Arigato. Ursula Wiegele
Ursula Wiegele
Arigato
Roman
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert
von den Kulturabteilungen der Länder Kärnten und Steiermark
sowie von Stadt und Land Salzburg.
ISBN 978-3-7013-1280-1
eISBN 978-3-7013-6280-6
© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger
Meinen Verwandten dies- und jenseits der Grenze. Im Gedenken an meine Großtante Fanny Artuso, die sich 1919 in Pontafel/Pontebba in einen süditalienischen Soldaten verliebt hat und mit ihm nach Reggio di Calabria durchgebrannt ist.
Inhalt
I.
Ich träume von weißen Papierhäusern hoch in der Luft, von Häusern auf biegsamen Stäben, die sich bei Wind bewegen wie Blumenstängel, Wände klappen auf und zu, Dächer heben sich ab und flattern im Wind, aber nichts bricht, nichts fällt herunter.
Nachdem der Orcolat meine Heimat zerstört hatte, fürchtete ich mich vor Wörtern mit mehr als nur einem O. Man darf den Orcolat nicht reizen, hat meine Nonna in Venzone immer gesagt, ich aber habe den Orcolat gereizt, mich mitschuldig gemacht an der Katastrophe.
Die schattige Rückwand des Nebengebäudes, darauf Weberknecht-Kolonien.
Das Zucken der abgetrennten Glieder. Immer wieder wollte ich es sehen. Und das Zittern und Wippen der Spinnen, wenn ich etwas gegen die Wand warf. Manchmal liefen sie in alle Richtungen auseinander.
Und ich sehe mich als Achtjährige neben einer Metallwanne im Garten, den Blick auf der Oberfläche des Wassers. Mein Wunsch, Frösche zu züchten. Hinterbeine waren schon da. Hatte ich sie überfüttert mit den Fliegen vom Klebeband, war ihnen zu warm geworden? Todesekel und Angst.
Die Kaulquappen kamen reglos an die Oberfläche des trüb gewordenen Wassers.
Graue Monster.
Der Orcolat sieht alles, hat meine Nonna in Venzone immer gesagt, versündige dich nicht gegen die Natur.
Schmetterlinge habe ich keine getötet, obwohl ich von einem Schaukasten träumte wie dem im Museum, wo sie in Reihen aufgespießt sind hinter dem Glas, in Schönschrift darunter die Namen der Falter. Ich wollte Schmetterlinge fangen, Distelfalter, Tagpfauenauge, Schwalbenschwanz und Zitronenfalter. Ich wollte sie mit giftigen Dämpfen töten. Ein paar Tropfen Wundbenzin auf Watte in einem geschlossenen Plastiksack. Nach dem Versuch mit einem Tausendfüßler konnte ich nicht mehr weitermachen. Das tote Insekt spazierte noch lange durch meine Träume.
Die deutschen Wörter hier in Villach erschrecken mich nicht, auch wenn sie zwei O in sich haben wie das Mundwasser vom Großonkel, der mich aufgenommen hat, und wie das klebrige Pulver für das Frühstücksgetränk. Und der Orcolat, der ist sowieso ein Friulaner, über die Staatsgrenze kommt er niemals.
Erdbeben klingt hier so weich wie Erdbeere, fast fruchtig und süß mit dem verschluckten R, das Wort macht mir nicht Angst. Die deutsche Sprache weiß wenig davon, was bei einem terremoto passiert.
Warum haben Sie das Wort gekreuzigt?, frage ich die Deutschlehrerin, ich habe vom Garten erzählt, vom Garten hinter dem Haus, in dem ich jetzt wohne, und ich habe ihn schattenscheckig genannt. Im Heft kreuzen sich zwei rote Kulistriche mitten in diesem Wort.
Einen Saft hätte ich mir verdient, sagt der Direktor und schenkt auch der Lehrerin ein, sie hat mich gleich zu ihm gebracht nach meiner Frage, die sie Provokation nennt, aber ich fühle mich sicher, denn der Direktor hat Vorfahren aus dem Kanaltal und er liebt die friulanischen Weine, das hat er mir schon bei meiner Aufnahme Ende September erzählt.
Nachsichtig soll die Lehrerin mit mir sein, sagt er, dieses Wort kenne ich nicht. Der Gegensatz von vorsichtig?, frage ich mich und nehme einen Schluck aus dem Glas. Nein. Mit kurzsichtig und weitsichtig wird es auch nichts zu tun haben, überlege ich weiter und spüle das Getränk von Wange zu Wange, denn dieser Saft schmeckt wie eingeschlafene Füße.
Erst als ich dreieinhalb Jahre alt war, erlaubte Mama, dass die Oma aus Pontebba mit mir Deutsch zu sprechen begann, erst als sie sicher war, ich wäre schon zu Hause in der italienischen Sprache. Mama redete mit mir immer nur Italienisch, unsere Staatssprache sollte meine Muttersprache sein, damit komme man viel besser zurecht, sagte sie, Mama, die es als Daitsche nicht immer leicht gehabt hatte im italienischen Pontebba; Oma musste sich fügen und sprach angeblich kein deutsches Wort mit mir.
Deutsche Sprache schwere Sprache, sagt der Direktor, niemand dürfe erwarten, dass ich genau unterscheiden könne zwischen all den Begriffen, zwischen ankreuzen und kreuzigen und was es sonst noch so gibt. Ich schlucke den Saft hinunter und muss husten, weil ich zu schnell mit dem Sprechen beginne, be-kreuzigen, sage ich zwischen den Hustern, ein Tropfen ist mir in die Luftröhre gerutscht, und da ich nicht sicher bin, ob man mich trotzdem verstanden hat, mache ich die bekannte Geste und murmle ganz leise den Spruch. Das gefällt dem Direktor, aber die Lehrerin sagt, sehen Sie, schon wieder eine Provokation, ein Erdbebenopfer hätte ich mir anders vorgestellt. Warum sie das Wort schattenscheckig angekreuzt habe, frage ich auf dem Weg zurück in die Klasse, diesmal verwende ich extra das richtige Wort, wie ich davor auch extra das falsche benutzt habe, und ich weiß, ich stehe jetzt unter dem Schutz der verordneten