Ab 40 wird's einfach nicht schwer. Sylvia Kling
sonst welchen alten, roten Socken und fuhr wieder Trabi, um sich den Geruch der alten Zeit einzuverleiben. Ewig zurückgeblieben.
Als Silke wieder in ihr Haus hinüberging und die gewohnte Stille sie empfing, kamen ihr Tränen. Verdammt! Diese Einsamkeit. Es ist nichts hier. Nur diese Lautlosigkeit, die mir einen erneuten Abend ohne freundliche und liebevolle Augen einbringt. Immer wieder, dachte sie und ließ sich auf ihre weiße Ledercouch fallen. Ihr Kater kroch von seiner Lieblingsdecke auf der anderen Seite der Couch zu ihr. Hier waren Augen, Katzenaugen! Immerhin. Sie griff nach ihrem Laptop. Ohne viel darüber nachzudenken, öffnete sie eine kostenlose Kontaktbörse und meldete sich an.
»Lass uns reden«, hieß die Plattform, deren Name nicht sehr einfallsreich war, aber besser als nichts. Schnell hatte sie ein Profil angelegt und ein Foto von sich eingestellt. Vorlieben, Lieblingsessen, Lieblingsbücher, Lieblingsfilme, Charaktereigenschaften … Warum musste man eine Single-Plattform aufsuchen, um so intensiv über sich nachzudenken? Über eine Stunde beschäftigte sie sich mit den Fragen für ihr Profil. Dann sah sie es: fünfundzwanzig Nachrichten innerhalb weniger Minuten. Alle von Männern: junge Männer im Alter von Julian, Männer in ihrem Alter, Männer um die sechzig und Männer im Greisenalter. Um Himmels willen! So viel wollte sie nun auch wieder nicht reden. Sind die alle so einsam wie ich?, dachte sie und öffnete die Nachrichten, eine nach der anderen. Nach der zehnten loggte sie sich aus. Ihr Herz raste. Das durfte doch nicht wahr sein! Waren das die Männer von heute; die Welt von heute? War das die neue Kommunikation? Silke goss sich noch ein Glas Wein ein, machte es sich auf der Couch bequem und starrte vor sich hin. Einen liebevollen Partner finden – wie denn? So? In ihrem Kopf tauchten die Nachrichten wie auf einem Bildschirm auf, eine nach der anderen.
JOGI123: »Hey süße Frau schönes Pic« »Satzzeichen unbekannt« hätte sein Nickname lauten müssen.
Biertrinker6: »Alles klar bei dir? schöne Augen.« Autsch!
leckwilliger65: »Schreib mir mal oder komm gleich vorbei, ich zeig’s dir.« Niemals!
bunterhund: »Hallo« Aha.
montenbike59: »Wow! Hast Lust auf nen Sex-Chat?« Nö.
lehrjahre: »Bin alleine, du auch?« Du nicht, hast ja immer einen mitlaufen.
kraftprotz: »Brauche dich, bist du bereit?« Na klar, zum Abschießen.
lastminute: »Nichts los heute hier, außer dich.« Hilfe!
derandere: »Lass uns doch treffen, jetzt.« Noch was?
lebendigsein58: »Ey, Lust zu chatten?« Lieber will ich tot sein.
Das waren nur die ersten zehn. War’s das also für mich? Das ist unsere neue Welt? Keine Begrüßung, kein freundliches Wort, mit der Tür ins Haus fallen; stillos. Wo sind die Männer von damals, die mit den witzigen Frisuren, mit den Briefen, Anrufen, den ersten Dates?, dachte Silke verzweifelt. Wo waren die Jungs von damals, die sie zum Tanzen aufforderten, ihr Zettel mit »Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja/Nein/Vielleicht« in die Tasche steckten, wo die witzigen Einfälle der Männer vor fünfundzwanzig Jahren? Sie waren jetzt alle auch so alt wie sie – hatten sie inzwischen alles vergessen?
Am nächsten Tag öffnete sie wieder ihr Postfach der Singlebörse »Lass uns reden«. Und ihr graute. Vierzig Nachrichten! Sie hechelten hinter ihr her. Wie die Ausgebrannten, Vergessenen, Vereinsamten.
»Deine Möse ist bestimmt dauernass, oder?«, schrieb Hemmungsloser80. Igitt! Erster Kontakt … Es kam noch schlimmer.
»Hast du es schon mal mit einem Hund getrieben?«, fragte Planloser. Der Nickname war sicher berechtigt … Silke graute es. Doch es kam noch viel schlimmer. Legendärer schrieb eine lange Nachricht. Das war schon ein Höhepunkt, an dem sie nicht vorbeiklicken wollte:
»Simone …« (Wie bitte? Schon jetzt Namensverwechslungen oder nur copy und paste?)
