Bienen oder die verlorene Zukunft. Kornelia Schmid

Bienen oder die verlorene Zukunft - Kornelia Schmid


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als bei Menschen, weil ihre Strukturen diffuser wirkten.

      Schwarmartig, schoss es ihr durch den Kopf. Leider schwächte die Distanz ihre Wahrnehmung. Gleichwohl weitete sie ihre Suche aus. Am tiefsten Punkt der Anlage weckte eine Konzentration der fremdartigen Signaturen ihr Interesse. Chipuna mochte sich irren, aber für sie hatte es den Anschein, als würden sie sich dort um ihre Königin scharen. Mit einer Geistesanstrengung fokussierte sie ihre Sinne auf das Zentrum des Bienenstamms, als die Kraftfäden heftig zu vibrieren begannen. Erschrocken ließ sie ihren Aufklärungszauber fallen und japste nach Luft.

      Das abrupte Ende ihres Rituals erweckte Madus Misstrauen. »Was ist los? Was hast du gefunden?«

      »Das kann ich dir nicht genau sagen«, gab sie mit zusammengebissenen Zähnen zu. »Ich war unvorsichtig und bin etwas Machtvollem zu nahe gekommen. Aber immerhin habe ich herausgefunden, wo wir suchen müssen.«

      Mit Unterstützung von Madus Systemen gelang es ihnen rasch, den Knoten aus weit verzweigten Gängen, Treppen und in Mandarin gehaltenen Hinweistafeln zu entwirren. Am Ende standen sie in einem schlauchartigen Korridor, auf dessen gegenüberliegender Seite eine nach außen geöffnete Stahltür Zugang zu einer Halle bot, aus der gedämpftes Licht quoll. Mit Sicherheit war dies kein Zufall. Entweder es handelte sich um eine Einladung oder um eine Falle. Zumindest war Vorsicht angebracht. Flink gab Chipuna Madu einen Wink und schob sich lautlos an ihm vorbei. In dieser Situation schätzte sie, dass ihre Fähigkeiten hilfreicher sein dürften als seine Technik. Für den Fall, dass sie schnell handeln musste, fingerte sie einen Klumpen Erde aus ihrer Jackentasche, spuckte darauf und knetete sie dann zu einer murmelgroßen Kugel, auf die sie eine Beschwörung hauchte. Anschließend schlich sie, sorgfältig darauf bedacht, sich nicht durch den Hall ihrer Stiefel zu verraten, zum Türrahmen und lugte vorsichtig in den Raum.

      Der Anblick überwältigte sie.

      Die Wände und die Decke der Halle waren mit Bienenwaben übersät, in denen mit Leichtigkeit ein Kind Platz gefunden hätte. Als wäre das nicht Wunder genug, verströmten sie ohne erkennbare Quelle das warme Licht von Wachskerzen. Das gesamte Gewölbe war von einem eifrigen Brummen erfüllt.

      Chipunas magische Sinne überschlugen sich. Für einen Moment meinte sie, mit eiskalten Nadeln malträtiert zu werden. Nachdem sie sich gefangen hatte, gab sie Madu mit einer Geste zu verstehen, dass er warten solle, bis sie ihn heranwinke. Dann eilte sie ohne Umweg auf einen Stapel Kisten zu, hinter dem sie sich verstecken und die Lage sondieren wollte. Doch kaum hatte sie den Raum betreten, erscholl in ihrem Rücken ein metallischer Knall. Chipuna wirbelte herum. Ein asiatisch aussehender Mann hatte sich hinter der Stahltür verborgen und sie mit Wucht zugeworfen. Ihre Finger wurden eiskalt und ihre Beine wackelig – der Mann hatte sie von Madu getrennt.

      »Guten Abend, Schamanin«, schnurrte er in ihrer Sprache. Sein dunkles Haar trug er strubbelig gestylt, was gut zu seinem flachgedrückten Gesicht und dem modernen Anzug passte. Wären da nicht die gelben Sprenkel in seinen Pupillen gewesen, hätte man ihn glatt für einen normalen Manager halten können. Chipuna erkannte ihn wieder. Augenscheinlich handelte es sich um den Expeditionsleiter aus dem Fernsehbericht, Cheng Li. Doch sie ließ sich von seiner Maskerade nicht in die Irre führen. Für einen einfachen Menschen besaßen seine Worte zu große Macht und strahlte seine Aura zu intensiv. Kein Wunder, dass ihre Sinne eben überreagiert hatten. Im Nachhinein ärgerte es sie, ihm trotzdem in die Falle gegangen zu sein. Doch schon im nächsten Moment gewann ein anderes Gefühl, eine skurrile Mixtur aus Neugier und Unbehagen, die Oberhand. Denn zweifelsohne stand sie dem Wesen gegenüber, das sie gesucht hatte, auch wenn sie sich für ihr erstes Treffen deutlich mehr Abstand gewünscht hätte. Jetzt hielt es alle Fäden in der Hand und Chipuna konnte nicht einschätzen, an welchen es ziehen würde. Andererseits, wenn es wirklich in der Absicht des Wesens gelegen hätte, sie zu töten, hätte es dies längst erledigen können. Daher entschied sie sich, in die Offensive zu gehen.

