Arigato. Ursula Wiegele
wir unsere Gesichter verziehen, dass wir aufmerksam sind, wenn er davon erzählt, und zum Ausgleich wiederholt er auch die Geschichte der Schülerin mit den sechs Fingern an einer Hand, ihre Eltern gaben als Zeugen Jehovas nicht die Erlaubnis zu einer Operation.
Ob ich ihm Fotos zeigen soll vom Gotteshaus in Venzone, von den Trümmern unseres Doms Sant’Andrea Apostolo, beim großen Beben Mitte September ist nun auch der Turm eingestürzt. Im Mai schon sind Engel und Heilige heruntergefallen, Flügel und Glorienscheine zerbrochen.
Von meinem Platz auf dem Sofa schaue ich durchs Fenster hinaus. Etwas in den leeren Himmel zu schreiben, das ist mir nicht möglich, erst bei heruntergelassener Jalousie und quergestellten Lamellen kann ich beginnen, jetzt ist der Himmel liniert.
Die Nonna auf einem Campingstuhl vor dem Zelt, in den Händen Strickzeug, die Nadeln klappern.
Mein Vater, der zum Maurer geworden ist. Die Mischmaschine vor den Trümmern unseres Hauses.
Der schwarze Hund, der auf drei Pfoten durchs Zeltlager hinkt, um den Hals ein Goldkettchen, an dem ein Schutzengel baumelt.
Leute aus Kärnten, die Säcke mit Altkleidern bringen, nur wenige haben den Spendensack mit dem Mistkübel verwechselt oder mit dem Schmutzwäschekorb, wir finden auch viele sehr schöne Sachen, Ballkleider zum Beispiel, im Juli machen wir zu fünft eine Modenschau, abends unten am Fluss, auf einer Lichtung des Auwalds, wo niemand uns sieht.
Mein Lieblingsstück aus den Säcken: ein Schottenrock, wegen der riesigen Sicherheitsnadel.
Tausende Trümmer unseres Domes liegen auf Wiesen verstreut, jedes davon bekommt eine Nummer.
Ich schreibe mir ein neues Haus in den Himmel, ein Haus aus Wörtern und Sätzen.
Heuer entfällt das Keksdosentreffen, das gab es immer bei Oma, am zweiten Adventsonntag, viele Verwandte kamen zu ihr nach Pontebba, aus Venzone und Villach. Das letzte war ein Rekordjahr, insgesamt 23 Sorten wurden verkostet. Zuerst nur Gespräche über Ausstecher, Kipferlgrößen und Backpulvermengen, alles langweilig für mich, aber die alte Geschichte schwebte zugleich schon im Raum, und ich wusste, irgendwann ginge es wieder los; interessanter war für mich, wenn die Verwandten zu diskutieren begannen. Onkel Hans sagte, die Wallischen haben mich aus der Heimat vertrieben, und staatenlos war ich dann in Österreich mit Ende des Krieges, und obwohl ich ein Altösterreicher bin, musste ich zahlen für die Staatsbürgerschaft, das können wir dem Mussolini verdanken, diesem Arsch mit Ohren. Bei deiner Geburt war die k. & k. Monarchie aber schon Geschichte und das Kanaltal kam dann zu Italien, du bist also viel eher ein Italiener, sagte Mama, was den Onkel ärgerte, hört auf, bat Oma, aber Mama wollte nicht aufhören, warum bist du dann nicht zurückgekommen nach Pontebba, fragte sie, schau an, die Südtiroler, im Kanaltal hätte es auch Strommasten zum Sprengen gegeben. Schluss damit!, Oma stand auf und ging in die Küche, und dann sagte die Nonna, jetzt hört doch auf mit der alten Geschichte, die ist keine Minestra, die durchs Aufwärmen besser wird.
Dass der Onkel 1939 fürs Deutsche Reich optiert hat, spricht bei den Keksdosen nie jemand aus, aber ich weiß es von Mama.
Manches darf man nicht laut sagen, sondern nur leise hinter dem Rücken, sonst gibt es eine Explosion, anderes muss man ganz für sich behalten. Dass Bekannte Zio Antonio in Grado gesehen haben, eine Woche vor dem Beben im Mai, am Boden sei er gesessen mit einem Hut in der Hand und einer Weinflasche an seiner Seite, gezwitschert habe er und gepfiffen, das soll die Nonna niemals erfahren.
Nächste Woche ziehen wir in das Fertigteilhaus, schreiben die Eltern. Ein Schwarz-Weiß-Foto ist auch im Kuvert. Das also wird mein neues Zuhause, eine Sardinenbüchse mit Fenstern, das Wellblechdach spiegelt sich in der riesigen Lacke davor. Ich will nicht dort wohnen, möchte ich in meinen Antwortbrief schreiben, stattdessen frage ich nur, bis wann ist unser altes Haus repariert?
Ich warte, dass die Seen zufrieren, davor werde ich in der Eishalle üben. Der Onkel hat mir Schlittschuhe organisiert, in der Tauschzentrale, weiße Damenschlittschuhe aus Leder, wie die Kunsteisläuferinnen sie tragen im Fernsehen, sie sehen fast aus wie neu.