»Dich möcht, will, muss ich unbedingt kennenlernen, um Dich im Optimalfall zu entsingeln … betrachte dich schon mal als vom Markt genommen … damit Du schon mal bissl weisst wie ich tick: ich bin selbstverständlich toll, wunderbar, dauerarm aber ansonsten ziemlich perfekt … die letzten Jahre mit nem ollen Bus, arbeitend, durch ganz Europa getingelt um wieder hier in der Gegend zu landen und mich in nen Minihexenhäusl zu verknallen welches ich grad zur ›Burg‹ ausbau. Ich hab der Berufe mehrere gelernt, trink kein Bier, geh liebend gern früh zum Bäcker … hasse allerdings ansonsten jedwedes Eingekaufe (der Job wird wohl an Dir hängen bleiben) … ich mag meinen Morgenkaffee mit ganz viel normaler Milch … was mich aber trotzdem nich zum augenbrauenzupfenden Betamännchen werden lässt. Ich liebe das Leben, steh auf Kurztrips und möcht teilen … ja tatsächlich nen Ankommen auch wenn’s arg nach Klischee klingen mag … ich will vögeln mit Vertrauen, Hingabe und Gefühl, wies nur in ner Partnerschaft geht. Fakt is, wir haben alle nur verdammt wenig Zeit zum Leben, so ists um jede verschenkte oder verzögerte Minute, welche nicht mit gemeinsam Glücklichsein verbracht wird … echt Schade.«
Bei der Nachricht hatte der Typ sicher schon drei Achtel auf dem Kessel! Das Dilemma war leider noch nicht beendet und überrascht von so viel unglaublicher Selbstüberschätzung, schlechtem Deutsch und dazu noch Dummheit, musste sie weiterlesen:
»… und bei allem Humor is das recht ernst gemeint … zumal so Internetkennlerngeschreibsel ja gar nicht so einfach is und Du gefällst mir nun mal … na irgend ne Gier nu geweckt … ich will ganz viel wissen … wie wohnst? Bunt? Ikea? Modern? Schwarz? Konservativ oder oder? Mit was bist zu begeistern? Mit was zu ärchern? Was hast für Vorlieben? Was für Nogos? Wie gehen wir das Ding mit dem Weltfrieden an? Wann stehste da, um sich zeitnah gegenseitig zu beriechen mit irgendwas aus Flaschen … im Optimalfall mit gegenseitig kosten? Was willst noch vom Leben? Was hast für Träume? Was für Ängste? Was Deine Schlechtigkeiten? Und und und … alles halt … all so Zeugs musst, darfst, mir berichten … mach was draus … ich würd mich einfach riesig freuen, wir sollen unprobiert aneinander vorbeilatschen?«
Was war das? Die Nachricht triefte nur so von Zwinker- und Lach-Smileys und Auslassungspunkten. Und wie kam dieser Mann zu seinem Nicknamen? Das war eine Frage, die sich nicht lohnte zu beantworten.
Gerade wollte sie den Laptop wieder zuklappen und die nächsten Nachrichten ungelesen löschen, als etwas ihre Aufmerksamkeit weckte: ein hübsches, zartes Männergesicht. Die anderen Fotos der User zeigten tätowierte Oberarme, prollige Gesichter mit Sonnenbrille, einer auf einem protzigen Motorrad, einer im offenen Cabrio, einer fotografierte gleich seinen unteren Bereich – zum Glück bedeckt mit einer – wenn auch mehr als knappen – Badehose. Aber nun, ein hübsches, sympathisches Männergesicht! Sie öffnete die Mail und atmete tief durch.
»Hallo, mein Name ist Ralf. Ich bin 46 Jahre alt (oder jung), habe zwei Kinder, die mich häufig besuchen und bin Elektriker. Ich wandere gern, lese auch mal ein gutes Buch, höre viel Musik und bin nicht gern länger allein. Wenn Du mit diesen ersten Infos was anfangen kannst, würde ich mich sehr über eine Nachricht von Dir freuen.«
Wow! Ganze Sätze mit vollständiger Grammatik, völlig ohne sexistischem Inhalt. Silke vergrößerte sein Bild und sah den schlanken Mann im Ganzen. Schon immer gefielen ihr die Sanften. Harry war beides gewesen: Er konnte zart und kraftvoll sein. Ralf war durchaus ein süßes Kerlchen. Sie antwortete ihm:
»Lieber Ralf, vielen Dank für Deine Mail und die vollständigen Sätze. Ich bin begeistert! Viele Grüße, Silke.«
Mehr fiel ihr nicht ein. Es stand ja fast alles von ihr im Profil und er fragte nichts. Schon eine Minute später kam seine Antwort.
»Jetzt habe ich gelacht. Ich kann mir vorstellen, was Du für Nachrichten hier bekommst, mit dem hübschen Gesicht. Eigentlich wollte ich mich schon längst abmelden und nun bin ich froh, damit noch gewartet zu haben …«
Silke lächelte.
»Ja, ich werde hier auch nicht alt. Was ist das hier – eine Pornoseite?«
Sie setzte einen Lach-Smiley dahinter. Prompt kam die Antwort von Ralf.
»Ich bekomme solche Nachrichten nicht, aber unsere Sekretärin hat die Mails, die sie hier