Wie die Schwalben fliegen sie aus. Ursula Lüfter
den Gasthäusern hat es keinen freien Tag gegeben. Da hab ich von sechs in der Früh bis zwölf Uhr in der Nacht gearbeitet.“
Das Gastgewerbe bot den Mädchen immerhin ein gewisses Maß an beruflichen und finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten. Sofia Höchenberger zu ihrem Werdegang im Gastgewerbe: „Nach der Schule habe ich bald in der Pension Bernina in Meran gearbeitet. In der Pension hatten so ungefähr 24 Personen Platz. Da war ich 16 Jahre alt, ich war Küchenmädchen, ich habe immer abgespült. Irgendwann habe ich gesagt, jetzt habe ich genug vom Abspülen. Drei Jahre habe ich abgespült. Ich habe so 80 Lire verdient. Dann hat mich die Chefin aufgebessert, sie meinte, ich müsse jeden Dreck machen und hätte mir mehr verdient. Im Sommer habe ich im Gampenhof gearbeitet, das gehörte zur Bernina, und im Sommer in der Bernina. Dann habe ich im Hotel Excelsior als Chefmädchen gearbeitet, da hab ich mehr verdient und mehr gelernt. Ich war zweite Köchin. Dazwischen habe ich in der Pension Neuhaus als Extramädchen gearbeitet, da war ich der Köchin zugeteilt.“ Als Köchin zu arbeiten bedeutete nicht nur mehr Lohn, sondern auch eine bessere Position in der Hierarchie des Personals. Anna Frank – sie arbeitete in einem großen Hotel in St. Moritz – erlebte es als große Erleichterung, als sie nicht mehr abspülen musste und man sie anstelle ihrer Schwester dem Chefkoch als Gehilfin zuwies.
Die Mädchen erlebten ihre Beschäftigung unterschiedlich: Anna Egger äußert sich nicht besonders begeistert über ihre Anstellung als Kellnerin in einer Gastwirtschaft in Brixen: „Das hat mir gar nicht gefallen. Da bin ich nicht lange geblieben. Ich war ein junges Mädchen, und diese Burschen und Männer hatten nichts anderes im Sinn, als dich zu betatschen. Und das konnte ich nicht leiden. Ich bin kein halbes Jahr dort geblieben. Das Gehalt war auch nicht viel höher als das eines Hausmädchens. Es ist halt noch das Trinkgeld dazugekommen, aber ich habe nicht viel Trinkgeld bekommen, weil ich mich nicht habe betatschen lassen.“ Die Arbeit im Gastgewerbe galt als anrüchig, einmal wegen der Anmache der männlichen Gäste, aber auch wegen der Nähe zu den „Fremden“, die den Mädchen Freizügigkeit und Unsittlichkeit vorlebten. Anna Pinggera hingegen fand ihre Arbeit als Kellnerin vielleicht gerade deshalb interessant, weil sie „da viele Leute kennen lernte und viele auch schon kannte“.
Als der Tourismus in Südtirol infolge der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren und dann durch Option und Krieg einen starken Einbruch erlebte69, fielen für die Mädchen viele Arbeitsplätze weg. „Deshalb haben sie die Mädchen überall herumgeschickt zum Verdienen“, meint Maria Wunderer. Im deutschsprachigen Ausland gab es jedoch wenig Nachfrage, auch waren die Einreisebedingungen zeitweise eingeschränkt.70 Wesentlich leichter erwies sich der Zugang zu Arbeitsstellen in italienischen Städten.
