Bienen oder die verlorene Zukunft. Kornelia Schmid
auf der Station traf es völlig unvorbereitet. Mein neuer Stamm verbreitete sich schnell und unbemerkt unter ihnen. Niemand hatte die Gelegenheit Neu-Peking zu warnen«, schloss Cheng Li die Erzählung. Konzentriert kniff er die Augen zusammen, als müsse er seinen Blutdurst unterdrücken.
»Aber warum haben wir dann menschliche Signale geortet, wenn ihr Vampire seid?«, warf Chipuna ein.
»Schenke den Hollywood-Streifen keinen Glauben. Mein Stich tötet nicht. Meine Kinder sind keine Untoten. Er pflanzt ihnen lediglich ein Stück meiner Natur ein. Und die drängt regelmäßig an die Oberfläche. Dann verwandeln sie sich in Bienen.«
»In Vampirbienen«, warf Chipuna ein.
»Nicht immer. Verwandeln sie sich tagsüber, sammeln sie Pollen, nur nachts, wenn sich nichts Besseres finden … Blut. Und dennoch bleiben meine Kinder die meiste Zeit über Menschen. Die, die mein Volk vernichtet haben, bilden nun mein neues.«
Chipunas Gedanken überschlugen sich. »Sie bleiben Menschen!«, hallte es in ihr nach.
Dann kam ihr ein Gedanke.
»Warum hast du mich bisher nicht gestochen?«
Cheng Lis Blick nahm ernste Züge an.
»Der Mond ist nicht meine Heimat. Ich muss zurück, wieder die Erde spüren, ihre Luft atmen und ihre Pollen schmecken. Ich bin empathisch genug, um zu erkennen, dass du mich dort hinbringen möchtest und dass ich dir vertrauen kann und dass du dich für den Fortbestand meines Volkes einsetzen wirst. Dort unten werde ich Verbündete brauchen.«
Bevor Chipuna Antwort geben konnte, erbebte die Halle. Mit ohrenbetäubendem Lärm riss es die Stahltür aus den Angeln und eine Druckwelle rollte über die Schamanin hinweg. Allem Anschein nach hatte Madu sie gesprengt. Augenblicke später stürmte er hinein.
»Verrecke, Vampirbrut!«, brüllte er mit absoluter, unerschütterlicher Stimme. In einer Hand hielt er eine Granate. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen.
»Chipuna, bring dich in Sicherheit. Ich werde hier alles ausräuchern!«
Entsetzt verstand sie: Mithilfe seiner Elektronik hatte Madu das Gespräch belauscht, die Vampirbienen als unkalkulierbares Risiko eingestuft und zugleich ein Todesurteil über sie verhängt.
Simultan schwoll das allgegenwärtige Brummen zu einem Getöse an, das wie ein Kampfhubschrauber klang, der zum Angriff überging. Aus allen Ecken der Halle stürzten dutzende Bienenschwärme heran, um ihre Stockmutter zu schützen. Madu würde sie alle ins Verderben reißen. Erschrocken sah Chipuna zu Mutter Biene hinüber.
Ihr Partner hatte sie in eine Situation gebracht, in der sie sich für eine Seite entscheiden musste. Verdammt, sie hätte sich einfach mehr Zeit dafür gewünscht. Aber diesen Luxus hatte sie nicht. Ihr blieben allenfalls 30 Sekunden, bis Madu sein Urteil vollstrecken würde. Im Sprint umrundete er sie und steuerte auf das Zentrum der Halle zu, wo eine Detonation den größtmöglichen Radius abdecken und somit maximalen Schaden anrichten würde. Indem er bei hoher Geschwindigkeit Haken schlug und Hindernisse übersprang, war es schwer, seinen gewählten Weg vorauszuahnen. Durch diese Taktik machte er es den langsamer fliegenden Bienen nahezu unmöglich, zu ihm aufzuschließen. Für Chipuna stand schon nach wenigen Augenblicken fest, dass Madu sein Ziel erreichen und den Heldentod finden würde. Niemand außer ihr würde ihn aufhalten können, selbst Mutter Biene nicht. Doch auch wenn sie sich entschließen sollte, ihren Partner zu töten – allein bei der Vorstellung drehte sich ihr der Magen um -, würde er den Auslöser loslassen und damit alles Leben in der Halle auslöschen. Auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg pochten ihre Gedanken so heftig hinter ihrer Stirn, dass sie Kopfschmerzen bekam.
Madus wütendes Fluchen riss sie zurück in das Geschehen. In der Hektik hatte er eine bauchhohe Kiste übersehen und musste gezwungenermaßen sein Tempo drosseln. Diesen Moment passte ein dort positionierter Schwarm ab. Er stob auseinander, um ihn einkreisen zu können, und stieß dann von oben auf ihn hinab. Aber so leicht ließ sich der erfahrene Krieger nicht überrumpeln. Geübt rollte er sich mit der Schulter über die Kiste ab, stolperte jedoch bei der Landung unglücklich über seine Beine und schlug auf den Boden. Um sich wieder aufzurichten, stützte er sich mit der Faust, die die Granate hielt, ab. Sein Missgeschick kostete ihn wertvolle Sekunden. Zeit, die Chipuna benötigte. Dies war ihre Gelegenheit.
Mit der magisch geladenen Erdkugel zielte sie auf Madu, konzentrierte sich auf die gewünschte Wirkung und löste den Zauber aus. Unnatürlich schnell schoss der Klumpen auf Madu zu und zerplatzte auf seiner Hand. Sofort wurde sie von einem dichten, stark klebrigen Rankengewirr umschlossen, das ihn daran hinderte, den Auslöser loszulassen. Als Nebeneffekt fixierten die Ranken Madus Hand fest auf dem Beton. Während der Krieger mit ruckartigen Bewegungen versuchte, seine Hand zu befreien, verwandelte sich Cheng Lis Körper in eine große, hell leuchtende Biene und ging ihrerseits zum Angriff über. Chipunas Zauber hielt. Noch bevor er sich mit einem kleinen Laser losschneiden konnte, war Madu von einem riesigen Bienenschwarm eingehüllt.
***
»Gleich überfliegen wir den Viktoriasee«, informierte sie Madu.
Chipuna sah nachdenklich aus einem der winzigen Bugfenster der Frankenstein und sann über die Ereignisse des letzten Tages.
Mit einem kleinen Seufzer begrub sie den letzten Funken Wehmut und wendete sich der Zukunft zu. Nach der Verbindung von Mensch und Technik begann nun eine Ära der Verbindung von Mensch und Natur. Sie schenkte Madu ein ehrliches Lächeln. Unter seiner Stirnhaut leuchtete ein bienenartiger Schemen auf. Unbeholfen verneigte sich die Schamanin vor Mutter Biene und breitete einladend ihre Arme aus.
»Willkommen zurück auf der Erde!«, begrüßte sie Afrikas neue Hoffnung.
Sebastian Loy lebt mit seiner Familie am Übergang zwischen urban geprägtem Rheinland und idyllischer Eifel. Die phantastische Literatur begleitete ihn seit seiner Kindheit, zum Schreiben fand er ab 2015. Einige Geschichten wurden bereits veröffentlicht.
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