HEIßE NÄCHTE IN UNTERFILZBACH. Eva Adam
und Kochen und wieder von vorn. Aber mit drei heranwachsenden Kindern, darunter einem kräftigen Jüngling, war das auch kein Wunder. Hansi senior war zwar schon ausgewachsen, zumindest in der Länge, aber trotzdem ebenfalls immer hungrig. Das Thema Nahrungsaufnahme war also ein wichtiger Bestandteil im Leben der Familie Scharnagl. Auch weil Bettina und der Rest sich da nicht immer einig waren. Bettina liebte vollwertige, gesunde Kost, gern auch vegan. Wobei Hansi, Isabelle, Hansi junior sowie das Nesthäkchen Indira hingegen eher die deftige bayerische Küche oder auch gern einmal Fast Food bevorzugten. Es war eine logische Konsequenz, dass es deshalb zu regelmäßigen Konflikten beim Thema Ernährung kam. Aber heute rückte das Essen aus gegebenem Anlass eher in den Hintergrund.
»Also ich weiß nicht, aber ich werd das blöde Gefühl nicht los, dass es gar kein Unfall war. Da muss jemand nachgeholfen haben«, sprach Sepp endlich aus, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging.
»Geh Sepp, wer sollte denn ausgerechnet dem Erwin was antun? Der war vielleicht manchmal ein rechtes G‘scheidhaferl und ein wenig nervig, aber ansonsten war der doch harmlos. Er muss ja sogar irgendwie beliebt gewesen sein, so lange wie er schon im Gemeinderat sitzt … ähm, saß. Irgendwer muss ihn da ja schließlich all die Jahre auch hineingewählt haben«, konnte Hansi dieser These überhaupt nicht beipflichten.
Ein paar Minuten schien es, als ob alle Anwesenden über diese zwei Möglichkeiten der Explosionsursache nachdachten, denn keiner sprach erst einmal ein Wort. Schweigend wurden Brote geschmiert oder im deftig würzigen Glaslfleisch – einer weiteren Spezialität des Metzgermeisters Reiner Aschenbrenner – herumgestochert.
»Na, so gut in Schuss war jetzt die alte Hütt‘n vom Weiderer auch wieder nicht. Der hatte ja sogar überall noch Aufputzleitungen, so was hab ich bisher noch nirgends sonst gesehen, da könnt schon auch ein Unglück passiert sein«, berichtete der Scharnagl-Sprössling Hansi junior. Er musste es wissen, denn er arbeitete als Elektriker bei Elektro Garhammer und kam in sehr viele Häuser.
»Ja schon, aber …« Sepp war sehr durcheinander.
Hansi wollte seinen Freund wieder einmal gut zureden. »Hm, also lass uns mal überlegen, Sepp. Es kann ja eigentlich nur die Gasleitung gewesen sein. Was sollt denn auch sonst explodieren? Und vielleicht hat er halt da nicht so drauf aufgepasst, auf die Leitungen, mein ich, dann könnte da eine undicht geworden sein. Und mei … weißt ja selber, Sepp, da reicht dann ja schon ein Funke.«
Sepp schien seine bohrenden Gedanken aber nicht so leichtfertig beiseiteschieben zu können. »Geh, so eine Gasleitung wird doch nicht einfach so undicht, auch wenn sie vielleicht nimmer die neueste war. Und wo soll dann bitte der Funke hergekommen sein? Der Erwin konnte ja nicht mal allein vom Bett aufstehen. Wie um alles in der Welt hätte er da einen Funken fabrizieren können?« Sepp redete sich direkt in Rage.
Nun schaltete sich auch Indira ein. Indira war das Nesthäkchen der Familie und stand kurz vor ihrem Fachabitur. Sie war ein blitzgescheites, sehr belesenes Mädchen. Ihren gewünschten Weg zu einer künftigen Akademikerlaufbahn hatte sie sich innerfamiliär schwer erkämpfen müssen, denn Hansi konnte sich anfangs damit so gar nicht anfreunden. Manchmal war sie Hansi direkt ein wenig unheimlich. Er war ein Handwerker durch und durch, bodenständig, praktisch und patent. Außerdem konnte er sich nicht erinnern, dass jemals ein Scharnagl studiert hätte. Wenn Indira wieder einmal mit Fremdwörtern nur so um sich warf, wurde ihrem Vater ab und zu direkt schwindlig. In seltenen Fällen fühlte er dabei sogar eine leichte Aggression in sich aufsteigen, vor allem, wenn Indira so schnell redete, dass Hansi gar nicht mehr wusste, was eigentlich das Thema gewesen war, und das konnte Johann Scharnagl absolut nicht ausstehen. Aber Indira wusste einfach sehr viel und wenn sie etwas nicht wusste, dann recherchierte sie so lange, bis sie auch über das Gesuchte fundierte Kenntnisse besaß.
»Also, jetzt wartet‘s einmal. Wie lang ist dem Erwin sein Oberschenkelhalsbruch schon her?«, wollte die Siebzehnjährige wissen.
»Na, am Tag vor Allerheiligen war‘s, also genau zehn Tage«, erinnerte sich Sepp an Erwins Unfall auf dem Friedhof.
