Ab 40 wird's einfach nicht schwer. Sylvia Kling

Ab 40 wird's einfach nicht schwer - Sylvia Kling


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die Stille, die sie umgab, war stiller als sonst. Irgendetwas war anders, wirkte starr. Sie war stehen geblieben, hatte das Tablett mit dem Kaffee und den Brötchen leise auf Harrys Nachttisch abgesetzt, um ihn nicht zu stören. Sie starrte ihn an, auf das schlafende, unheimlich bleiche Gesicht. Ich gehe jetzt zu Harry, gebe ihm einen Kuss auf den Mund. Wie immer, hatte sie gedacht, dieses aufsteigende Gefühl von Entsetzen missachtend. Sie war zu seinem Bett geschlichen. Wie eine Wachspuppe hatte er dagelegen, reglos. Sie hatte sich wie in Trance gebückt, küsste ihn mit geöffneten Augen auf die Wange – und schrie. Immer wieder schrie sie seinen Namen. Sie hatte es bereits begriffen, als sie das Zimmer betrat. Das Haus hatte nach Tod gerochen. Sie war Witwe geworden. Einfach so.

      Lange Zeit schlief sie in seinen T-Shirts und trug sogar seine Socken. Sie musste weiter Kaffee kochen, jeden Tag. Sie musste weitermachen, denn ihr Sohn Julian war gerade erst zehn Jahre jung. Jeden Tag besuchte sie mit ihm Harrys Grab, tröstete den Sohn, sprach mit ihm. Sie weinte mit ihm, sie fing seinen Schmerz auf. Vier Wochen konnte Julian nicht zur Schule gehen, weil es ihm sehr schlecht ging. Vier lange Wochen erlebte sie den Schmerz doppelt, als ob sich ihrer noch mehr füllen, mit Steinen beschwert werden würde. Ihrer beider Schmerz wurde zu einer Insel, auf die sie nach diesen vier Wochen immer wieder zurückkehrten. Selbst nach sechs Monaten hatten sie Angst, er würde gehen. Mit dem Schmerz würde auch Harry für immer verschwinden, so dachten sie.

      Für Julian gab sie alles. Jetzt sah sie Harry und Martina oft in ihrem Spiegel. Wenn es ihr besonders gut oder schlecht ging, stellte sie sich so lange im Bad vor den Spiegel, bis sie die beiden sah. Manchmal sprach nur sie mit ihnen, manchmal antworteten Harry und Martina. Manchmal nur einer der beiden. Der andere lächelte liebevoll. Das erzählte sie niemandem, denn es würde ihr niemand glauben.

      Als ihr Sohn Julian eines Tages auszog, um das Leben zu lernen, verlor sie sich beinahe selbst. Erst mithilfe ihrer Freundinnen zog sie sich wieder aus dem Sumpf und lernte, von nun an endlich wieder Frau, nicht nur Mutter zu sein – besser gesagt: Glucke, denn zu nichts anderem war sie damals mutiert. Sie war Mutter und hatte den Vater ersetzt. Zumindest war das ihr Ziel gewesen. Ein Doppelleben. Ihre Zeit als Frau und eigenständiger Mensch begann. Genau jetzt.

      Tränen auf Eis

      »Eine Frau, die viel liest, malt, Gitarre spielt

      und gern lacht – die sollte nicht alleine sein.«

      Hans, der Träumer

      Sie spielte inzwischen wieder Gitarre und begann zu malen. Ihr war es gleich, ob ihre Bilder jemandem gefallen würden. Es steckten ihre Gefühle in ihnen, es waren ihre Farben; sie waren ein Teil ihrer Selbst. Wieder war ein neues Bild entstanden: »Tränen auf Eis«.

      Warum auch immer, es war ihr danach, nach Tränen und nach Eis. Müde streckte sie ihre Glieder und ging zur Küche, um eine Flasche Rotwein zu öffnen. Es war Sommer und alles blühte. Als Silke auf die Terrasse trat, trällerte ihre nette Nachbarin Frau Schröder irgendeinen alten Schlager vor sich hin.

      »Hallo, Frau Schröder, Sie sind aber gut gelaunt«, rief Silke hinüber. Die alte Dame trat an die Hecke und strahlte Silke an.

      »Natürlich, ich habe allen Grund dazu. Wir sind gesund, die Sonne scheint und mein Mann hat mir heute zum Hochzeitstag einen großen Wunsch erfüllt.«

      Silke lächelte und ertappte sich wieder bei diesem grässlichen Gefühl des Neids. Schnell wischte sie es weg, als ob sie auf ihrer Leinwand einen Farbklecks beseitigte, der hässliche Flecken hinterließ.

      »Na, wenn das nicht genug Gründe sind, um zu singen«, stimmte Silke zu und nippte an ihrem Glas.

      »Was trinken Sie denn da?«, fragte Frau Schröder.

      »Einen Bordeaux natürlich.« Silke grinste breit.

      »Das ist mein Lieblingswein! Ach, tun Sie mir doch den Gefallen, liebe Nachbarin, und besuchen Sie uns mal! Vielleicht gleich heute?«

      Silke zögerte. Frau Schröder fügte rasch noch hinzu:

      »Natürlich nur auf ein Gläschen Wein. Mein Mann würde sich auch freuen, ist er doch ein Verehrer von Ihnen.« Sie zwinkerte verschmitzt.

