Minarett. Leila Aboulela
dann verstummte er. Sein Schweigen enttäuschte mich, und ich überlegte mir, wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen könnte. Schnell stoppelte ich mir im Kopf ein paar Sätze zusammen: Du hast doch einen Bruder, der in Moskau studiert. Mir ist die Klimaanlage im Auto ausgestiegen. Weisst du, Doktor Baschîr wollte mich nicht mehr reinlassen. Aber ich verwarf alle als einfältig und fehl am Platz.
Das Schweigen begann zu dröhnen, bis mein Herzklopfen das Vogelgezwitscher übertönte. Ich stand auf und verliess die Cafeteria, ohne ihn anzuschauen oder mich zu verabschieden. Es war fast zehn und Zeit für die Makroökonomie.
Der Dozent liess die Präsenzliste zirkulieren. Ich trug mich ein, nahm einen anderen Stift und schrieb in steileren Buchstaben Omars Namen auf das Blatt.
Als die Makro-Vorlesung um war, wartete Omar vor dem Saal auf mich.
»Gib mir den Autoschlüssel.«
»Hier. Und vergiss nicht, dass wir um zwölf Geschichte haben. Bitte lass dich da blicken.«
Er runzelte bloss die Stirn und eilte davon. Ich machte mir Sorgen um ihn. Sie liessen mich nicht los. Schon als ich klein war, hatte meine Mutter zu mir gesagt: »Pass gut auf Omar auf, du bist das Mädchen, du bist die Ruhige und Vernünftige. Pass auf Omar auf.« Und Jahr um Jahr nahm ich meinen Bruder in Schutz. Ich spürte seine Schwachheit und kümmerte mich um ihn.
Zwei
Ich nahm Brieftasche, Notizbuch und Federmäppchen aus meiner Strohtasche und liess sie auf der Ablage neben der Bibliothekstür. Zwei Mädchen aus meinem Kurs kamen gerade heraus, und wir lächelten einander zu. Ich wusste ihre Namen nicht mit Bestimmtheit. Sie trugen beide einen weissen Tob,5 und eine war besonders hübsch, mit ihren tiefen Grübchen und funkelnden Augen. Sie kamen aus der Provinz, und ich war ein Mädchen aus der Hauptstadt, darum waren wir keine Freundinnen. Ihretwegen machte mich meine Kleidung zum ersten Mal im Leben verlegen: meine zu kurzen Röcke und zu engen Blusen. Viele kleideten sich wie ich, ich fiel nicht auf. Trotzdem fühlte ich mich unwohl in Gesellschaft dieser Mädchen aus der Provinz. Ich nahm ihre bescheidene Anmut wahr, den Tob, der ihre schlanken Körper bedeckte – reine weisse Baumwolle über den Armen und auf ihrem Haar.
Im Erdgeschoss der Bibliothek schnauften die Klimaanlagen, und die Fächer an der Decke surrten. Ich legte meine Sachen auf den Tisch und musterte die Regale. Etwas Russisches, um ihm näherzukommen und ihm etwas zu sagen zu haben. Marxistische Theorie, Dialektik. Nein, davon würde ich gar nichts verstehen. Schliesslich griff ich nach einem dicken Wälzer im Regal und nahm Platz, um in einer Sammlung übersetzter Gedichte zu lesen.
Ich verstand die Zeile »Ich überlebte all mein Sehnen«6. Aber ich wusste nicht, woher dieses Verständnis kam. Ich führte ein glückliches Leben. Meine Eltern liebten mich und waren stets grosszügig. Im Sommer machten wir in Alexandria, Genf und London Urlaub. Es gab nichts, was ich nicht hatte, nicht haben konnte. Keine Träume verrosteten, und keine Wünsche wurden begraben. Und trotzdem lauerte in mir manchmal Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum.
»Ich mag russische Schriftsteller«, gestand ich Anwar beim nächsten Mal, denn es gab ein nächstes Mal, eine zweite Chance, die nicht so zufällig wie die erste war. Wir gingen zusammen an der Post und an der Universitätsbuchhandlung vorüber.
»Wen denn?«
»Puschkin«, sagte ich, aber meine Antwort beeindruckte ihn nicht.
»So«, sagte er, »hilfst du mir ein paar Flugblätter verteilen?«
»Ich kann nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, ich würde mich nicht in Studentenpolitik einmischen.«
Er zuckte die Achseln und hob die Brauen, wie um zu bemerken: Wer sagt’s denn?
»Was sind denn deine eigenen politischen Ansichten?«, fragte er.
