Machtmaschinen. Viktor Mayer-Schonberger

Machtmaschinen - Viktor  Mayer-Schonberger


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Die Informationen der vielen Transaktionen ermöglichen es Amazon, mit überlegener Marktübersicht die pro­­fitabelsten Produkte selbst zu vertreiben oder noch pro­fi­tab­le­re Eigenmarken auf dem Marktplatz besonders vor­teil­haft zu platzieren. Bei den Reisevermittlungsplattformen wie Booking.com, Lieferportalen wie deliveroo oder (scheinbar) neu­tralen Preisvergleichsdiensten wie Check24 baut das Geschäftsmodell ebenfalls auf ungleicher Informationsmacht auf. Der datenreiche Matchmaker weiß, welche Kundin und welcher Kunde welches Angebot suchen. Sie ermöglichen ihm die­ses Wissen oft aus Bequemlichkeit und die Anbieter lassen es mangels Alternativen mit einem Gefühl der Ohnmacht zu. Neu­tral betrachtet aber haben die unbeliebten Vermittler schlicht rechtzeitig ausreichend viel Geld in einen für die Nutzergemeinde bequemen und informationellen Mehrwert bietenden digitalen Marktplatz investiert. Dieser Marktplatz sam­melt die Daten von Angebot und Nachfrage, führt sie gegen eine (oft heftige) Gebühr zusammen, weiß mit jeder vermittelten Trans­aktion mehr und kann daher Angebot und Nachfrage mit mehr Wissen noch passgenauer zusammenführen, um noch mehr Gebühren zu kassieren.

      Niemand hat die Hotelbranche, den Einzelhandel und die Supermarktketten, Restaurants oder Taxi-Innungen daran gehindert, selbst derartige Plattformen zu bauen, die Angebote für die Kundschaft leicht auffindbar und bequem buchbar ma­chen. Niemand hat der Pharmaindustrie verboten, einen kosten­günstigen Dienst für individuelle Genanalyse wie 23andMe ­anzubieten und mit jeder Kundin/jedem Kunden – das kali­fornische Start-up hat heute mehr als zehn Millionen – drei zusätzliche Gigabyte wertvolle Daten zu sammeln, die tiefe Ein­sichten in die menschliche Gesundheit (und künftige Krank­hei­ten) ermöglichen.

      Die großen Anbieter von radiologischer Medizintechnik hätten sehr wohl die Ressourcen gehabt, in Zusammenarbeit mit jungen Datenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern KI-Systeme zur Krebserkennung zu entwickeln. Die Daten waren ihnen vermutlich leichter zugänglich als den Machine-­Learning-Experten von IBM. Doch Siemens und Co. überließen Big Blue und Co. kampflos das Feld.

      Telekommunikationsdienstleister hätten die sich heute zu sozialen Netzwerken weiterentwickelnden Messenger-Dienste einführen können oder wie Google mit einer kostenlosen Tele­fonauskunft eine Spracherkennungssoftware trainieren können. Die Telkos wollten aber lieber weiterhin SMS verkaufen und stellten die Telefonauskunft ganz ab.

      Die Hollywoodstudios verfügten über jede Menge Inhalte, als Netflix noch mühsam DVDs per Post verschickte. Netflix baute eine digitale Plattform auf, analysierte dazu die Daten der Videonutzung, um herauszufinden, welche Storylines wie ankamen, und wurde zum vertikal integrierten Produzenten und Anbieter von süchtig machenden Serienangeboten. Disney versucht jetzt aus der Nachzüglerposition heraus, seine Inhalte auf einer eigenen Plattform zu verkaufen, und scheint auch tatsächlich wieder direkten Zugang zu Kunden zu finden. Die Banken haben in West und Fernost den digitalen Payment-­Diensten wie Paypal oder Transferwise, AliPay oder WeChat den Markt überlassen. Nicht sie, sondern Fintech-Unternehmen wie Betterment, Wealthfront oder in Deutschland Liqid und Scalable kamen mit Robo-Advisors auf den Markt. Banken blieben die monolithischen Firmen, die zwar über extrem viele Daten verfügen, diese aber kaum nutzen, sondern sogar gegen die eigenen, grotesk veralteten IT-Infrastrukturen kämpfen. Die Deutsche Bank ist hierfür ein besonders markantes Beispiel unter vielen.

      Und wer, wenn nicht Toyota, Volkswagen oder ein Verbund der Premiumhersteller Mercedes und BMW, hätte das Geld (und die Flotten) gehabt, die Welt der Straßen mit Kamerawagen neu zu vermessen und damit die Datengrundlage für jene Fortschritte beim autonomen Fahren zu legen, die wir als selbstlernendes System oben beschrieben haben? Während die Auto­mobilhersteller an der nächsten Modellgeneration arbeiteten, das 7-Gang-Automatikgetriebe ein klein bisschen besser als das vorherige machten, schickte Google seine Autos los. Warum? Weil Daten nicht das neue Öl sind, das man bunkert oder bestenfalls im bestehenden Geschäftsmodell »verbraucht«, sondern durch deren fortgesetzte Nutzung man lernt. So werden Informationen, Innovationen und ökonomische Macht er­möglicht, von denen die Ölbarone des 19. Jahrhunderts nur hät­ten träumen können.