      Das Haus der Schröders war entzückend eingerichtet. So viele Jahre wohnten sie nun schon nebeneinander und sie war noch nie in deren Haus gewesen. Als hätte Herr Schröder Silkes Gedanken gehört, strich er sich eine weiße Strähne aus dem Gesicht und flüsterte ihr bei der Begrüßung zu:

      »Na, Silke, jetzt wird es aber mal Zeit, dass Sie uns in unseren heiligen Hallen beehren, oder?« Sie lachte. Herr Schröder war ein Gentleman, ganz alte Schule. Hatte er sich so schnell umgezogen, nachdem seine Frau ihm verkündete, dass die Nachbarin sie in wenigen Minuten besuchen würde, oder war er immer so gut gekleidet? Er trug eine moderne dunkelblaue Jeans, dazu ein weißes Shirt und darüber ein blau-weißes Holzfällerhemd. Andere in dem Alter trugen doch eher alte Jogginghosen zu Hause, oder irrte sie sich? Er rückte der »schönen Nachbarin«, wie er sie nannte, sogar den Stuhl zurecht, etwas, was Silke gar nicht mehr kannte. Der Feminismus, so erklärte sie sich, sei etwas Wunderbares, wenn man ihn nicht so maßlos übertreiben würde. Sie verstand diese »Überfrauen« nicht, die behaupteten, es sei diskriminierend, wenn ein Mann einer Frau in den Mantel helfe, »als ob wir das nicht alleine könnten«. Sie behaupteten doch nicht etwa, wir würden kleingehalten werden und als beschränkt dargestellt, nur weil ein Mann uns die Tür aufhalte. Was sollte dieser Quatsch? Frauen wollten Anerkennung und, verdammt noch mal, durchaus verwöhnt und hofiert werden. Was war daran falsch? In ihre Überlegungen hinein servierte Frau Schröder Salzgebäck in einer wunderschönen weißen Porzellanschale mit bemalten Rosen. Sie sah Silkes Blick.

      »Echtes Meißner, schauen Sie mal drunter. Aber erst, wenn die Schale leer ist, wenn ich bitten darf«, und sie lachte über ihren eigenen Scherz am lautesten. Als Silke einstimmte und das Lachen verstummte, fügte Frau Schröder hinzu:

      »Sie ist noch von meiner Mutter. Lange habe ich sie nicht benutzt, aus Angst, sie könnte kaputt gehen. Aber jetzt, wo ich alt bin, will ich sie sehen und mich dabei an meine Eltern erinnern.« Sie lächelte traurig in sich hinein.

      »Mein Elternhaus traf eine Bombe, als ich gerade bei meiner Tante war«, flüsterte sie. Silke berührte sanft ihren Unterarm.

      »Aber jetzt wollen wir nicht in Melancholie versinken, sonst vertreibe ich Sie gleich bei Ihrem ersten Besuch«, lachte Frau Schröder. Silke fühlte sich wohl in diesem Wohnzimmer und es roch unglaublich frisch. Wieso erwartete man bei alten Leuten eigentlich immer einen abgestandenen, unangenehmen Geruch? Angeblich hinge das ja mit dem Stoffwechsel zusammen, aber auch mit Medikamenten. Dazu kam noch, dass man alten Leuten nachsagte, sie lüfteten weniger, weil sie schneller froren. Das hatte Silke zumindest mal gelesen. Worüber sie sich aber auch immer Gedanken machte! Staunend sah sie sich um. Frau Schröder hatte Geschmack. Auf den zwei Anrichten standen nur wenige Schmuckstücke, dazwischen ein Strauß roter Rosen. Auch auf dem Echtholztisch vor der Couch thronte ein Strauß weißer Rosen. Die Couch schmückten nur zwei riesige, rot-weiße Kissen. Eigentlich war das kaum ein Wohnzimmer alter Leute, es hätte durchaus zu ihrem Alter gepasst. Einzig die vergilbten Fotos in braunen Rahmen deuteten darauf hin, dass hier Menschen wohnten, deren Verwandte noch den Krieg erlebt hatten.

      Sie unterhielten sich über viele Dinge, auch über Kunst und Kultur. Silke war erstaunt, wie gebildet die beiden waren. Als Herr Schröder von der Musik Chopins und Beethovens erzählte und Details beschrieb, klappte Silke die Kinnlade runter.

      »Ich habe sogar mal die Klaviersonate Nr. 1 gespielt. Es glaubt mir nur niemand«, meinte Herr Schröder. Sie kam aus dem Staunen kaum mehr heraus.

      »Er war mal Dozent an einer Hochschule für Musik«, erklärte Frau Schröder stolz. Silke lauschte Herrn Schröder gern, der oft überlegen musste, was er schon erzählt hatte und was noch nicht. Frau Schröder hing an seinen Lippen, obwohl sie das sicher schon sehr oft gehört hatte. Ein süßes Paar, dachte Silke, nicht ohne Wehmut. Nach über zwei Stunden verabschiedete sie sich erschöpft, aber glücklich. Die Schröders könnten im Laufe der Zeit zu lieben Vertrauten werden. Vielleicht sollte


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