Minarett. Leila Aboulela

Minarett - Leila  Aboulela


Скачать книгу
fürchterlich. Es war nicht schmeichelhaft, von seinesgleichen bewundert zu werden. Ich fühlte den wohlbekannten Ärger in mir aufsteigen. Aber es machte Spass, sich über ihn zu ärgern. Ich warf ihm finstere Blicke zu, obwohl ich wusste, dass ihn jede Reaktion nur noch ermutigen würde. Er grinste hoffnungsvoll und pedalte davon. Ich wusste tatsächlich rein gar nichts von ihm.

      »Komm mit, Nadschwa«, sagte Mama. Sie trug ihren uniblauen Tob und schwarze Sandalen mit hohen Absätzen. Sie trommelten gegen den Marmor der Vorderterrasse. Mama hielt eine Plastiktüte voller Lutscher und Süssigkeiten in der Hand.

      Mûssa, der Fahrer, brachte den Wagen, und das Knirschen von Kies rührte die Nachmittagsstille auf. Er öffnete den Schlag für sie und holte im Haus noch mehr randvolle Plastiktüten mit alten Kleidern und zwei Dosen selbstgemachte Kekse. Ich erkannte Omars altes Coca-Cola-T-Shirt und ein rosa Kleid, das ich nicht mehr trug, weil es aus der Mode war.

      »Wo gehst du hin?« Ich konnte ja Mamas bedeckter Kleidung entnehmen, dass es kein angenehmer Ort war.

      »Cheshire Home«, sagte sie und nahm auf dem Rücksitz Platz. Sie sagte »Cheshire Home« so munter, als wäre ein Besuch dort ein Vergnügen. Dazu war bloss Mama imstande.

      Ich zögerte ein wenig. Die dünnen, verrenkten Glieder der Kinder verstörten mich, und ich ging lieber zur Gehörlosenschule mit. Dort konnten die Kinder zwar nicht richtig sprechen, aber sie rannten sorglos herum und nahmen mit wachen, verständigen Augen auf, was sie nicht hören konnten.

      Trotzdem setzte ich mich neben sie in den Wagen, und als Mûssa den Motor anliess, öffnete sie ihre Tüte und gab mir einen Minzkaugummi.

      »Du hättest mal das Waisenhaus sehen sollen, zu dem deine Tante mich gestern geschleppt hat!«, sagte sie. »Im Vergleich dazu ist Cheshire das Paradies. Unglaublich, wie dreckig es dort war.«

      Ich rümpfte angewidert die Nase und war erleichtert, dass sie am Morgen gegangen waren, als ich an der Uni war. So hatten sie mich nicht mitschleppen können.

      »Und sie haben rein gar nichts«, fuhr sie fort. »Aber kann das eine Entschuldigung dafür sein, die Kinder nicht zu waschen?«

      Sie erwartete keine Antwort von mir. Mûssa lächelte und nickte auf seinem Fahrersitz, als spräche sie mit ihm. So war sie eben. So redete sie. Manchmal war sie lebhaft, und manchmal war sie bedrückt und still. Und seltsamerweise war sie auf Partys und Hochzeiten oft kühl und nachdenklich, während sie in kritischen Momenten zu ihrer Hochform auflief. Wenn ich hörte, wie sie über das Waisenhaus sprach, wusste ich, dass sie keine Ruhe geben würde. Sie würde an allen Fäden ziehen und meinem Vater und Seiner Exzellenz in den Ohren liegen, bis sie bekam, was sie wollte.

      Cheshire Home war schattig und kühl und lag in einem freundlichen Teil der Stadt mit Bungalows und alten grünen Gärten. Ich beneidete meine Mutter um die Natürlichkeit, mit der sie mit ihren Tüten voll Süssigkeiten und Keksen ins Haus segelte, während ihr Mûssa alles Übrige nachtrug. Die Kinderschwester, Salma, hiess sie wie eine alte Freundin willkommen. Salma war sehr grossgewachsen und dunkel, mit hohen Wangenknochen und strahlend weissen Zähnen. Ihre langweilige weisse Uniform konnte ihrer eleganten Erscheinung nichts anhaben: Sie wirkte würdevoll, mit weissen Strähnen im Haar. »Gratuliere«, sagte sie zu mir, »du hast es an die Universität geschafft.« Sie hatte mich schon lange nicht mehr gesehen.

      »Du hältst dieses Heim gut in Schuss«, begann Mama Salma zu loben.

