Minarett. Leila Aboulela

Minarett - Leila  Aboulela


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href="#u26159ce1-0a4d-5e68-b0a2-5b82c3fa7b8e">Fünfunddreissig

       Sechsunddreissig

       Anmerkungen der Übersetzerin

      Minarett

       Bismillâh al-rachmân al-rahîm 1

      Ich bin gesunken, tief gesunken. Ich bin abgerutscht an einen Ort, wo die Decke niedrig ist und man sich kaum bewegen kann. Meistens finde ich mich damit ab. Meistens begehre ich nicht auf. Ich nehme mein Urteil an und grüble nicht und schaue nicht hinter mich. Aber manchmal bringt eine Veränderung die Erinnerung zurück. Der gewohnte Trott wird gestört, und ein Neuanfang lässt mich jäh erkennen, wozu ich geworden bin, wie ich da auf einer Strasse voller Herbstlaub stehe. Die Bäume im Park gegenüber sind wie poliertes Silber und Messing. Ich blicke auf und sehe das Minarett der Moschee von Regent’s Park über den Bäumen. Ich habe es noch nie so früh am Morgen gesehen, in diesem verletzlichen Licht. London ist am schönsten im Herbst. Im Sommer ist die Stadt aufgedunsen und schäbig, im Winter wird sie von der Weihnachtsbeleuchtung geflutet, und der Frühling, die Zeit der Geburt, ist immer enttäuschend. Jetzt ist ihr bester Moment, jetzt ist sie mit sich im Reinen, wie eine reife Frau, deren Schönheit nicht mehr taufrisch ist und doch seltsam betörend.

      Mein Atem dampft. Ich bleibe stehen, um auf einen Klingelknopf zu drücken, die Adresse steht in meinem Notizbuch. Um acht, hat sie gesagt. Ich huste und befürchte, auch in Gegenwart meiner neuen Arbeitgeberin husten zu müssen, so dass sie sich sorgt, ich könnte ihr Kind anstecken. Aber vielleicht neigt sie nicht zu Ängstlichkeit. Ich kenne sie ja noch nicht. Ich habe sie erst einmal gesehen, letzte Woche, als sie auf der Suche nach einer Hausangestellten in die Moschee kam. Sie wirkte elegant und in Eile. Ihr Seidentuch war nachlässig um Kopf und Nacken geschlungen, und als es verrutschte und ihr Haar entblösste, nahm sie sich nicht die Mühe, es wieder zurechtzuzupfen. So sind manche Araberinnen – eine reiche Studentin, Ende zwanzig, die das Leben im Westen auskostet … Aber ich kannte sie trotzdem noch nicht. Sie war nicht sie selbst, als sie mich ansprach. Die wenigsten Leute sind in einer Moschee ganz bei sich. Sie sind kleinlaut, und ein fragiler, vernachlässigter Teil ihrer selbst beherrscht sie.

      Hoffentlich hat sie mich nicht vergessen. Hoffentlich hat sie sich nicht umentschieden und ihr kleines Mädchen in eine Kinderkrippe gegeben oder jemand anders genommen. Und hoffentlich bleibt ihre Mutter, die das Baby bis jetzt gehütet hat, nicht noch länger in Grossbritannien, und es braucht mich gar nicht mehr. Auf der St John’s Wood High Street ist viel los. Männer im Anzug und junge Frauen in topmodischen Kleidern steigen in neue Autos und brausen zu ihren tollen Arbeitsplätzen davon. Das ist eine piekfeine Gegend. Pastellrosa und viel Platz, wie es Leuten mit Geld vergönnt ist. Die Vergangenheit nagt, doch es sind nicht Besitztümer, die ich vermisse. Ich will keinen neuen Mantel, sondern möchte bloss meinen alten öfter reinigen lassen können. Ich wünschte nur, man hätte mir nicht so viele Türen vor der Nase zugeschlagen: die Türen von Taxis und Schulen, von Kosmetiksalons und Reisebüros, mit denen ich auf den Haddsch2 gehen könnte …