»Ich weiss nicht. Ich hab keine.«
»Was soll das heissen, du weisst es nicht?«
»Jeder scheint jedem die Schuld zu geben.«
»Gut, aber jemand muss die Schuld auf sich nehmen für das, was geschieht.«
»Und warum?«
»Damit diese Leute den Preis zahlen können.«
Diese Bemerkung gefiel mir nicht: den Preis bezahlen.
»Dein Vater steht dem Präsidenten nahe?«
»Ja, sie sind befreundet.«
»Bist du ihm schon mal begegnet?«
»Natürlich. Und er ruft meinen Vater zu Hause an, und ich gehe ans Telefon.«
»Einfach so«, sagte er lächelnd.
»Ja, ganz normal. Einmal vor Jahren, als ich noch in der Grundschule war, rief er an, und ich antwortete auf sehr englische Weise mit hello.« Ich hielt einen eingebildeten Hörer ans Ohr, äffte mich selber nach und sagte: »Hello, 44959.« Es gefiel mir, wie Anwar mich beobachtete, mit amüsierten Blicken. »Daraufhin«, fuhr ich fort, »wurde der Präsident wütend und sagte: ›Sprich anständig, Kind! Sprich arabisch mit mir.‹«
Anwar brach in Gelächter aus. Es freute mich, dass ich ihn zum Lachen gebracht hatte.
»Ich unterhalte mich gern mit dir«, sagte er langsam.
»Warum?« Ja, so bekam man Komplimente zu hören. Fragt doch, warum.
Wenn ich Jahre später zurückschaute und mich an Zeichen verborgener Anspannung hinter der Fassade der Heiterkeit zu erinnern versuchte, denke ich an das ständige Ringen, das ich einfach hinnahm. Der Geruch nach Staub und Kloaken rang mit dem Duft des Jasmins und der Guaven, und keiner war stärker. Der Blaue Nil strömte aus dem Äthiopischen Hochland, und die Sahara drang vor, doch weder der eine noch die andre gewann. Omar wollte weggehen. Die ganze Zeit wollte Omar weggehen, und ich, sein Zwilling, wollte bleiben.
»Warum durfte Samîr und ich nicht?«, fragte er Baba beim Mittagessen. Wir assen aus Porzellantellern mit Silberbesteck. Wir wischten uns den Mund mit Servietten ab, die täglich gewaschen und gebügelt wurden.
»Weil Samîrs Noten nicht gut genug waren«, sagte Mama. Sie war frisch vom Friseur zurück, und das Haar floss in Wellen über ihre Schultern. Sie roch nach Haarspray und Zigaretten. Ich wünschte, ich wäre so bezaubernd wie sie, offen und grosszügig und mit der Gabe, stets das Richtige zu sagen und im richtigen Moment zu lachen. Eines Tages würde ich es schaffen.
»Aber ist es denn fair«, kam ich Omar zu Hilfe, »dass der mit den schlechten Noten ins Ausland darf und der mit den guten Noten hierbleiben muss?« Samîr war unser Cousin, der Sohn von Onkel Sâlich, Mamas Bruder. Samîr war jetzt am Atlantic College in Wales, wo er das internationale Abitur machte.
»Kommst du auch noch?« Baba funkelte mich an.
»Nein, ich will nirgendwohin gehen. Ich will hier bei euch bleiben.« Ich lächelte Mama an, und sie erwiderte das Lächeln. Wir standen einander zu nahe, als dass ich sie hätte verlassen mögen, um im Ausland zu studieren.
»Nadschwa ist sehr patriotisch«, sagte Omar sarkastisch.
»Das solltest du auch sein«, tadelte Baba.
»Esst jetzt, und streitet später«, sagte Mama, aber sie achteten nicht auf sie.
»Ich will nach London gehen. Ich hasse es, hier zu studieren.« Es war Omar ernst. Ich hörte es seiner Stimme an, dass es ihm ernst war.
»Das tut dir gut«, sagte Baba. »Härtet dich ein wenig ab. Dieser ganze Privatunterricht hat dich verwöhnt. An der Universität siehst du, wie man auf der anderen Seite lebt. Du wirst verstehen, wie dein Land wirklich ist und in was für einem Umfeld du einmal arbeiten wirst. Als ich so alt war wie du …«
Omar stöhnte, und ich befürchtete schon eine Szene. Ich schluckte leer und hatte Angst, dass Baba herumschreien und Omar davonlaufen würde. Dann konnte ich den ganzen restlichen Tag herumtelefonieren