Hannes treffe ich jeden Tag in der Pause. Er geht in die letzte Klasse und macht sich viele Gedanken über die Politik und die Gesellschaft in seinem Land. Hannes will Geschichte studieren. Ich höre ihm zu, weil ich ihn mag und obwohl ich die Leute nicht kenne, von denen er mir erzählt. Doch lieber würde ich mit ihm ins Kino gehen zu einem Film mit Bruce Lee.
Unserem Zeichenlehrer zuzuhören ist viel interessanter, aber der ist schon alt. Ein Bein habe er im Krieg liegen lassen, sonst wäre er sicher Turnlehrer geworden oder Marathonläufer, aber vielleicht turne das Bein jetzt in Russland alleine herum, solche Witze macht er am laufenden Band. Er nennt mich immer VerawieVase, daran bin ich selbst schuld, denn beim ersten Mal habe ich ihm gesagt, ich heiße nicht Vera wie Villach und Veilchen. Ich glaube, er ist ein Künstler, auf jeden Fall malt er Bilder in unsere Alben und pinselt in Schönschrift Sprüche dazu.
In mein Stammbuch hat er geschrieben: Wenn du lachst, lachen alle mit dir, wenn du weinst, weinst du allein. niella ud tsniew, tsniew ud nnew, rid tim ella nehcal, tshcal ud nneW.
III.
Auf den Entschuldigungszetteln meiner Mitschülerinnen steht immer wieder „unwohl“ drauf. Dass „Unwohlsein“ eine Umschreibung ist, hat mir die Tante erklärt. Für die blutige Sache, die bei mir begonnen hat vor fast einem Jahr. Dass dann ab Mai nichts mehr kam, habe ich erst im Juli bemerkt. Aber seit Weihnachten ist es Familienthema. Einen Termin beim Naturheiler hat die Tante schon ausgemacht. Wir gehen das jetzt einmal sanft an, hat sie gesagt.
Das Unwohlsein meiner Kolleginnen geht mir auf die Nerven, sie geben mit ihrer Regel an.
Der Bindengürtel der Tante, ein rosa Ding. Den kannst du haben, hat sie gesagt, ich brauche ihn ja nicht mehr, aber niemand in meiner Klasse trägt so etwas, ich habe die Mädchen darüber sprechen hören und kichern, voriges Jahrhundert sei das, und auch Mama hat mir keinen gegeben, als es bei mir damals soweit war. Meine Kolleginnen tragen Binden mit rutschfestem, rosa Schaumgummi, auch in meiner Toilettentasche warten solche, und einmal im Monat nehme ich eine davon für den Turnunterricht. Die anderen Mädchen mit ihren Entschuldigungen wegen Unwohlsein. Dafür dürfen sie dann auf der Matte sitzen und zuschauen, und ich sage ihnen, dass ich trotzdem mitturne, aber das glauben sie mir nur, wenn sie beim Turnanzug den Abdruck einer Binde sehen und beim Umziehen auf meiner Wäsche.
Ich bin ein Jahr älter als die anderen, weil man hier nur vier Jahre in die Volksschule geht und ich war fünf Jahre in der scuola elementare, das macht alles noch schlimmer. Am liebsten hätte ich eine Dauerentschuldigung für den Turnunterricht, so wie Elisabeth aus der 6b, aber die ist ein Contergan-Kind. Die Luft im Umkleideraum ist nicht gut. Und die im Turnsaal auch nicht. Am Seil und an der Stange schaffe ich keinen Zentimeter in die Höhe. Die Sprossen der Kletterwand tun mir auf den Fußsohlen weh. Der Bock ist mein Feind. Anlauf nehmen, hochspringen, Hände auf den Bock, Beine grätschen, Hände lösen, Beine zusammenklappen, federnd auf der Matte landen, es will mir nicht gelingen. Meine Furcht, dass der Bock umfällt. Gleich wie beim Sprungkasten, wenn die Teile zu wackeln beginnen.
Nur bei der Gymnastik bin ich gut. Und beim Radschlagen und Handstand. Gestern habe ich dreiunddreißig Räder hintereinander gemacht, quer durch den Turnsaal.
Wenn wir zurück in den Umkleideraum kommen, haben wir an unseren Fußsohlen klebrigen Schmutz. Dann schnell weg mit dem schwarzen Nylon-Turnanzug und verschwitzt hinein ins Gewand.
Zu Weihnachten habe ich ein gebrauchtes Buch bekommen, da sind farbige Fotos drin von Vögeln, ich lerne die deutschen Namen, nur einige kannte ich schon von Oma, Amsel, Spatz, Taube, Kuckuck, Falke, Papagei, Adler. Adlerauge nennt sie mich immer, wenn sie ihre Brille nicht findet, wenn ich etwas tun soll für sie, Nähseide einfädeln, Kleingedrucktes entziffern.
Mit Englisch habe ich noch einmal ganz von vorne begonnen. I am Ann, I am a schoolgirl, I am not a schoolboy, I am Pat, I am a schoolboy, I am not a schoolgirl. Ich will die Beste werden in Englisch.
In den zwei Ferienwochen habe ich alle Lektionen der ersten und