      Als jemand sich an der Türsprechanlage meldet, sage ich mit hoffnungsvoll angespannter Stimme: »Salam alaikum, ich bin’s, Nadschwa …« Sie erwartet mich, alhamdulillâh.3 Ich werde vom Geräusch des Summers fast euphorisch. Ich stosse die Tür auf, und Holzwände umgeben mich: wohlkonservierte und gepflegte Vergangenheit. Das ist ein wunderbares Haus, würdevoll und behäbig. Altes, umsichtiges Geld, von Generation um Generation mit Liebe und Sorgfalt gehätschelt. Nicht wie das Geld meines Vaters, das ein Regime eingetrieben und Omar verschwendet hatte. Und auch ich war leichtsinnig mit meinem Anteil gewesen und hatte nichts Nützliches damit angefangen. In der Eingangshalle hängt ein Spiegel. Er zeigt eine Frau mit weissem Kopftuch im unförmigen beigen Mantel. Die Augen sind zu hell und die Wimpern zu lang, aber trotzdem sehe ich unscheinbar und verlässlich aus und bin im richtigen Alter. Ein junges Kindermädchen könnte nachlässig sein und ein älteres sich über Rückenschmerzen beklagen. Ich bin im richtigen Alter.

      Der Aufzug ist altertümlich, so dass ich an der Tür rütteln muss. Der Lärm dröhnt durch die elegante Stille des Hauses. Ich will den Knopf ins zweite Stockwerk drücken, aber auf dem ersten Knopf steht eins bis drei, auf dem zweiten drei bis vier und auf dem dritten vier bis sechs. Ich versuche mir einen Reim darauf zu machen, bin aber noch immer verwirrt. Ich beschliesse, lieber die Treppe zu nehmen. Über mir fällt eine Tür ins Schloss, und eilige Schritte kommen die Stufen herunter. Ein hochaufgeschossener junger Mann mit spriessendem Bart und Lockenschopf taucht vor mir auf. Ich halte ihn auf und frage ihn wegen des Aufzugs.

      »Das sind die Nummern der Wohnungen und nicht der Stockwerke.« Er spricht Englisch, als wäre es seine Muttersprache, aber sein Akzent ist nicht von hier. In London errät man die Herkunft der Leute nur mit Mühe. Wäre er Sudanese, so würde er als hellhäutig gelten, aber ich kann ja nicht wissen, ob er einer ist.

      »Ach so, danke.« Ich lächle, doch er erwidert das Lächeln nicht.

      Stattdessen wiederholt er: »Sie müssen einfach auf die Nummer der Wohnung drücken, zu der Sie wollen.« Seine Augen sind wässrig braun, und es glänzt kein Scharfsinn darin, ganz im Unterschied zu Anwar, sondern Intuition. Ja, vielleicht ist er empfindsam, aber nicht besonders klug, nicht so schlagfertig und blitzgescheit wie die meisten jungen Leute.

      Ich danke ihm noch einmal, und er neigt ein wenig den Kopf und zuckt mit den Schultern, um den Riemen seiner Tasche zurechtzurücken. Die Jugend gibt uns einen Vorgeschmack auf das Paradies, heisst es. Als er sich entfernt und das Gebäude verlässt, wird alles wieder wie sonst.

      Ich fahre hoch, öffne die Lifttür, betrete einen eleganten, gesaugten Teppich und mache hoffnungsvolle Schritte auf die Wohnung zu. Ich werde mit dem kleinen Mädchen auf den Platz gegenüber gehen. Ich werde mit ihr zur Moschee gehen und es so einrichten, dass ich mit den anderen beten und danach die Enten in Regent’s Park füttern kann. Sehr wahrscheinlich hat die Wohnung Satellitenfernsehen, und ich kann einen ägyptischen Film bei ART und die Nachrichten auf al-Dschasîra sehen. Letzte Woche hörte ich einen Vortrag, und diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und haben mich am meisten berührt: Die Gnade Allahs ist weit wie das Meer. Unsere Sünden sind ein Lehmklumpen im Schnabel einer Taube. Die Taube sitzt auf einem Zweig am Rand dieses Meers. Sie muss bloss ihren Schnabel öffnen.

Erster Teil

      Eins

      »Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über seinem Gesicht, der seine Augen verdeckte.

      »Hmm.«

      »Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er die beste Klimaanlage im Haus hatte.

      »Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase.

      »Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.«

      »Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rühren.«

      »Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum anderen Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaanlage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen.

      »Warum tust du mir das an?«

      Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den Federn jagen.«

      Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend.

      »Wo ist dein Bruder?«, brummte er.

      »Kommt wohl gleich runter«, sagte ich.

      »Und wo ist deine Mutter?«

      »Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es verblüffte


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