      »Was soll die Scharade? Sie sind nicht Cheng Li«, fuhr sie ihr Gegenüber an. Dieser lächelte und unter den Schichten von Haut und Gesichtsmuskeln zeichnete sich auf einmal der lumineszierende Umriss einer Biene ab, die Richtung Stirn krabbelte.

      Chipunas Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, als ihr dämmerte, mit wem sie es zu tun hatte.

      »Mutter Biene? Dich hat die Expedition gefunden?«, stotterte die Schamanin erstaunt. In der Mystik ihres Stammes war Mutter Biene direkt aus dem Urei geschlüpft und somit die Erste und Älteste ihrer Art. Eine Geburt der Schöpfung, weit mehr Naturgewalt als Tier. Mit der Auslöschung ihres Volkes galt auch sie als verschwunden.

      »Ich bin es, und bin es nicht«, gab sich Mutter Biene rätselhaft. Mit tänzelnden Schritten bewegte sich Cheng Li auf Chipuna zu und umrundete sie mehrmals in scheinbarer Seelenruhe, doch seine Augen verrieten ihn. Der Gelbstich seiner Pupillen war ins Rötliche gewechselt. Und je enger er seine Kreise zog, desto mehr schien er um seine Selbstbeherrschung kämpfen zu müssen. Nur mühsam gelang es ihm, seinen Hunger und seine Gier zu zügeln. Nun fiel Chipuna der phenolähnliche Geruch auf, der ihn umgab. Zweifelsfrei stammte er vom Gelée Royale, Mutter Bienes einziger Nahrungsquelle. Allerdings war er mit einem unangenehmen metallischen Duft durchsetzt, den sie nur zu gut kannte.

      »Seit wann ernähren sich Bienen von Blut?«, fragte sie sich. Anstatt sie abzuschrecken, versetzte dieser Aspekt ihrer Neugier einen zusätzlichen Schub. Selbstbewusst trat sie einen Schritt auf Cheng Li zu. Sie musste herausfinden, warum Mutter Biene die Reinheit ihrer Schöpfung – ja, was eigentlich? - geopfert oder verloren hatte. Denn wenn ihre Essenz beschmutzt war, hatte sich dies wahrscheinlich auch auf ihre Kinder übertragen. Zumindest würde dies das aggressive Verhalten des Wissenschaftlers am Tor erklären.

      »Was ist mit dir passiert, Mutter Biene?«, fragte sie ohne jede Spur von Furcht.

      Cheng Li trat ein Stück zurück, neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte anerkennend.

      »Du zeigst wahren Mut. An dir haftet weder der Duft von Angst noch von Verzweiflung und dein Gesicht spricht Bände. Du willst wissen, auf wen du dich einlässt.«

      Mit seiner Zungenspitze fuhr sich Cheng Li über die Lippen, als wären sie ausgetrocknet. »Vor Kurzem befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Während der Kolonialisierungsphase sah ich den Untergang kommen und nistete mich in einer Mondfähre ein, die mich nach Neu-Peking brachte. Die Menschen, die Mörder meines Volkes, widerten mich an und so zog ich mich in die Ödnis der anderen Mondhälfte zurück, weit weg von eurer Zivilisation. Im Nachhinein kam dies einem Selbstmord gleich. Meine Magie ist an die Energien der Erde gebunden und hier auf dem Mond und besonders auf seiner dunkeln Seite nur ein Schatten ihrer selbst. Zu überleben hatte all meine Kräfte aufgezehrt. Ich spürte mein Ende nahen, war einsam. Dachte ich zumindest. Bis ich am Leizhou-Krater auf eine Fährte stieß. Sie zu wittern, ließ mich erschaudern und zog mich zugleich in ihren Bann.«

      Sein Gesicht nahm einen fragenden Ausdruck an. »Kennst du den Ursprung des Kraters?«

      Gespannt schüttelte Chipuna den Kopf.

      »Vor tausenden von Jahren steuerten aus der Tiefe des Alls zwei Asteroiden auf unser Sonnensystem zu. Nicht anders als ein Raumschiff transportierten sie in ihrem Kern außerirdische Wesen. Einer schlug auf dem Mond ein, der andere auf der Erde.«

      Chipuna schluckte. »Was für Wesen?«, flüsterte sie.

      »Vampire.« Cheng Li lachte bitter. »Wir Bienen und sie teilen dasselbe Schicksal. Unsere Völker wurden vom Angesicht der Erde getilgt und nur die dunkle Seite des Mondes garantierte bislang Sicherheit vor den Menschen. Die Vampire harren dort fest schlafend wie Tote aus, bis etwas Lebendiges ihren Durst weckt.«

      »Du warst das Lebendige«, entfuhr es Chipuna.

      »Nicht anders als du mich jetzt, fand ich sie faszinierend und entschloss mich, einer von ihnen zu werden. Ich bin ein magisches Wesen. Statt mit Blut nährte ich sie mit Teilen meiner Essenz und nahm dafür ihre auf. Ihre Fähigkeiten und die Art, sich fortzupflanzen, rettete nicht nur mein Leben, sondern bot mir die Chance, wieder ein eigenes Volk zu gründen.«

      Langsam setzte sich in Chipunas Geist ein Mosaik zusammen.

      »Du


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