»Aha. Soviel ich weiß, kann oder sollte man sogar das Bein ein paar Tage nach der OP wieder leicht belasten. Das wird von den Ärzten inzwischen dringend empfohlen. Diese absolute Ruhigstellung, wie man das früher gemacht hat, ist für den Heilungsprozess eher kontraproduktiv. Ich glaub schon, dass der Erwin schon ein wenig laufen konnte, zumindest mit Krücken, denn auch bei uns im Kreiskrankenhaus wird das so praktiziert, soviel ich weiß. Und im Altenheim, wo ich ja immer freiwillig Dienst schieb, da hatte die Kohlberger Rosl letztes Jahr auch schon Krücken aus dem Krankenhaus mitbekommen. Der Erwin wird es dir halt nur nicht gesagt haben, damit er bei dir die Mitleidsmasche abziehen konnte, Sepp.« Indiras direkte Art war immer wieder verblüffend.
Aber Sepp musste ihr tatsächlich zustimmen, das traute er Erwin auf jeden Fall zu.
»Ab und zu hat sich der Weiderer recht teure Zigarren bei uns im KaufGut Supermarkt gekauft. Das weiß ich genau, weil er den Marktleiter immer so genervt hat mit dieser einen bestimmten Sorte, die er bestellen sollte«, hatte Bettina gerade einen Geistesblitz. »Wer weiß, vielleicht hat er sich gedacht, er hätte sich eine gute Zigarre verdient nach all der Aufregung um seinen Oberschenkelhals. Und das kann er ja schlecht machen, wenn du dabei bist und er vor dir den armen Kranken gespielt hat. Also hat er vielleicht gewartet, bis du aus dem Haus warst.« Die Supermarktkassiererin freute sich, weil sie auch mit einer Beobachtung zur Analyse des Falles beitragen konnte.
»Jetzt mach dir nicht so viele Sorgen, Sepp, die Kripo lässt ja sowieso ein Brandgutachten machen. Da werden sie das dann schon genau herausfinden, wie alles passiert ist. Sei lieber froh, dass dir nix passiert ist, da hast echt verdammtes Glück gehabt! Ich mag gar nicht dran denken, wenn …«, war Hansi sofort wieder sehr ergriffen und den Tränen nahe.
Die Tatsache, dass ein Gutachter den ganzen Hergang aufklären würde, beruhigte Sepp tatsächlich ein wenig und so schob er Erwin und seinen tragischen Tod in seinen Gedanken vorerst einmal beiseite.
»Hast deinen Hirter-Spruch fürs Wolfauslassen eigentlich schon auswendig gelernt?«, fragte Hansi junior in Sepps Richtung und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
»Ja freilich, Hansi, und meine Goaßl ist auch schon bereit«, kam eine ebenso erfreute Antwort vom Müller Sepp zurück.
Seit Tagen schon stimmte sich Hansi junior mit dem passenden Soundtrack zum kommenden Event ein. AC/DCs »Hells Bells« lief von morgens bis abends. Ob im Auto, auf dem Handy oder auf der Elektriker-Baustelle. Was dem großen Hansi seine Helene Fischer, war dem kleinen Hansi sein Heavy Metal und um diese Zeit besonders dieses »Dong … Dong … Dong …« – diesen Glockenschlag zu Beginn des Lieds kennt wohl jeder. Wenn man es so recht überlegte, passte das Lied sehr gut zum bevorstehenden Ereignis. Morgen war es endlich so weit. Es wurde ohrenbetäubend! Es wurde laut! Es wurde animalisch! Das zweitägige Brauchtumsspektakel stand vor der Tür: das Wolfauslassen!
Die Aufregung der Unterfilzbacher Männerwelt stieg von Tag zu Tag. Etwas Magisches passierte da jedes Jahr um diese Zeit mit den Herren aus der Gegend, man konnte das Testosteron im ganzen Ort förmlich riechen. Ab dem Grundschulalter bis zu den Rentnern – sofern man dann noch eine Wolfauslasser-Glocke tragen konnte – waren sie alle dabei. Dieser Brauch schien eine exklusive Sache der Waidler im mittleren Bayerischen Wald und vor allem der Unterfilzbacher zu sein. Eventuell konnte dieses Hochgefühl, das die Männerwelt dabei erfüllte, aber auch mit der großzügig konsumierten Menge an Alkohol zu tun haben.
Das Wolfauslassen musste man sich als Nichteinheimischer in etwa so vorstellen: Junge Burschen und Männer zogen in Gruppen, die man »Wolf« nannte, mit umgehängten Glocken durch die Straßen und machten einen Höllenlärm. Dazu gesellten sich noch jeweils Männer, die die Peitsche – hier auch »Goaßl« genannt – zum Knallen brachten. Das war eine Kunst für sich und so manch einer trug schon heftige Verletzungen davon, weil es mordstrumm große Peitschen sind.
Es musste wohl schon ein paar Hundert Jahre her sein, als damals höchstwahrscheinlich der Grundstein für dieses ganze Tamtam gelegt worden war. Vermutlich durch einen recht zornigen Kuhhirten, der sich mit seinem Bauern in die Haare bekommen haben musste. Den Erzählungen nach kamen die Hirten zu dieser Jahreszeit zurück