      »Ach, früher war Cheshire noch besser.«

      »Ich weiss, aber es ist immer noch gut. Da war ich doch gestern in dem Waisenhaus da, und es starrte vor Dreck, unglaublich.«

      »Wo war das denn?«

      Der Saal war gross, mit einer Tafel auf einer Seite und ein paar Kindertischen und -hockern. Eine Reihe von Betten stand an der Wand, und dazwischen lagen da und dort ein paar Bälle und Spielsachen. Sie kamen mir bekannt vor – vielleicht hatte Mama sie bei einem früheren Besuch mitgebracht. Ein paar Plakate an der Wand erklärten, wie wichtig das Impfen sei, und daneben hing ein schreckliches Bild von einem Baby mit Pocken. Salma brachte Stühle für Mama und mich, während sie selbst auf einem Kinderhocker Platz nahm. Die Kinder kämpften sich in ihren Laufstühlen zu uns, und manche robbten über den Boden. Ein Junge aus dem Süden war sehr schnell, weil er seine Arme und ein Bein ungehindert gebrauchen konnte.

      »Jetzt einer nach dem andern, und ich gebe euch die Lutscher«, sagte Mama. Ein Ansatz zu einer Schlange bildete sich, verlor sich jedoch im Gewimmel der ausgestreckten Hände. Mama gab jedem Kind einen Lutscher.

      »John«, rief Salma dem Jungen aus dem Süden zu, »hör mit diesem Herumkaspern auf, und hol dir deinen Lutscher!«

      Er hievte sich mit einem lässigen Grinsen in unsere Richtung, und seine Augen leuchteten.

      »Welche Farbe möchtest du?«, fragte ihn Mama.

      »Rot.« Seine Augen schossen hierhin und dorthin, als ob er alles kritisch prüfen oder an etwas anderes denken würde.

      »Hier. Da hast du einen roten«, sagte Mama. »Das ist der letzte rote, alle übrigen sind gelb.«

      Er nahm den Lutscher und begann ihn auszuwickeln. »Ist das dein Auto da draussen?«, fragte er.

      »Ja«, antwortete Mama.

      »Was geht dich das an?«, schimpfte Salma mit ihm.

      Er ignorierte sie und wandte kein Auge von Mama. »Was für ein Auto ist es?«

      »Ein Mercedes«, sagte Mama lächelnd.

      Er nickte und lutschte an seinem Stängel. »Ich fahr mal einen grossen Laster.«

      »Dummer Junge«, lachte Salma, »wie willst du denn mal fahren?«

      »Schaff ich schon«, sagte er.

      »Mit bloss einem Bein?« Salma zog spöttisch amüsiert die Brauen hoch.

      Da veränderte sich etwas an ihm: sein Blick. »Du brauchst zwei Beine, um ein Auto zu fahren«, fügte Salma hinzu. Er machte kehrt und schleppte sich davon.

      »In Europa gibt es Spezialanfertigungen«, sagte ich, »für Leute ohne … für Behinderte.« Zum ersten Mal seit unserer Ankunft hatte ich den Mund aufgemacht; meine Stimme klang dämlich, und alle ignorierten mich.

      Auf einmal stiess John einen Tisch um und schleifte einen Hocker durch den Saal, mit dem er nach allen Seiten schlug.

      »Hör auf, John, benimm dich!«, brüllte Salma.

      Er achtete nicht auf sie und stiess den Hocker durch den Saal. Wäre der nicht mit einem anderen Hocker zusammengestossen, so hätte er Salma voll getroffen.

      »Wart nur, ich rufe die Polizei.« Salma stand auf. »Sie sollen kommen und dir eine Abreibung verpassen.«

      Er muss ihr geglaubt haben, denn er hielt inne und wurde ganz still. Er lehnte sich an die Wand. Sein Bein stand in einem bizarren Winkel ab, und er neigte den Kopf gegen die Wand, den Lutscher im Mund. Auf einmal still.

      In der Stille hörten wir das Weinen. Sie war vielleicht elf oder zwölf, ein ganz dünnes Mädchen mit Gehschienen an beiden Beinen und einem rosa Kleid, das zu klein für sie war. Wie sollte sie mal heiraten, wie sollte sie arbeiten können …? Das dürfe ich nicht fragen, sagte Mama immer, es habe keinen Zweck, das zu denken, wir dürften einfach nicht aufhören mit den Besuchen.

      »Warum weint sie?«, fragte Mama Salma.

      »Ich weiss nicht.«

      »Komm und nimm dir einen Lutscher«, rief Mama dem Mädchen zu, aber es hörte nicht auf zu weinen.

      »Los jetzt, komm dir deinen Lutscher holen!«, schrie Salma das Mädchen an.

      »Lass sie, Salma. Sie braucht Zeit.« Als das Mädchen sich nicht rührte, ging Mama zu ihr hinüber, gab ihr Schleckzeug und streichelte ihr zerzaustes Haar. Es nützte nichts. Sie sass mit den Süssigkeiten im Schoss wimmernd da, bis unser Besuch vorüber war. Erst als wir aufstanden, um zu gehen, sah ich, dass sie sich beruhigte und den Lutscher auswickelte.


Скачать книгу