      Das alles ist den ehemaligen Riesen des Industrie- und Fi­nanzkapitalismus nicht zwingend vorzuwerfen. Auf informationszentrierte Geschäftsmodelle umzuschwenken war nie so leicht, wie eine gut bezahlte Transformationsberaterclique bei ihren Safaris zu Start-ups im Silicon Valley oder in Shenzhen behauptet. Der Harvard-Ökonom Clayton Christensen nannte die Pfadabhängigkeit von besonders erfolgreichen Unternehmen, die gewachsene Kundenbedürfnisse bedienen müssen und damit gutes Geld verdienen, nicht ganz ohne Grund ein Dilemma. Aus Dilemmata gibt es bekanntlich keinen Ausweg (oder wenigstens keinen konventionellen).

      Für eine radikale Umstellung der Geschäftsmodelle, Prozesse und Produktportfolios der wirtschaftlichen Goliaths ­un­ter den Automobilherstellern, Finanzdienstleistern, Konsumgüter- und Medienanbietern ist eigentlich immer der falsche Zeit­punkt. Dieses Risiko können, so prognostizierte Clayton Christensen 1997 in seinem Weltbestseller The Innovator’s Dilemma, nur mit Wagniskapital finanzierte Disruptoren eingehen. Christensen sollte im Großen und Ganzen recht behalten. Gerade auch deshalb wirkt es auf uns fast wie eine höhere Pointe, dass die großen Disruptoren der letzten 20 Jahre trotz ständiger Präsenz auf Konferenzen und demonstrativ zur Schau gestellter Transparenz überraschend geheim halten konnten, was sie wirklich erfolgreich gemacht hat.

      Der kleine Sheldon und die halbe Wahrheit

      Wie arbeitet und funktioniert das Unternehmen Google? 2014 gaben der damalige CEO Eric Schmidt und der Senior Vice Pre­sident für Produkte Jonathan Rosenberg die Antwort in ihrem New-York-Times-Bestseller How Google Works. Auf gut 300 Seiten erzählten sie viele Anekdoten zur famosen Firmenkultur, zu den agilen Teams aus brillanten Köpfen, über die kreative Zusammenarbeit und die kalifornische Lust zur Sprunginnovation. Schmidt und Rosenberg beschrieben in bunten Farben, wie das Unternehmen Talente aus aller Welt anzieht. Sie lobten die evidenzbasierte Entscheidungsfindung und damit ver­bundene, tief verankerte Mentalität, alles Mögliche mit allen möglichen Experimenten zu testen. Zum Buch gab es Videos mit tollen Vorträgen der Autoren auf Youtube und kostenlos herunterladbaren Powerpoint-Folien, die Organisationsberater und New-Work-Missionare bequem in ihre Präsentationen ein­bauen konnten.

      How Google Works war ein genialer Marketingcoup mit der Kernbotschaft: Weil zwei junge Genies zum richtigen Zeitpunkt eine Idee für einen überlegenen Suchalgorithmus hatten, wur­de Google zu einer der mächtigsten Firmen der Welt. In ihr durften dann viele kluge Köpfe auf einem Campus in einer Netzwerkorganisation viel kreativer zusammenarbeiten als die Angestelltenheere in den Top-Down-Organisationen der alten, vordigitalen Welt. Gutes Storytelling ist kein Fairytelling. Vermutlich stimmen die meisten Anekdoten in dem Buch, und na­türlich war die Arbeitskultur des Silicon Valley ein wichtiges Erfolgselement beim Aufstieg von Apple, Google, Facebook und Co. Gutes Storytelling muss aber nicht die ganze Geschichte erzählen. Von Informationsasymmetrien und exklusiver Nutzung von Daten ist in dem Buch so gut wie keine Rede.

      Wie Google haben es im Grunde alle Superstarfimen gemacht. Sie teilten Wissen und Technologie in Bereichen, von denen sie wussten, dass sich Konkurrenten daran abarbeiten würden, die aber nicht kriegsentscheidend waren. Apple weiß genau, wer wann welche Apps auf sein iPhone lädt, teilt aber dieses Wissen nicht mit den App-Entwicklern. Das Gleiche gilt für die Medieninhalte bei Apple News. Und ohne den Zugang zu Daten werden die Lieferanten der Inhalte zu Commodity-Dienstleistern. Sie sind Apple ausgeliefert.

      Spotify arbeitet ganz ähnlich. Die Stockholmer Musikplatt­form weiß, wer seiner rund 300 Millionen Nutzerinnen und Nutzer wann welche Musik hört, hütet diese Daten aber wie Coca-­Cola sein Originalrezept. Und sie nutzt die Informations­asymmetrien, um in allen Verhandlungen mit Zulieferern die Oberhand zu behalten. Booking.com lässt uns vieles über die Angebote dort wissen. Das Unternehmen kennt aber auch die kapazitäts- und zeitabhängigen Preisalgorithmen der dort ver­tretenen Hotels und Pensionen genau, weil es diese täglich im Einsatz sieht. Aber niemand darf an die Daten, denn sie sind die Wurzel von Bookings Informationsmacht.

      Im Rückblick betrachtet scheint es so, als hätten die Innovatoren auf dem Weg zum Superstarstatus ausreichend viele Nebelkerzen gezündet. Sie konnten die eigentliche Quelle ihrer disruptiven Erfolge so lange verstecken, bis es für die ehemals wertvollsten Unternehmen der Welt zu spät war. Für die dabei besonders relevante Frage des


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