In den 50er und 60er Jahren, der Periode der zweiten Wanderungswelle, als andernorts bereits das „Wirtschaftswunder“ einsetzte, verharrte Südtirol in seinem vorindustriellen Zustand. Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die hier im Vergleich zu anderen Regionen wesentlich später begann, und die Rückkehr Tausender Umsiedler nach Südtirol ließen die Zahl der Arbeit Suchenden in die Höhe schnellen. Arbeitsplätze in der Industrie gab es für die deutsche Bevölkerung nur wenige, auch auf Grund der Zuwanderung von Arbeiterfamilien aus den italienischen Provinzen. Die Möglichkeiten der Schul- und Berufsbildung blieben weiterhin eingeschränkt, da das Schulwesen nach 1945 erst wieder neu aufgebaut werden musste. Das Lehrlingswesen blieb noch weitgehend ungeregelt. Mitte der 50er Jahre machten nur 8 % der Südtiroler Jugendlichen eine Lehrausbildung, 11,8 % besuchten eine weiterbildende Schule, 71,4 % nahmen nach dem Abschluss der achtjährigen Volksschule eine Arbeit an.71 Vielen Mädchen erging es wie Erika Wallnöfer, Jahrgang 1936, aus Prad: „Als ich ausgeschult war, wusste die Mutter nicht, was sie mit mir machen sollte, eine Dienststelle konnte ich noch nicht annehmen.“ Sie erfuhr von der Möglichkeit, in Rom bei den Schwestern „Unserer lieben Frau“ in der Via Como eine Haushaltungsschule zu besuchen. „Dann haben ich und meine Freundin beschlossen, zusammen nach Rom zu gehen. Die Schwestern ‚Unserer lieben Frau‘ hatten eine Pension, sie hatten Studentinnen. Die Praderinnen waren fast alle bei diesen Schwestern in Rom, auch in Mailand und in Turin in der Via Boscovich. Wir waren 18 Monate bei den Schwestern. Nach den Schwestern sind wir dann privat zu Familien, um auf Kinder aufzupassen und um Italienisch zu lernen.“ Zahlreiche Mädchen nutzten diese Gelegenheit. Andere fanden wieder im Gastgewerbe in Südtirol und auch auswärts Arbeit. Dora Wallnöfer lernte in Bozen in der Goldenen Rose kochen: „Das wollte ich zwar nicht, aber ich bin trotzdem gegangen. Ich musste in der Küche alles machen, ich musste auch eine Wohnung putzen, einmal in der Woche hatte ich einen halben Tag frei. Ich habe aber keinen Lohn bekommen. Als mir die Schuhe kaputt gegangen sind, musste ich sie mit einem Spagat zusammenbinden. Nach drei Monaten beschloss ich zu gehen. Ich wollte irgendwohin, wo ich Geld verdiente.“
Die Arbeit im Gastgewerbe war für viele Frauen in Südtirol eine attraktive Alternative zum Dienst bei einem Bauern – nicht nur weil der Lohn in der Regel höher war
Dienstzeugnis von Emma Sagmeister: „In der besagten kurzen Zeit hat sie viel gelernt und verdient es daher, wärmstens empfohlen zu werden.“ Ein gutes Zeugnis war bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes von großer Bedeutung.
Der Lockruf der Stadt
Eine Stelle in der Stadt war mit der Vorstellung eines interessanten und abwechslungsreichen Lebens verknüpft. Die großen wirtschaftlichen Zentren in Europa, darunter Mailand, Genua, Turin, Florenz, Rom oder Neapel, zogen Menschen an. Zwischen 1870 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der italienischen Hauptstadt auf 420.000. Voraussetzung für das Städtewachstum war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich intensivierende Landflucht. Die Städte genossen ein enormes Prestige und weckten Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen und sozialen Aufstieg.1 Auch junge vom Land stammende Mädchen drängten in die Stadt. Die Dienstmädchenwanderung wurde zur Möglichkeit für weibliche Angehörige der ländlichen Unterschicht, am Urbanisierungsprozess teilzunehmen.2
Tiefgreifende gesellschaftspolitische Wandlungen waren auch im Vereinten Königreich Italien im Gang: Der Industriekapitalismus hatte die Agrarwirtschaft abgelöst, die ständisch organisierte Gesellschaft wurde zur Klassengesellschaft.3 Regionen wie die Lombardei, Piemont oder Ligurien waren schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich weit stärker entwickelt als süditalienische Gebiete. Die Zentren Norditaliens waren Mailand, Turin und Genua. Mit drei Millionen Einwohnern zählte die Lombardei zu den fortschrittlichsten und aktivsten Regionen des neuen Staates. Mit ihren kapitalstarken Oberschichten, ihren Industrien, Verkehrsverbindungen und vor allem technischen Ausbildungsmöglichkeiten bildeten diese drei Städte die Drehscheibe der Modernisierung. Mailand mit seinen Beziehungen zur reichen Schweiz und dem fortschrittlichen Frankreich wurde zum Stützpunkt der ausländischen Industrien, die auf den italienischen Markt drängten. Mit der Einweihung des Schweizer Gotthardtunnels 1882 wurde die Hauptstadt der Lombardei zudem zum strategischen Nadelöhr der italienischen Eisenbahn. Demgegenüber fiel der strukturarme Süden des Landes von einer Krise in die nächste. Die Zugverbindungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden waren schlecht und langsam.4
Die norditalienischen Städte waren auch der stärkste Magnet für Haus- und Kindermädchen aus Südtirol. Beliebt waren außerdem Florenz und Rom. Aber auch im Süden Italiens nahmen Südtirolerinnen eine Stelle an, so in Lecce, Neapel, Messina und Palermo. Für manche verhieß eine Dienststelle in der Stadt die Möglichkeit, der Enge des