich Ulrich zur Seite und klammerte sich an ein Verkehrsschild. Er war darauf vorbereitet, der Mutter Widerstand entgegenzusetzen, er erwartete, dass sie versuchen würde, ihn vom Verkehrsschild wegzuziehen, und so klammerte er sich noch enger an das Schild. Wenn er sich diese Situation ins Gedächtnis rief, hatte Ulrich noch heute das Gefühl, dass er damals vor etwas Großem gestanden hatte. Womöglich wäre sein Leben


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